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Neuntes Kapitel.

Mein lieber Arzt fängt seine Kur an

Es war dunkel geworden. Luise brachte die Lampe und schielte mißtrauisch zu uns herüber. Heftig den Kopf schüttelnd, ging sie wieder hinaus.

»Aber das wäre ja ein Stümper von Arzt, der nur sagt: Du bist krank und nicht auch: Ich mache dich wieder gesund!«

Und mein lieber Arzt fing sogleich seine Kur an,

»Als Radikalmittel muß ich sofortiges Verlassen der Akademie anordnen, dieser Brütanstalt künstlerischer Unnatur, über die wir hier kein Wort weiter verlieren wollen.

Das ist Gewaltmittel Nummer eins. Mittel Nummer zwei, ebenso gewaltsam, ebenso heilsam: Sofortige Treulosigkeit gegen Ihren großen Mann.

Mein liebes Fräulein Rolla, beste Freundin – seien Sie ehrlich, seien Sie tapfer! Was haben Sie bei ihm gelernt? Etwas allerdings: Wie Sie es anfangen müssen, um – keine Künstlerin zu werden. Überlegen Sie es doch einmal selbst. – – Dieser Mann hat einen großen Ruf: Aus allen Gegenden Deutschlands läuft man ihm das Haus ein: ›Verehrter Herr, hier bin ich und ich will ein großer Künstler werden.‹ Die erste gewichtige Frage, die dem eifrigen Kunstjünger höchst kaltblütig gestellt wird, ist: Haben Sie Mittel? Erst die zweite lautet: Haben Sie Talent? Frage Nummer eins kann durch klangvolle Beantwortung erledigt werden; Nummer zwei nur durch Prüfung.

›Sprechen Sie etwas!‹ – – Sie sprechen etwas; vielmehr Sie deklamieren etwas. Es tönt prächtig, pathetisch, wundervoll.

Sehr bald unterbricht man Sie: ›Es ist gut, Sie haben Talent!‹ Sie haben vielleicht kein Talent; aber, Sie haben etwas, das besser ist als Talent; Mittel.

Oder Ihr großer Mann kann auch sagen: ›Es ist schlecht, Sie sind talentlos.‹ Das sind Sie vielleicht nicht, aber – – Doch bleiben wir bei dem ersten Fall. Seine unausbleibliche Folge ist: Beginnender Künstlerwahnsinn: Der große Mann hat Sie geprüft, der große Mann hat Sie talentvoll gefunden; ergo – Sie fühlen sich bereits, als die Künstlerin, die Sie nie sein werden.

Sie, nun – Sie haben Talent und zwar ein so tüchtiges, daß jener große Mann Sie unfehlbar zu seiner Schülerin genommen haben würde, selbst wenn Sie in einem Kattunkleide zu ihm gekommen wären.

Er unterrichtet Sie, lehrt Sie, ›bildet Sie aus‹.

Lassen Sie uns doch ein wenig näher ansehen, was er Sie lehrt.

Er studiert mit Ihnen; das heißt: er nimmt eine gewisse Anzahl von Rollen mit Ihnen durch, je nach Ihrem Talent tragisch oder naiv. In einer merkwürdig meisterhaften Weise werden Sie angeleitet, gewissen Gefühlen gewissen Ausdruck zu geben – – Da stoßen wir bereits auf den bedenklichen Punkt. Wie können Sie in etwas so Innerlichem und Individuellem, wie die Empfindung es ist, ›unterrichtet‹ werden.

Sie werden mir antworten: ›Aber ich fühle es ja!‹ Liebes, gutes, harmloses Kind! Mit sechzehn Jahren bildet man sich allerdings ein, und das, wie mächtig! alles Irdische und Unirdische fühlen zu können. Sie sind ergriffen, tief und schmerzlich; Sie sind begeistert, gut und heilig. Aber damit ist es nicht getan.

