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Zwölftes Kapitel.

Ich mache Entdeckungen

Die fremden Arbeiter sind angekommen, alles befindet sich in voller Tätigkeit. Fernow hat sich im Schloß ein Bureau eingerichtet, darin es ganz kanzleimäßig zugeht. Das Vorzimmer wird nie von Beamten und Anfragenden leer. Es ist eine Lust – nein, es ist ein Glück, ihn so tätig zu sehen. Ich habe es mir denn auch nicht nehmen lassen und es durchgesetzt, daß sein Arbeitszimmer nur durch einen Vorhang von dem meinen getrennt ist. So kann ich jeden Augenblick jenes Glückes teilhaftig werden; auch fange ich an, mich als sein stiller Kompagnon zu betätigen.

Das Dorf stellt sich dem Schlosse immer feindlicher gegenüber. Fernow kann für seine Zeichenschule, ich für meine Nähschule nur die geistig wie körperlich völlig verwahrlosten Kinder der übelst beleumdeten Familien bekommen: Menschen, die, während sie ihre Söhne und Töchter von uns nähren, kleiden und unterrichten lassen, nachts die jungen Pflanzungen ausreißen und in den Sümpfen die Drainierungen zerstören.

Ich habe es mir nun folgendermaßen gedacht.

Wenn wir uns nicht entmutigen lassen, so daß es uns gelingt, diese Allerschlimmsten allmählich zu einer geordneteren Arbeit und besseren Sitte zu erziehen, so wäre damit ein Anfang gemacht, der sich durch nichts wieder zerstören läßt. Wenn die Leute nur erst Erfolge sehen, so müssen ja die besseren unter ihnen unsere gute Absicht erkennen. Sie werden uns dann gewiß nicht länger ihre Kinder vorenthalten: Sind doch die Anfänge eines Geschlechtes nur aus der neuen Generation zu bilden.

Mit schwerem Herzen mußte ich Fernow recht geben, daß wahrscheinlich das meiste Gute, was wir den Kindern anzuerziehen hoffen, zu Hause von den Eltern wieder vernichtet werden wird. Das Genie der katholischen Kirche beweist sich wiederum in diesen Prinzipien in fast furchtbarer Weise: Die Jugend, die sie für sich und ihre Zwecke heranbilden will, wird von ihr gänzlich den Eltern entzogen; sie wird vater- und mutterlos und darf fortan keine andere Heimat haben als die Kirche.

Über diesen Gedanken kommt mir ein Zweifel, der viele meiner frohesten Hoffnungen erschüttert. – – Was vermag alle Erziehung gegen jene unheimliche geistige Vererbung, die von Mutter und Kind auf längst vergangene Generationen zurückführt und trotz alles Mühens dermaßen auf zukünftige Generationen wirken kann, daß der Urenkel mit dem Antlitz, den Bewegungen, dem hinkenden Fuß oder dem Muttermal seiner Vorfahren auch deren Laster und Leidenschaft ererbt, Laster, von denen seine Eltern rein geblieben waren. Das sind grauenvolle Mysterien der Schöpfung.

Fernow sprach mit mir darüber, Veronika für meine Schule zu gewinnen. Ich kann mich jedoch nicht zu der Ansicht entschließen, daß dieses leidenschaftliche Geschöpf für einen solchen Wirkungskreis geeignet sei. Ich denke viel über sie nach und suche in das Geheimnis zu dringen, welches diese scheinbar so starke Natur nicht nur so unfrei macht, sondern sogar ihre Seele den bedenklichen Prinzipien eines fanatischen Jesuitenpaters überläßt.

Bei dem nächsten Besuch des Pfarrers will ich mit ihm über seine Schwester reden.

