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Dreizehntes Kapitel.

Das Drama wird in Szene gesetzt

Am Sonntag predigte Pfarrer Andreas vor leeren Bänken: das ganze Dorf war auf die Jägeralmen gezogen, um den Pater zu hören. Auch einen unserer Beamten trieb die Neugier hinauf; voller Empörung stattete er uns über das Geschehene und Gehörte Bericht ab.

Von allen Seiten weit in der Runde war das Volk zusammengeströmt. Mütter hatten ihre Säuglinge mitgebracht, selbst die Alten waren an ihren Stäben hinaufgekeucht. Ein weites, ödes Alpenfeld war die Kirche, Gletscher und kahle Felsen starrten darauf hinab, in der Tiefe lag ein schwarzer See. Auf einem Felsblock unter einer Riesenfichte stand dieser Prediger in der Wüste und verkündete die Lehre des Heils: »Auf gen Rom! Opfert Rom! Opfert Rom eure Häuser, eure Herden, euren Bruder, euer Weib! Rom ist der Born der Gnade. Wer nicht daraus trinkt, ist verloren auf Erden und im Himmel! Wer nicht opfert sein Haus, seine Herde, seinen Bruder und sein Weib, der soll verdursten! Die Feinde Roms sind die Feinde Gottes! Und wäre es die eigene Mutter, die dich mit Schmerzen geboren. Denn unsere Sünde ist groß, wir müssen Buße tun!«

So war es fortgegangen und das rauhe Volk der Berge hatte diesen Verkündigungen gelauscht, als seien sie die köstlichsten Verheißungen. »Auf gen Rom!« Sie gaben, was sie geben konnten: der eine von seiner Armut, der andere von seiner Liebe; der eine Geld, der andere einen Freund, einen Bruder, einen Vater, welcher zauderte, mit ›gen Rom‹ zu gehen.

Auch Veronika war bei der Predigt zugegen gewesen. Anfänglich hatte sie fernab gestanden, fast am Rande des Sees, ganz einsam, die Augen auf den Boden gesenkt. Der Pater habe immer zu ihr hinüber gesehen. Da sei es denn wunderbar gewesen, wie sie, ohne aufzublicken, gleichsam von seinen Blicken angezogen, ihm langsam näher und näher gekommen. Fast scheu war die Menge der Schwester ihres Pfarrers ausgewichen. Sie jedoch war vorwärts und vorwärts geschritten, bis sie zuletzt dicht unter dem Felsen stehengeblieben.

Auch Alois war allgemein aufgefallen. Mit der Miene eines Verzückten hatte der wilde Bursche zugehört.

Der redliche Mann, von dem wir alles das erfuhren, befürchtete, daß wir infolge dieser Jesuitenreden unserer besten Arbeiter verlustig gehen würden. Er sollte recht haben.

Bis zum Abend hatten wir auf Pfarrer Andreas gewartet. Als es dunkelte und er noch immer nicht kam, wurden wir besorgt und gingen ins Dorf hinab. Unterwegs stießen wir auf die Scharen, die von der Bergpredigt zurückkehrten. Wir begegneten manchem feindseligen Blick. Die Dorfgasse war öde, aus den Wirtshäusern erscholl wüstes Geschrei, Betrunkene taumelten an uns vorüber. Im Pfarrhaus fanden wir die Türen offen, den Freund nicht in seinem Arbeitszimmer. In der Küche am feuerlosen Herd kauerte die Magd, die Perlen ihres Rosenkranzes abzählend; mürrisch wies sie uns, ohne ihr blödsinniges Murmeln zu unterbrechen, in den Garten. Die Alte mochte ärgerlich darüber sein, daß sie um die Predigt des Jesuitenpaters gekommen war.

Im Garten trat uns der Pfarrer entgegen. Die Dunkelheit war noch nicht groß genug, uns die Verstörtheit in seinen Zügen zu verbergen. Er grüßte uns in seiner gewöhnlichen Weise; aber die Hand, die er mir reichte, war feucht und kalt.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden,« begann er, sich mit uns setzend. »Wir wollen es nun mit Ruhe besprechen. Ich fange an, hier unnütz zu werden. Der Pater wird bleiben. Heute habe ich darüber Briefe bekommen. Man macht mir den Vorwurf, zu fortschrittlich zu sein; mich wundert, daß sie es nicht aufgeklärt nannten. Man hat mir Mahnungen und zugleich Warnungen erteilt, zugleich Rügen. Ich kennte dieses Volk nicht, Fremde verstünden es besser. Ich sei bestrebt, es von Rom hinwegführen zu wollen, wohin? Sie sagen es nicht. Wahrscheinlich dem sündigen Fortschritt zu, in die verdammenswerte Aufklärung hinein. Heute zum erstenmal ist mir der Gedanke gekommen, daß ich eben ein unwissender Hirtenknabe gewesen, der die Welt nicht kennt. Sie wollen mich fort haben von hier. Soll ich gehen?«

Fernow beruhigte ihn. Er sagte ihm, daß er bleiben müsse, daß er nicht gehen dürfe; man verlasse sein Liebstes nicht gerade dann, wenn es in Gefahr schwebe. Mehr als jemals sei er jetzt hier nötig.