Bedenken Sie doch nur: Sechzehn Jahre! Zitieren Sie sich selbst Lady Milford! Sechzehn Jahre! Der erste Pulsschlag, und so weiter – – Mit diesen wunderschönen, jungen, sechzehn Jahren – Gott erhalte Ihnen Ihre Unschuld! studiert jener große Mann mit Ihnen ein: Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, die Eboli und – – Das ist ja Wahnsinn! Einstudieren, tragische Leidenschaften einstudieren! Gefühle, die Sie nicht fühlen – nicht fühlen können, sollen Sie einstudieren, sollen Sie zu einem überzeugenden, erschütternden Eindruck bringen?!

Lassen wir jedoch das Problematische jenes Unterrichts völlig fallen und sehen wir nur zu: wie der Mann es macht.

Er hat ein Dutzend, zwei Dutzend Schülerinnen. Sind es so viele? Gut! Von diesen vierundzwanzig jungen Damen bereitet der Mann (fürchterlicher Gedanke) etwa zwei Drittel für das tragische Fach vor. Sind es so viele? Gut! Bei diesen sechzehn zukünftigen Bühnengrößen ist von einer künstlerischen und menschlichen Individualität natürlich nicht die Rede – kann nicht die Rede sein. Natur, Individualität! – Sie würden den Herrn Direktor jedenfalls in nicht geringe Verlegenheit setzen. Was sollte der Mann auch damit anfangen?! Ihm ist die Individualitätslosigkeit, die Unnatur seiner Schülerinnen ganz recht; denn die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu sein, ist ja die erste, notwendige Voraussetzung, unter welcher er jeder, hören Sie wohl, jeder der sechzehn zukünftigen Bühnengrößen seine dramatischen Charaktere einstudieren kann; für alle, hören Sie wohl: für alle immer dieselben!

Er, Ihr großer Mann, kennt nur eine Maria Stuart, nur ein Gretchen; er hat einen einzigen Schuh, in den hinein er alle Füße zwängt. Und man kann es dem Mann nicht einmal verdenken. Nun stellen Sie sich diese Versammlung von Gretchen, Luisen und Marien vor. Hundert reichen nicht, die aus der Fabrik des großen Mannes auf alle Bühnen versendet werden: alle ein und dieselben, alle Exemplare einer Gattung, alle mit dem Stempel ihres Fabrikanten.

Man braucht den Mann deswegen nicht zu verachten. Er hat ein großes Talent zum Reproduzieren. Die geniale Produktion mußte er anderen überlassen: eben den großen Urbildern seiner Gretchen, Luisen und Marien!

Damit ist wohl zur Genüge erklärt, wie fürchterlich typisch so vieles ist, was wir auf den Bühnen an klassischen Figuren zu sehen bekommen. Hat doch dieser große Mann eine ganze Legion anderer Kleinerer hinter sich, die ihm sämtlich mühsam ablauschen, wie er sich räuspert und wie er spuckt.

Es ist trostlos!

Wie das arme Gretchen immer in blonden Zöpfen und im blauen Kleid gespielt wird – gespielt werden muß! so ist es auch mit der Seele des guten Kindes beschaffen: von jedem Wort ist bestimmt, wie es zu sprechen sei: so und nicht anders! Jede Bewegung, jede Gebärde ist festgesetzt. Sogar jede Spielerei im Spiel – man bezeichnet sie mit dem klangvollen Namen: Nuance – haben die Geistvollen den Geistlosen gegeben. Einer macht es dem anderen nach und keinem fällt dabei ein, sich seiner Kopistenseele zu schämen. Das ganze widerwärtige Wesen macht man sich am besten damit klar: die Rolle wird behandelt wie ein Musikstück. Man hat die Noten vor sich, die, damit der Anfänger sie ja recht zu fassen vermag sämtlich bezeichnet sind: c, d, e – usw. Tonart, Takt, Tempo sind auf das genaueste angegeben. Und damit sich der Schüler ja nicht mit eigener Empfindung anstrengen muß, ist ihm auch diese in reinlicher Schrift vorgezeichnet: dolce, con fuoco, impetuoso, con amore etc.