Pfarrer Andreas besucht uns oft. Wir fürchten, daß ihm jeder Gang ins Schloß in der Meinung seiner Gemeinde schadet. Daß er sich dadurch nicht von uns zurückhalten läßt, sieht ihm ganz ähnlich. Er ist eben ein Mensch, der seinen Überzeugungen folgt und sich stets selbst getreu bleiben wird. Dabei scheint mir der Kummer, der auf seiner Seele lastet, immer stärker zu werden. Seine Schwester, das einzige Wesen, das dieser Priester außer seinem Gott liebt, wird von einer dunklen Macht immer mehr und mehr von seiner Seele gerissen. Seine Gemeinde, dieses teure Schmerzenskind, versteht ihn nicht, verkennt ihn sogar! Sein Glauben und sein Priestertum, diese beiden großen Leidenschaften seines Lebens, werden ihm durch die Entartungen seiner Kirche und ihrer obersten Diener entheiligt. Das ist genug, um auch das stärkste Gemüt niederzudrücken. Dabei die täglich wachsende Macht des Jesuitenpaters, der das Land durchzieht, um die wilden Gemüter des Volks, das seine Arbeit verläßt, diesem falschen Priester zuzulaufen, noch mehr zu erregen. Fernow riet dem Pfarrer dringend, sich an die Behörde zu wenden.

 

Gestern habe ich mit dem Pfarrer über seine Schwester gesprochen. Wir waren beide allein in meinem Zimmer, darin es bereits dunkelte, während über den Alpen noch die Glut des Sonnenunterganges lag. Als ich den Namen Veronika nannte, stand der Pfarrer auf, trat ans Fenster und sah hinaus.

»Ich weiß es,« antwortete er fast leise. »Sie ist nicht glücklich, sie wird es nie werden. Es gibt Naturen, bei denen das wohl so sein muß, obgleich ich es nicht verstehen kann. Wie aber kommt sie dazu, sie, die Tochter armer Alpenbauern und meine Schwester?! Sie will immer über sich selbst hinaus, nichts genügt ihr, weder ihr Glaube noch ihre Liebe. Denn Sie müssen wissen,« wandte er sich plötzlich nach mir um, »daß Veronika so gut wie verlobt ist.«

Ich war überrascht.

»Mit wem?«

»Natürlich mit einem Sohn unseres Landes, einem echten Kind dieser Berge. Es ist ein prächtiger Jüngling, der meine Schwester liebt, wie – nun, wie sie geliebt zu werden verdient; der Sohn eines unserer wohlhabendsten Bauern; dabei unser junger Meisterschnitzer. Die beiden haben schon als Kind zusammen Braut und Bräutigam gespielt. Aber jetzt – –«

Er brach ab und fuhr nach einer Weile fort: »In ihrer Seele muß etwas krank sein, wofür kein Arzt ein Mittel schaffen kann, wofür es auch wohl keines gibt, wenigens kein solches, wie Apotheker und Pfarrer geben können. Sie soll aus dem Hause und der Kirche hinaus auf das Gebirge: wo Gott nicht hilft, hilft vielleicht Gottes Natur. Mir wenigstens hat sie noch immer geholfen. In der Einsamkeit findet der Mensch, wenn auch nicht den verlorenen Himmel wieder, so doch sich selbst zurück. Und sie hat sich selbst verloren,« schloß er mit einem tiefen Atemzuge.

»Vielleicht hat Ihre Schwester sich noch niemals selbst besessen,« mußte ich ihm erwidern.

Pfarrer Andreas sah mich groß an. Dann trat Fernow ein.

Wie gewöhnlich wurde zwischen uns der Fortschritt der Arbeiten verhandelt. Das Thema war zu groß, um bald davon abzukommen. Als unser Freund gegangen war, erzählte Fernow: im Dorfe herrsche große Aufregung. Der Jesuit habe auf freiem Felde gegen den Pfarrer gepredigt und die Dorfleute es ruhig geschehen lassen.

 

Ich kräftigte mich wunderbar. Da es mich immerwährend aus dem engen Tal hinaus auf die freie Höhe trieb, wurde ein Maultier angeschafft, das mich sicher hinaufträgt, tief in die erhabene Öde der Alpen hinein. Weil Fernow mich nur selten begleiten konnte, erhielt ich einen Führer zuerteilt, der, im Gebirge aufgewachsen, ringsum jeden Weg und Steg kannte.