»Sie mögen recht haben. Wer weiß auch, ob meine Schwester mich begleiten würde, wenn ich ginge.«

Er stand auf.

»Wüßte ich nur, welches der Zweck dieses Menschen ist. Um das arme Volk von Hirten und Bauern kann es ihm doch unmöglich zu tun sein. Sehen Sie ihn an, diesen jesuitischen Aristokraten. Was weiß er vom Volk? Er verachtet es ja!«

Der zornige Schmerz erschütterte den ganzen Mann. Er vermochte nicht weiter zu reden.

»Aber die Regierung!« rief ich endlich aus, nur um etwas zu sagen.

»Die Regierung – –«

Mit diesem Worte brach es unaufhaltsam aus der Seele unseres Freundes hervor: Grimm, Haß – Verachtung.

Als wir endlich gingen, begleitete er uns. Es war beschlossen: ja, er wollte bleiben.

Am nächsten Tage hörten wir, daß der Pater das Pfarrhaus verlassen und zu Augustins Eltern übergesiedelt sei. Alois trat zuerst aus unseren Diensten aus. Er verschwand im Gebirge und verwilderte in kurzer Zeit. Veronika blieb auf der Alm.

Die Bewohner des Tales hatten früher das Recht besessen, Passionsspiele aufzuführen. Des Unfugs wegen, der bei diesen Vorstellungen stattgefunden, waren sie untersagt worden. Pfarrer Andreas pries dieses Verbot als ein großes Glück für das Volk.

Diese Passionsspiele waren zu einem wahren Leiden für das Dorf, zu einem wahren sittlichen Schaden geworden. Bereits Monate vorher wurde jung und alt vom Taumel ergriffen, die Arbeit vernachlässigt; bei vielen blieb sie ganz liegen. Aller Gedanken waren auf das Spiel gerichtet und das in einer Weise, die jede erhebende Wirkung von vornherein ausschloß. Allein schon die Verteilung der Rollen veranlaßte Streitigkeiten. Im Dorf bildeten sich Parteien. Familien verfeindeten sich; es kam zu den abscheulichsten Szenen. Waren endlich die Rollen verteilt, so waren darum Neid und Groll nicht beseitigt. Immer heftiger griff das Fieber um sich. Von jener kindlichen Naivität, jener schönen Unbewußtheit, die allein solchem Spiel die Weihe gibt, empfand man schon seit langem nichts mehr. Diejenigen, welche bei den Aufführungen nicht beteiligt waren, verloren mit den andern jede Lust zur Arbeit und durchzogen schließlich als Bettler die Umgegend. Zur Zeit der Spiele kamen in Monaten mehr Diebstähle vor als sonst in Jahren. Trotz der heiligen Aufführungen hatte das Dorf den bösesten Leumund. Doch alle diese Übelstände waren einer gewissenlosen Geistlichkeit gleichgültig. Durch die Darstellungen ward die religiöse Leidenschaft des Volkes zum Fanatismus gesteigert; also ließ man sie geschehen. Als dann der Staat einschritt, war bereits zu viel verdorben.

Diese Spiele nun hatte man der Gemeinde von neuem gewährt und ihr altes Recht dazu bestätigt.

Das hatte der Pater durchgesetzt. Die zum Teil selbstverschuldete Armut des Dorfes mußte den Vorwand geben. Denn, indem man durch die Vorstellungen Fremde herbeizulocken hoffte, glaubte man den Grund zu neuem Wohlstand legen zu können. Alle Schritte, die Pfarrer Andreas dagegen getan, hatten keine andere Wirkung gehabt, als ihn von seiner Gemeinde nur noch mehr zu trennen; mit gebundenen Händen mußte er zusehen, wie die Krankheit von neuem die Gemüter ergriff.

In diesem Spätsommer nun sollten die ersten Festspiele stattfinden, zu denen jedoch nur das Volk zugelassen wurde. Erst bei den Wiederholungen im nächsten Frühjahr war auch den Fremden der Zutritt gestattet.