So liegt es auf dem Notenpult vor Ihnen, so wird das Ding eingeübt, eingeübt, eingeübt! Nachdem man sich eine Zeitlang gründlich damit gequält, ist man endlich genugsam vorbereitet, ein verehrungswürdiges Publikum durch sein brillantes empfundenes Spiel in Entzückung zu versetzen.

Sie sehen verstört aus. Ich habe Ihnen vieles zertrümmert, werde Ihnen also vieles wieder aufbauen müssen.

Jedenfalls sind die Trümmer sehr traurig, und jedenfalls darf ich mich durch den Anblick einer solchen Zerstörung nicht entmutigen lassen.

Gewiß nicht. – – Doch ich muß unseren Schutthaufen noch um einige Bruchstücke vermehren. – – Der große Mann hat Ihnen sein ganzes Repertoire einverleibt. Ich bin überzeugt, daß Sie es ganz vortrefflich abspielen; aber niemals sich selbst, sondern stets nur ihn. Man wird Sie eine Künstlerin nennen, aber Sie sind es nicht. Was Sie sind – und dabei mag Ihr Ruhm am glänzendsten sein – ist eine Virtuosin, diese abscheulichste Kunstkarikatur! Sie treten auf, Sie haben Erfolg – wir denken hier nicht an Ihr Akademietheater – Sie sind berauscht, aber nicht glücklich; denn um Sie glücklich zu machen, braucht es eines ganz anderen: wahrer Kunst! wahrer Erfolge! Sie sind sich dessen nicht klar bewußt, sondern fühlen gewissermaßen und instinktmäßig, daß das, was Sie der Welt als Kunst geben, nicht Sie selbst sind, sondern etwas Fremdes, das Ihrem Wesen gewaltsam aufgedrungen worden. Nun reicht Ihr Repertoir natürlich nicht aus. Man verlangt von Ihnen, neue Rollen zu schaffen und jetzt kommt der Konflikt. Dadurch, daß Sie nicht frei gebildet, sondern dressiert worden sind, verfallen Sie unrettbar in Manier; das heißt: Sie geben nie das Wesen, sondern nur Formen und zwar immer dieselben. Durch alle Ihre Gestalten geht ein gemeinsamer Grundzug, der nicht einmal ein freier und großer ist, weil er ganz und gar einem Manne angehört, der nichts weniger ist als frei und groß, nichts weniger als – eine Natur.

Sie sehen, wir sind wieder zu dem einen wichtigen Punkt angelangt von dem wir ausgingen.«

Er stand auf.

»Ich dachte nicht, daß ich als ehrsamer Dozent der Medizin, jemals einer jungen Dame ein Privatissimum über Schauspielkunst lesen würde. Unvorbereitet wie ich es bin, haben wir doch den Gegenstand ziemlich gründlich behandelt. Aber seien Sie ruhig: der Sie so leichtsinnig in dies Wirrwarr gebracht, wird Sie nicht darin umkommen lassen. Es bleibt dabei: Wir sind tapfer, wir verlernen, wir lernen von neuem, wir zerstören und bauen wieder auf.

Ja, wir werden krank und wir werden gesund.

Arme Patientin! Wir wollen ehrlich doktern und nicht – –«

»Experimentieren,« ergänzte ich unwillkürlich, da er nach dem rechten Worte zu suchen schien.

Er sah mich mit sichtlicher Betroffenheit an, die auf mich überging. Eine peinliche Pause entstand. Nach einer Weile gab er mir schweigend die Hand. – – Wir fühlten wohl beide, daß damit ein Bund geschlossen ward. Dann ging er.

Ich nahm meinen Lorbeerkranz herab, löste das seidene Band, warf das edle Laub zu Boden und ward wieder froh – ja, ganz froh!


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