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Sechzehntes Kapitel.

Herbststimmungen

Unerwartet schnell ward es Herbst. Da im Tal Laubbäume zu den Seltenheiten gehörten, erschien er bei uns ohne sein königliches Gewand aus Purpur und Gold. Nur bei vereinzelten einsamen Höfen zog er ein kümmerliches Gewinde von Gelb und Braun um das graue Gemäuer. Am Fluß vergilbten die Weiden und nur die Erlen wollten noch nichts von dem Scheiden des Sommers wissen. Auch die Wiesen grünten auf. Hier schien es vor Winter noch einmal wieder Frühling werden zu wollen. Ganze Beete blaßvioletter Krokusse erblühten, auch die kleinen blauen Genzianen sproßten von neuem. Die während des Sommers vereinsamten Fluren wurden von herabziehenden Herden belebt. Das melodische Geläut der Glocken hörte selbst des Nachts nicht auf.

Dann kamen trübe Tage, in denen das ganze Tal in einen grauen Himmel hinausgehoben zu sein schien. Kein Gegenstand, der nicht von Nebel umhüllt war, alles gewann ein gespenstisches Aussehen. Durch das Dunstgewoge schimmerten die Wiesen wie grüne Seen. Nachtschwarz standen die Tannen mit verschleierten Wipfeln. Unaufhörlich kam neues Gewölk gezogen, ballte sich mit dem anderen zusammen, hing nun gleichfalls regungslos an den Klippen. Kalte Feuchtigkeit drang in die Zimmer hinein. Immer verlockender gestalteten sich im Geist die Bilder behaglicher abendlicher Plauderstunden am Kaminfeuer bei herabgelassenen Vorhängen, während es draußen regnete und stürmte.

Plötzlich ward alles wie durch Zauberschlag verwandelt. Nach einem trüben Morgen zerteilte sich mittags das Gewölk. Hier wurde durch das Grau ein Stück blauen, strahlenden Himmels sichtbar, dort schwebte ein eisumstarrtes Felsenhaupt über dem Nebelgewirr. Ein Vorhang nach dem andern hob sich, Bild nach Bild tauchte auf. Zuletzt stand alles da, wolkenlos, leuchtend, unsagbar schön!

Der frische Schnee, der auf dem Gebirge gefallen, schien von hoch oben herab immer tiefer niederzusinken. Über Nacht war es Winter geworden.

Fernow wollte mit mir nach Italien. Ich bat ihn jedoch zu bleiben; ja, ich weigerte mich, zu gehen!

Lag hinter diesen Felsen denn überhaupt noch eine Welt für mich? Fremde Gegenden zu sehen, unter fremden Menschen zu leben, überall mein totes Ich mit mir herumschleppen zu müssen – das überstieg meine Kräfte. Sehnsuchtslos dachte ich an die leuchtenden Bilder und Gestalten des Südens. Was war mir jetzt Rom, was galten mir jetzt Michelangelo und Raffael?! Ich durfte nicht mehr genießen, selbst nicht in der edelsten Weise. Arbeiten! Arbeiten!

Und ich arbeite.

Hoffnungslos verdorbene Kinder lehre ich Sitte und Sittlichkeit; für Familien, die durch Laster völlig verwildert sind, trage ich Sorge, als ob es sich um das Wohl der Menschheit handle. Bei dem einen wie bei dem andern rede ich mich in die Illusion hinein: in Wahrheit etwas nützen und helfen zu können. Ich bin glücklich; nur daß ich vielleicht noch glücklicher sein könnte.

Dann kommt mir Fernow in den Sinn und ich muß viel, viel darüber nachdenken.

Ist er glücklich? Seine Tage verlaufen in einer ununterbrochenen Folge von Wohltaten – aber: ist er glücklich?