Augustin stellte Christus dar, Veronika war von dem Pater für Maria Magdalena bestimmt worden. Wir wagten nicht, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen.

Ich ward mit von der allgemeinen Aufregung ergriffen. War es auch nur ein ärmliches Alpenvolk, so war es doch Spiel. Man stellte Ereignisse dar, verkörperte fremde Gestalten, trat aus sich und seinem engen Dasein hinaus in ein höheres hinein. Wie glücklich sie waren!

Wo ich davon reden hörte, horchte ich auf. Wenn ich abends die Dorfbewohner, jeder sein Kostüm unter dem Arm, aus den Proben nach Hause zurückkehren sah, klopfte mir das Herz. Wie ich sie beneidete! Was hätte ich darum gegeben, Maria Magdalena darstellen zu können! Ich schloß mich in mein Zimmer ein, heimlich, als stünde ich im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, löste ich mein Haar, warf eine Draperie um und agierte jene tragische Gestalt, dichtend und darstellend zugleich.

Welch ein Glück! Ich fühlte, wie das Blut mich heftiger durchströmte, wie meine Gestalt zu wachsen schien, mein Haupt sich in Begeisterung erhob. Angstvoll lauschte ich auf meine Stimme. Aber mein wachsamer Freund war in der Nähe, so daß ich sie dämpfen mußte. Ich konnte ihre Kraft und Gewalt nicht prüfen. Was war aus mir geworden? War dieses schwache, unbiegsame Organ dieselbe Stimme, die einst jede menschliche Empfindung auszudrücken vermochte? Verloren! Verloren!

Ich warf mich hin, betäubt vor Schmerz, um mich wieder aufzuraffen, von neuem versuchend, von neuem verzweifelnd.

Im Schloß befand sich ein Zimmer, das ich noch niemals betreten; doch wußte ich genau, was es barg: die Reliquien meines toten Glückes. Alle die Gewänder, in die ich mich einst gekleidet, alle die Kränze, welche jenen erhabenen Gestalten, die mir glichen, auf die Stirne gedrückt worden waren, befanden sich dort, verblassend und in Staub zerfallend. Manches Mal hatte ich vor der verschlossenen Tür gestanden und gedacht: Einst wirst du dich mir öffnen. Dann wird es um mich aufleben. Alle Toten werden wieder auferstehen, allen werde ich wieder volles, glühendes Dasein geben und dann, dann – –

Jetzt schlich ich an meinem verschlossenen Heiligtum vorüber, ach, so hoffnungslos! Ich hatte alle meine Kraft nötig, um Fernow die Entdeckung, welche ich gemacht zu haben glaubte, zu verheimlichen. Dennoch schien er zu argwöhnen, zu ahnen. Weshalb hatte er mir sonst die Natur und die Arbeit gegeben? Zum Ersatz für meine Kunst. Aber wie – er konnte glauben, mir dafür Ersatz geben zu können? Kannte er mich so schlecht?

Es gab Stunden, in denen ich mich voll Ekels von meinem leeren Dasein abwandle. Was sollte ich länger darin? Kein Lebendiger kann von sich sagen, daß er entsagt habe. Der Mensch entsagt erst, wenn er stirbt.

Einmal schlich ich mich in die Proben.

Der Platz, an dem die Passionsspiele aufgeführt wurden, lag unfern des Dorfes, in einer Schlucht, die sich unmittelbar dahinter auftat. Auf gewundenem Wege stieg man die Enge hinan. Von dem Dorf und dem ganzen Tal war bereits nach einigen Windungen nichts mehr zu sehen; wenige Schritte führten in eine Öde hinein, in welcher nichts gedieh als Alpenrosen. Von weitem gesehen, schienen purpurfarbige Teppiche von den Felsen herab zu hängen und über den Boden gebreitet zu sein. In mäßiger Höhe trat man in ein natürliches Felsen-Amphitheater. Hier war der Festplatz. Die eine Hälfte des Kreises nahm der Zuschauerraum, die andere die Bühne ein. Für diese gab der Berg selbst die Hinterwand, zu beiden Seiten schloß sich ein Fichtenwald an. Die Bäume selbst lieferten die Kulissen.

Von niemand gesehen stand ich und blickte auf das seltsame Schauspiel herab. Es wurde gerade die Kreuzigung eingeübt. Von jeder Seite trat aus dem Walde ein Zug: der eine führte die beiden Verbrecher zur Richtstätte, der andere den Heiland. Römische Kriegsknechte und jüdische Priester bildeten die Begleitung, Volk lief nach. Dem Zuge mit dem Heiland folgten in einiger Entfernung die Jünger und die Frauen. Jedem der drei zum Tode Verurteilten war das Kreuz aufgeschnürt, Christus trug die Dornenkrone.