Mein Gefährte in der Alpenwildnis war ein schlanker, hübscher Bursche mit einem kühnen, fast wilden Gesicht, mit trotzigen, düstern Augen, die er gewöhnlich gesenkt hielt. Er lebte Sommers und Winters in der Einsamkeit, wo er mit einer alten Mutter hauste. Nur des Sonntags kam er ins Kirchdorf hinab und mit Menschen zusammen. Er war ein Edelweißsucher. Sobald im Frühsommer der Schnee zu schmelzen begann, war er oben und verbrachte die Tage am Rande von Abgründen, in die er sich oft an Seilen hinunterließ, an Orte, wohin mancher Gemsenjäger sich nicht wagte. Er war so oft in Lebensgefahr gewesen, daß ihm der Tod als etwas vollkommen Gleichgültiges erschien. »Einmal,« so meinte er ganz gelassen, »stürze ich doch hinunter.« Die Blumen, um deren strahlenden Kelche willen in den Alpen so viel Menschenblut fließen muß, wurden von Alois sorgsam gepreßt und von der Mutter weit fort in die Städte des Kaiserreichs getragen. Übrigens wollte man wissen, daß des Alois alte Mutter unter ihren Blüten auch noch anderes zum Verkauf in die Ferne trug: Adlerfedern und den gekrümmten Schweif des Auerhahns.

Wenn Alois vor einem Heiligenbild vorüber kam, grüßte er dasselbe mit scheuer Demut. Dem Pfarrer Andreas küßte er, so oft er ihm begegnete, inbrünstig die Hand. Als sich einmal die schwarze Gestalt des Jesuitenpaters in der Ferne zeigte, fiel mir auf, wie der junge, trotzige Bursche in seltsame Aufregung geriet.

Meinen staunenden Augen enthüllten sich die Wunder der Alpenwelt. Indem diese für mich ihre Einsamkeit auftat, führte sie mich in ihre Erhabenheiten ein. Wenn das Tal tief unter mir lag, immer mehr und mehr vor meinen Blicken versinkend, aufbrauende Nebel mir es völlig entzogen – wenn rings um mich die Felsenfelder sich dehnten, über mir Klippen und Gletscherwände ins düstere Gewölk empordrangen, mir auch der Himmel entschwunden war, kein Ton die schauerliche Lautlosigkeit unterbrach, so hob mich diese starre Größe mächtig über mich selbst hinaus, daß ich mein kleines Schicksal darüber vergessen konnte und mich ganz in die unendliche Schönheit der Schöpfung verlor.

Eines Tages beschloß ich, Veronika aufzusuchen, die unterdessen auf die Alm gezogen. Als ich meinem Führer sagte, wo wir heute hin wollten, benahm sich dieser ganz sonderbar. Ich achtete nicht weiter darauf.

Wir hatten einen weiten Weg bis zur Wasserfallalm; derselbe führte uns durch die wildesten Teile des Gebirges. Alois, der sonst dem Maultier weit vorauskletterte und dem ich gewöhnlich nur mit Mühe einige Worte entlocken konnte, kam diesmal nicht von meiner Seite. Er erzählte mir aufgeregt, mit einer wilden Naturpoesie von den Schönheiten seiner Berge.

Welche Leidenschaft lag in der Liebe dieses Volkes zu seinem schönen, wilden Heimatsland! Ich begriff, daß sie zum Fanatismus ausarten konnte, gerade wie die Religion. Aber wie schön war hier dies Übermaß leidenschaftlicher Empfindung, die herrliche Mutter der größten Tugenden! Welche Heldentaten vollführte diese wahrhaft heilige Begeisterung; während jene andere, obgleich aus dem Göttlichsten stammend, alle dämonischen Leidenschaften im Menschen entfesselnd, die Erde mit Blut überschwemmt und mit Greueltaten bedeckt hat.

Der schmale Pfad lief jetzt immer dicht am Rand von Abgründen entlang. Alois erschreckte mich mehreremal heftig: plötzlich war er vor mir in der Tiefe verschwunden, um gleich darauf wieber mit einem Strauß Edelweiß aufzutauchen. Er schien immer die gefährlichsten Stellen aufzusuchen. Dann und wann brach er in einen wilden Juchzer aus, den das Echo vielfach zurückgab.

Ich fing an, müde zu werden. Noch immer war nichts von einer Alm zu erspähen: links gähnte der Abgrund, rechts starrten die Felsen. Auf einmal taten diese sich weit auseinander und wölbten sich zu einem Riesentor. Ich blickte in einen ungeheuren Felsendom, dessen Kuppel der blaue Himmel, dessen Boden eine blumige Wiese, darauf von Tannen umgeben die Sennhütte lag. Im Hintergrund des Alpenkessels stürzte sich von jäher Höhe ein Wasserfall, über dessen Staubwolken ein Regenbogen leuchtete, ins Tal. Kuhglocken läuteten, ein Hirtenknabe blies auf seiner Schalmei. Vor der Hütte sah ich jemand sitzen: Veronika. Als sie uns erblickte, stand sie hastig auf und begab sich ins Haus.