Alte, verblaßte Bilder steigen wieder vor mir auf: Rolla, das Mädchen, fast noch ein Kind und er, das junge Geschöpf belehrend, erziehend, bildend – liebend. Dann Rolla, die Schauspielerin, und er wieder an ihrer Seite, immer liebend, immer – entsagend. Und dann Rolla, das selige Weib, von seiner Hand dem Freunde gegeben; er stumm sich abwendend, still beiseite tretend, wortlos sein Liebstes verloren gebend. Endlich die letzten Gestalten: Rolla, die Wahnsinnige, und er bei ihr, jahrelang! Und jetzt Rolla, die Geheilte, und er bei ihr, jede Stunde bereit, wieder von ihr zu gehen, wenn es zu ihrem Wohl sein sollte. Und ich? Ich habe ihm noch immer nicht zugerufen: nimm sie hin, sie ist dein, wenn du das Geschenk der Unwürdigen überhaupt noch annehmen kannst.

Und Frank ist tot!

Warum stehe ich wohl noch immer stundenlang an meinem Fenster und blicke die Straße entlang, die keiner kommen wird.

 

Es dauerte Monate, bis der Pater außer Gefahr war, Fernow ging täglich zu ihm. Er sprach oft mit mir über seinen Patienten, dem er einen großen Charakter, besonders eine beispiellose Energie zusprach. Die heftigsten körperlichen Leiden schien er ebensowenig zu empfinden wie die rauhe Pflege in einem Bauernhause. Die Bequemlichkeiten, die Fernow für ihn als durchaus notwendig erachtete, lehnte er höflich ab. Selbst seine grobe Kost ließ er nicht verbessern. Dabei parfümierte er seine Batisttaschentücher mit Veilchenessenz und konnte durch den Geruch von Talgkerzen einen Nervenzufall bekommen.

Fernow interessierte der unheimliche Mensch auf das höchste. Zuweilen ließ sich der Pater herab, mit ihm eine Unterhaltung anzuknüpfen. Fernow entdeckte bei ihm wenig Wissen, aber desto mehr Leidenschaft, über Religion konnte er geradezu frivole Gespräche führen und doch hatte er für seinen Glauben alles geopfert: Familie, Vaterland, Reichtum und Rang. Er war der Sohn eines der ältesten protestantischen Adelsgeschlechter. Seine Konvertion hatte ihrer Zeit eine Aufregung verursacht, die ihren Wellenschlag bis in die politischen Kreise gebracht. Alle Vermittlungen waren umsonst gewesen. Zwischen einem König und einem Kardinal soll seinetwegen ein persönlicher Briefwechsel stattgefunden haben. Ein Ausgestoßener und Paria lebte der vornehme Jüngling jahrelang in einem Elend, dem selbst der Mangel nicht fernblieb. Er wies von jeder Partei jede Hilfe zurück, obgleich es ihm bei dem einen sowohl wie bei dem anderen nur ein Wort gekostet hätte. Dann ließ er sich im Jesuitenkollegium aufnehmen, empfing die priesterlichen Weihen, erhielt seine Mission zuerteilt, die, wie es den Anschein hatte, ihn später unter die Wilden führen sollte.

Fernow behauptete, daß er für das Volk eine Verachtung hege, die an russische Gesinnung erinnere, und daß er von einer grenzenlosen Sinnlichkeit sei. Trotzdem habe er noch niemals Frauenliebe genossen.

»Was seine Grundsätze anbetrifft, so halte ich den ganzen Mann für eine Verkörperung jenes berüchtigten jesuitischen Mottos: bei ihm heiligt der Zweck das Mittel und wäre dies zehnfacher Mord.«

Auffallend war, wie er jetzt seine Volksverachtung ganz unverhohlen zur Schau trug. Er ließ niemand von den Dorfleuten zu sich. Die Eltern, denen er den Sohn getötet und die den Herrgott selbst in ihrer Hütte zu haben glaubten, behandelte er wie Leibeigene. Dennoch kam er in der ganzen Umgegend beinahe in den Ruf eines Heiligen. So übte er fort und fort über alle Gemüter eine Macht aus, die ihm eine schrankenlose Beherrschung derselben gestattete. Es schien ihm nur nicht mehr notwendig – es lag nicht mehr in seinem Zweck – seine Mittel zu gebrauchen.

Und was war dieser Zweck?

Veronika.