Veronika sah als Maria Magdalena prachtvoll aus. Sie trug das faltenreiche Gewand, als sei es ihre gewöhnliche Kleidung. Mit Martha zusammen führte sie Maria. Allein ihre Haltung drückte ein solches Erleben der erhabenen Tragödie aus, daß ich kein Auge von ihr abzuwenden vermochte. Kaum konnte ich erwarten, daß sie reden würde.

Die Züge mußten mehreremal abtreten und von neuem aufziehen. Der Pater leitete alles. Seine weiche, tiefe Stimme ward fortwährend hörbar. Ich fühlte an meiner eigenen Aufmerksamkeit, wie sie drunten alle Gemüter beherrschen mußte. Aber wie war ich überrascht, als ich den Pater die Proben mit einem geradezu dramaturgischen Talent abhalten sah. Wie er die Züge anordnete, die Gruppen zusammenstellte, jeder Figur darin einen Charakter zu geben sich bemühte, das allein zeugte von dem feinsten künstlerischen Verständnis. Wo er nicht zufrieden war, zeigte er dem Betreffenden, wie er es zu machen habe.––––Dieser Mensch war ja ein Künstler.

Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er der Gruppe der Frauen. Was er aus Maria und ihren Begleiterinnen machte, war erstaunlich. Gar nicht von den Kostümen zu reden, die er jedenfalls auf das genaueste angegeben und bestimmt hatte, schuf er aus den Figuren wahrhaft biblische Gestalten.

Aber warum machte er sich so viel mit Maria Magdalena zu tun? Bei dieser konnte er nichts mehr hinzufügen, bei dieser mußte er so gut wissen wie ich, daß alles an ihr vollkommen war: Gestalt und Antlitz, Haltung und Gebärde. Er ordnete den Faltenwurf des dunkelblauen Gewandes, legte eine Strähne des aufgelösten Haares über ihre Brust, berührte ihre entblößten, prachtvollen Arme.

Sie ließ alles geduldig und ergeben an sich geschehen, ohne daß sie aufzublicken wagte. Christus stand von fern und sah traurig zu ihr hinüber.

Einmal führte einer der Kriegsknechte eine Störung herbei. Er spielte seine Rolle dem Heiland gegenüber so gut, daß er diesen straucheln machte. Der Pater fuhr ihn heftig an. Die wilde Gestalt war Alois.

Endlich hatten die Züge es ihrem Regisseur zu Dank gemacht; er erlaubte ihnen, auf der Richtstätte anzulangen. Während Soldaten und Männer aus dem Volk die Kreuze von den Rücken ihrer Träger abschnürten und Christus entkleidet wurde, hoben im Vordergrund die Jünger mit den Frauen eine ergreifende Lamentation an. Aber noch immer blieb Maria Magdalena stumm. Sie stand abseits von den anderen und blickte regungslos starren Auges zu Christus hinüber, mit einem stummen Spiel von einer Größe, die mich ganz fassungslos machte. Wie kam das Mädchen zu dieser Vollkommenheit?!

Unterdessen hatte man die drei in der realistischsten Weise an die Kreuze gebunden, die man jetzt langsam aufrichtete. Dieser Moment war von mächtiger Wirkung. In höchster Ergriffenheit sah ich das Kreuz mit dem Heiland vom Boden aufschweben. Aller Fassung beraubt, blickte ich auf den schönen gekreuzigten Leib. Die wilde Landschaft, die großen Volkshaufen, die grausame Wirklichkeit der furchtbaren Szene rissen meine Einbildungskraft fort. Ich wagte nicht, Maria anzusehen, weil ich fürchtete, den Anblick der unseligsten aller Mütter nicht ertragen zu können. Was mußte sie in diesem Moment empfinden?! Hier wurde auch die Mutter des Gottessohnes in jedem Gefühl ein sterbliches Weib. Mein Mitempfinden der Szene betäubte mich fast.

Um das Kreuz gelagert, würfelten die Kriegsknechte die Gewänder von Christus aus. Dieser hatte mit den Schächern gesprochen. Alles klang wie aus der Ferne zu mir herüber. Da sprang einer der Kriegsknechte empor, ergriff seinen Speer, stieß dem Herrn damit in die Seite. Ich schrie auf – nein, ich hörte unten jemand aufschreien: eine Frau, und das so fürchterlich, so herzzerreißend, so aller Beschreibung spottend, daß ich von Grausen gepackt ward. Dann sah ich, wie Maria Magdalena vorstürzte, zum Kreuze hin, sich daneben zu Boden warf, es im wilden Schmerz mit beiden Armen umschlang.