Ich stieg ab und durchwandelte mit Entzücken die schöne Wiese, zwischen deren lichtem Grün die Blumenknospen wie darüber hingestreute Edelsteine funkelten. Alois war mit dem Tier vorangegangen. Vor der Hütte angekommen, ließ er dasselbe frei laufen und ging hinein. Als ich mich der Alm näherte, trat er wieder heraus, ohne sein Edelweiß und ganz verstört. Ich fragte ihn, was ihm geschehen sei? Er wandte mir den Rücken und ging in den Wald. In der Hütte fand ich bei Veronika den Jesuitenpater.

Ich sah den unheimlichen Menschen zum erstenmal in der Nähe. Das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, stimmte in keinem Zuge mit der Wirklichkeit überein: eine schmächtige Gestalt, ein feines, blasses, geistvolles Gesicht, vornehme, fast anmutige Bewegungen. Nur an den Augen ließ sich der Fanatiker erkennen. Der Mund war zu sinnlich für einen Priester. Mir fielen sogleich seine weißen, zarten, überaus gepflegten Hände auf.

Er erwiderte meinen mehr als kalten Gruß mit weltmännischem Anstand. Veronika war stumm und scheu. Alois' Edelweißstrauß lag achtlos hingeworfen auf einer Bank. Der Jesuit hatte eine Blume genommen, spielte damit, sah nach Veronika hinüber, lächelte.

Das schöne Mädchen stand am Herd und schürte die Glut, über welche der Wolkenkessel hing. Ich wollte mich auf die Herdbank setzen; aber sie sagte hastig, ohne dabei aufzusehen: »In der Kammer ist's so niedrig und das Feuer raucht. Ich bitte, gehen Sie hinaus. Ich komme gleich nach.«

Sie wollte mich sichtlich nicht in der Gegenwart des Paters lassen. Da ich dasselbe wünschte, so verließ ich ohne weiteres die Hütte. Der Jesuit machte mir eine tiefe Verneigung. Als ich an ihm vorbeiging, duftete mir ein starkes Veilchenparfüm entgegen. Ich blickte ihn nicht an, aber ich war überzeugt, daß er wieder nach Veronika hinübersah und dabei sicher wieder lächelte. Draußen wollte ich meinen Führer aufsuchen, aber er war nirgends zu sehen. Auch auf mein lautes Rufen erhielt ich keine Antwort. Alois suchend, ging ich an dem offenen Fenster der Hütte vorüber. Drinnen wurde leidenschaftlich geflüstert.

Ich setzte mich im Schatten auf eine Holzbank, die an einer Seite des Blockhauses entlang lief, und überblickte träumerisch die wunderbare Schönheit des Ortes. Die Blumen und Bergkräuter dufteten zu mir auf, die Tannen strömten kräftigen Harzgeruch aus, Käfer und Schmetterlinge flatterten im Sonnenschein. – – Wo hatte ich das schon einmal erlebt?

Ich verlor mich in Sinnen und vermochte doch nicht, mich zu erinnern. Es mußte vor langer Zeil gewesen sein. Vielleicht in meiner Kinderzeit, wo ich glaubte, mit Sonnenstrahlen spielen zu können und meine Händchen nach dem blauen Himmel ausstreckte.

Auf einmal stand der Jesuitenpater vor mir und betrachtete mich lächelnd.

»Verzeihen Sie, gnädigste Frau, daß ich mir erlaube, Sie Ihren stillen Betrachtungen zu entreißen,« redete mich dieser Mensch mit sanfter, einschmeichelnder Stimme an. »Aber wie ich soeben von unserer guten Veronika gehört habe – nachlässig warf er den Namen hin – sind Sie gleich mir diesem seltsamen Mädchen wohlgesinnt. Dieses gleiche Interesse, welches wir beide an einer und derselben Persönlichkeit nehmen, gestattet mir, mich Ihnen hier selbst vorzustellen.«

Er nannte mir seinen Namen und verneigte sich von neuem übertrieben tief. Möglichst gelassen erwiderte ich: »Es verhält sich in der Tat, wie Ihnen Veronika sagt. Ich hege für das Mädchen die lebhafteste Teilnahme, hatte aber bis jetzt leider noch keine Gelegenheit, sie dessen zu versichern. Es freut mich, daß Veronika meine freundschaftlichen Empfindungen für sie bemerkt hat; nur verstehe ich nicht, wie sie dazu kam, hierüber mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich bin ihr Freund – ihr Priester,« fügte er nach einigem Zaudern hinzu.