Fernow und ich waren fest überzeugt, daß er nur noch ihrethalben blieb, obgleich ihr Name, seitdem er ihn zum letztenmal so dämonisch gerufen, nie wieder von ihm genannt worden war. Als Augustins Mutter dies einmal in seiner Gegenwart tat, bekam er einen Nervenanfall so heftiger Art, daß die entsetzten Leute an Wahnsinn glaubten. Auf Fernows Befragen erzählte die Frau ihm weinend, daß sie nur davon gesprochen, wie des Pfarrers Schwester ihren armen Augustin schon als Kind liebgehabt.

Als der Pater außer Gefahr war, sollte er wegen Alois und seiner Verwundung polizeilich vernommen werden. Das Verhör wurde in dem Zimmer des Kranken hinter geschlossenen Türen abgehalten. Nichts von dem, was dabei gesprochen und verhandelt wurde, drang in die Öffentlichkeit. Man befragte nicht einmal die Zeugen, die den Pater vor der Höhle aufgefunden. Ebenso blieb Veronikas Namen ungenannt, zum großen Leidwesen der gesamten Dorfbevölkerung, welche die Schwester ihres Pfarrers gar zu gern womöglich in Ketten fortgeführt gesehen.

Später bekam der Pater den Besuch eines Gesandten seines Kollegiums. Die Bauersleute, die den Pater pflegten, berichteten mit Entsetzen, wie unehrerbietig der düstere strenge Fremde mit ihrem Heiligen verfahren sei. Auch hier fanden die Unterredungen in tiefster Heimlichkeit statt. Nach der Abreise des Unbekannten ließ der Pater tagelang keinen Menschen in sein Zimmer, rührte keine Nahrung an und wurde, als er wieder die Türen öffnete, in tiefster Erschöpfung gefunden.

Plötzlich hörten wir: der Pater sei bei Nacht und Nebel davongegangen. Niemand wußte wohin. Die Aufregung im Dorf grenzte an Aufstand. An Fernow hatte er einen Brief zurückgelassen, darin er in den gewähltesten Worten seinen Dank aussprach. Dem Briefe war eine Summe beigelegt, welche ein König hätte senden können.

Fernow überließ das ganze Geld Augustins Eltern, die in der letzten Zeit tief verschuldet worden, und von denen der Pater nicht einmal Abschieb genommen.

So verschwand dieser Mensch aus unseren Augen, aber, wie wir fest überzeugt waren, gewiß nicht für immer. Er würde wiederkommen, war doch noch Veronika da.

Diese lebte in dem Hause ihres Bruders, wenn man leben nennen kann, daß sie ging, sich bewegte, auch dann und wann ein Wort sprach, wohl auch dann und wann einen Gedanken hatte. Dabei war sie nicht krank. Im Hause tat sie alle Verrichtungen wie früher, nur in einer Art, als wüßte sie nichts davon. Zuweilen mochte sie es entdecken und schien dann darüber sehr erstaunt. Zu ihrem Bruder sprach sie selten, doch trug sie rührende Sorgfalt um ihn und konnte, wenn sie nichts zu tun hatte, stundenlang sitzen und ihn anschauen. Sie besuchte niemals das Grab ihres Bräutigams, betrat auch die Kirche nicht wieder. Pfarrer Andreas bemerkte nicht, daß sie jemals betete oder eine ihrer früheren Andachten verrichtete. Das priesterliche Amt ihres Bruders schien ihr größte Qual zu bereiten, der Haß der Dorfbewohner jedoch vollkommen gleichgültig zu sein. Oft stand sie im Garten unter der Felswand und betrachtete, in tiefes Sinnen verloren, die Stelle, wo im Sommer die Rosen und Nelken geblüht.

Sie mußte schlaflose Nächte haben. Die alte Magd, die unter ihr schlief, hörte sie jede Nacht viele Stunden lang umherwandeln. Einmal faßte sie sich ein Herz aufzustehen, hinaufzugehen und in ihr Zimmer einzutreten. Da sah sie etwas Fürchterliches.

Abgewandt von ihr stand Veronika in ihr blutgetränktes Maria Magdalena-Gewand gekleidet und sah sich unverwandt im Spiegel an, mit einem Ausdruck, einem Blick – –

Sprachlos vor Entsetzen wich die Magd zurück, ohne von ihr bemerkt worden zu sein.

Unterdessen ist es Winter geworden, soll es bald wieder Frühling werden.

 


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