Da begriff ich's: Veronika war eine große Schauspielerin.

Ich konnte nicht erwarten, bis ich es ihr gesagt, es ihr zugejubelt haben würde.

Ohne noch einmal hinunterzublicken, verließ ich meinen Platz und erreichte auf einem Umweg den Wald auf der einen Seite der Bühne. Eine Schar von Frauen und Kindern umgehend, die, da sie bei der Kreuzigungsszene unbeschäftigt waren, hier lagerten, schritt ich vorwärts, als ich auf den Pater stieß. Er trat mir aus den Bäumen so plötzlich entgegen, daß ich unwillkürlich zusammenfuhr. Seine Haltung war eine ganz andere, als damals bei unserem Gespräch vor der Sennhütte: sie war gebietend, der Ausdruck des Gesichts stolz und kalt.

»Sie wollen gewiß zu Veronika, um ihr zu sagen, daß sie eine große Schauspielerin ist,« sagte der dämonische Mensch und sah mich dabei durchdringend an. »Ich fürchte, es wird Ihnen nichts helfen. Übrigens ist die Szene aus. Sie können zu ihr.«

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ging ich an ihm vorbei und betrat den Spielplatz. Hier lief alles durcheinander. Ich drängte mich durch das bunte Gewühl der Richtstätte zu, wo eben die Kreuzabnahme stattgefunden hatte. Augustin, wieder in seine braune Tunika gehüllt, saß ganz erschöpft auf einem Felsblock, Veronika stand neben ihm. Als sie mich auf sich zukommen sah, ging sie mir entgegen.

»Einer der Knechte hat ihn zu stark mit dem Speer getroffen,« sagte Veronika, »daß es ihn heftig schmerzt. Ein Glück, daß das Eisen stumpf war. Bei der Vorstellung muß ihm der Mann eine kleine, mit Blut gefüllte Blase aufstechen, die er an der Seite unter dem Trikot tragt, deshalb muß er sich jetzt auf den Stoß üben. Wenn er blutet, muß es fürchterlich sein,« schloß sie zusammenschauernd.

Sie war sehr blaß, in der Verstörung ihres ganzen Wesens noch immer Maria Magdalena.

»Veronika, liebes Mädchen, kannst du mich einen Augenblick anhören?«

Sie sah mich groß an, zauderte, schien mit den Augen den Pater zu suchen. Dann nickte sie schweigend und schritt mir voran zu einem Platz, wo wir unbeobachtet waren.

»Was haben Sie mir zu sagen? Was ist vorgefallen?«

Ich warf mich ihr um den Hals und flüsterte ihr zu: »Mädchen, Mädchen, ich will dir Größeres geben als jener Priester: die Kunst

Ein Schwindel überfiel sie. Mit geschlossenen Augen sank sie gegen meine Brust und lag dort eine Weile regungslos. Dann erholte, dann erhob sie sich.

»Sie meinen es gut mit mir. Sie zeigen mir einen Himmel, zu dem ich doch nicht hinauf kann; weit eher ist jener andere für mich erreichbar. Übrigens ist es zu spät. Ich habe heute meinem Verlobten gesagt, daß ich sein Weib werden will. Er ist so glücklich. Mein Platz auf dieser Welt ist fortan an seiner Seite.«

»Und der Pater?«

»Er will für mich beten, daß mir verziehen werde.«

Dann nach einer Pause sehr leise: »Im Frühjahr will er mich mit Augustin trauen und dann will er fort, in die Urwälder, zu den wilden Völkern, wohin ––––«

»Du ihn hättest begleiten sollen,« fiel ich ihr ins Wort. »Ach, Veronika, ich bin so froh über dich und zugleich so traurig. Nur das eine will ich dir heute noch sagen: Glaube nicht, daß du fortan dir selbst oder deinem Manne gehörst, mit deinem Talent gehörst du der Kunst, du magst wollen oder nicht: eine große Künstlerin zu werden, das ist deine Bestimmung.«

Die Pause war vorüber. Veronika wurde für ihre Hauptszene abgerufen: den Gang zum Grabe. Sie bat mich so dringend, so leidenschaftlich, ihr nicht zuzuhören, daß ich ihr willfahren mußte. Als ich ging, bemerkte ich den Pater im heimlichen Gespräch mit Alois. Er schien dem wilden Burschen Vorwürfe über den zu heftig geführten Speerstoß zu machen.

In nicht geringer Aufregung kam ich nach Hause, wo ich Fernow alles erzählte. Wir beschlossen, mit Pfarrer Andreas zu reden.


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