»Auch das kann ich nicht begreifen,« versetzte ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie dieses Mädchens Freund und Priester? Sie scheinen zu vergessen, daß Veronika die Schwester des Pfarrers Andreas ist. Wenn sie einen Freund und Priester nötig hat, wird sie denselben bei ihrem Bruder finden.«

»Sind Sie, meine gnädige Frau, dessen so gewiß?«

Weder durch seine Mienen noch durch den Ton, womit er das sagte, ließ ich mich aus meiner Ruhe bringen.

»Vollkommen gewiß! Was ich von dem Mädchen bisher gehört und gesehen, hat mir den Glauben gegeben, daß dieses starke Gemüt sich vielleicht für kurze Zeit verirren – in die Irre führen lassen, aber sich nie verlieren kann. Ihr Bruder wird immer ihr Freund und Priester bleiben – ihr wahrer Priester!«

Wir blickten einander an. Er war der erste, der seine Augen zu Boden schlug. Jetzt lächelte ich. Da verlor der kalte, kluge Herr seine Gelassenheit. Sein jesuitisches Prinzip vergessend, rief er: »Was wissen Sie von einen wahren Priester!«

»Mein Herr!«

Ich erhob mich.

»Bleiben Sie und hören Sie mich!« raunte er mir zu. »Ich kenne Sie und Ihre Absicht. Sie wollen mir die Seele dieses Mädchens entreißen, sie ihrer Gottheit entreißen, einer Gottheit, die sich weder Ihnen noch jenem falschen Priester unten im Tal offenbart hat. Ich bin ihr Verkünder auf Erden, ihr Apostel, ihr Prophet. Dieses Mädchen muß auf mich hören! denn was wissen Sie von ihr. Sie, die Fremde, die Gottlose, wo sie mir, ihren Freund und Beichtiger, ein Rätsel bleibt. Aber ich werde sie kennen lernen und dann – –«

»Von Ihrer Gottheit zermalmen lassen. Welch einen Zweck Sie dabei haben, vermag ich noch nicht zu erkennen; aber ich kenne die Mittel, die Sie anwenden, um zu Ihrem Zweck zu gelangen. Hüten Sie sich! Ich habe bis jetzt keine Rechte auf dieses Mädchen gewonnen, aber ich werde mir diese gleich heute dadurch zu erwerben suchen, daß ich sie vor Ihnen warne, sie und ihren Bruder. – – Ich bitte, mir aus dem Weg zu gehen.«

Ohne ihn anzusehen, schritt ich an ihm vorüber der Hütte zu. Ich hörte ihn etwas murmeln und mußte denken: ob er wohl jetzt noch lächelt?

Vor der Tür des Blockhauses stand Veronika regungslos und totenblaß. Als ich zu ihr trat, ergriff sie meine beiden Hände, die sie leidenschaftlich an die Lippen drückte. Ein erstickter Ausruf entrang sich ihrer Brust, sie schien vor mir niedersinken zu wollen. Plötzlich, ehe ich ein Wort finden konnte, war sie aufgetaumelt und fortgestürzt in den Wald hinein.

»Veronika!«

Ein wilder Ruf war die Antwort. Dann blieb alles still.

Als sie nach längerer Zeit nicht wiederkam, ward ich um das leidenschaftlich erregte Mädchen ernstlich besorgt. Der Jesuitenpater war in die Hütte gegangen; ich hörte ihn drinnen ein Gebet deklamieren. Ein Gefühl des Widerwillens ergriff mich, daß ich mich, um dieser Theaterszene zu entgehen, weit vom Hause entfernte. Im Walde begegnete ich Alois, den ich hastig fragte, ob er Veronika gesehen?

»Ist sie denn fort?« stieß der Bursche hervor.

Ich konnte meine Unruhe nicht verbergen und forschte ihn aus, wohin das Mädchen wohl gegangen sein könne.

»Ich glaube es zu wissen.«

Er schritt mir voraus, immer tiefer hinein in den Wald, der beinahe einem Urwald glich. Das Brausen des Wasserfalles tönte immer näher und stärker. Bald sah ich über den dunklen Tannenwipfeln die Staube Wolken aufsprühen; nun standen wir dicht davor. Ich begriff nicht, wo wir hier die Gesuchte finden sollten.

An der einen Seite der Felswand zog sich ein Herdenpfad empor. Diesen klimmte Alois hinauf, unbekümmert darum, ob ich ihm folgen könne ober nicht. Es gehörte ein ruhiges Auge dazu, um schwindelfrei in den Abgrund sehen zu können, in den sich donnernd der Gischtstrom stürzte.

In ziemlicher Höhe wandte sich der Zickzack gerade dem Wasserfall zu. Ich blieb stehen: weiter konnten mir nicht! Doch mein Fühler schritt noch immer vorwärts.

Dicht am Fall führte der Pfad in den Felsen hinein. Der Eingang zur Höhle war halb verdeckt von Kräutern und herabfallendem Gerank, welches hier unter dem ewigen Sprühregen des Gießbaches ein gar gedeihliches Leben führte.

Ich eilte vor und blieb dann plötzlich stehen, von Grausen gleichsam gebannt, mich mit beiden Händen an Ranken und Gesträuch anklammernd, unmittelbar über den wütenden Wassern.

Ich schloß die Augen, ich wankte. Da fühlte ich mich von zwei starken Armen gefaßt und vorwärts gezogen. Allmählich erkannte ich, wo ich mich befand: in einer hohen Grotte, die tief in den Felsen hineinführte. Der Wasserfall mußte sich über meinem Haupte befinden; er erfüllte die Höhle mit dumpfem Dröhnen. Alois, der noch immer meine Hände gefaßt hielt, neigte sich zu mir herab: »Sie ist da!«

»Wo?«

Er deutete auf einen Felsenvorsprung, hinter dem ein anderer Ausgang zu liegen schien. Ich winkte ihm zurückzubleiben und schritt vor über den schlüpfrigen Grund. Dann sah ich sie.

Die Öffnung, welche die Höhle an dieser Stelle hatte, füllte der Wasserfall, der in weitem Bogen darüber hinwegstürzte, eine Wolke feuchten Nebels in die Grotte stäubend. Wie durch ein Kristallgewölbe sah ich das Tageslicht. Der gedämpfte Glanz fiel gerade auf das Haupt des Mädchens, welches an einem rohen Holzkreuz niedergesunken war. Den Kopf auf die Brust geneigt, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, trug ihre ganze Gestalt den Ausdruck eines Seelenschmerzes, der mich an Maria Magdalena erinnerte.

»Veronika!«

Natürlich konnte sie mich des donnernden Geräusches wegen nicht hören. Ich ging also zu ihr, die nichts von meiner Anwesenheit ahnte, kniete neben ihr nieder, umschlang sie mit beiden Armen. Mit einer Gebärde des Entsetzens fuhr sie auf, machte, halb besinnungslos eine Bewegung dem Abgrund zu, fühlte sich von mir festgehalten, blieb zuerst regungslos, am ganzen Leibe zitternd, sank dann hilflos wie ein Kind an meine Brust.

Eine ganze Weile blieben wir so, Haupt an Haupt gelehnt. Ihr Körper zuckte in meinen Armen, ich fühlte ihr heftig pochendes Herz.

Endlich raffte ich mich auf, hob die Willenlose sanft empor und führte sie in die Tiefe der Höhle hinein. Hier setzte ich mich auf einen Felsen und wollte sie an meine Seite ziehen. Aber sie warf sich vor mir nieder und verbarg ihr Gesicht in meinen Schoß. Ich wartete bis sie reden würde. Sie begann dann auch flüsternd in kurzen Sätzen, die Worte mühsam hervorstoßend.

»Ich habe gehört, was er Ihnen gesagt hat. O, Sie kennen ihn nicht! Er ist ein fürchterlicher Mensch, ein Dämon: über wessen Seele er einmal Gewalt genommen, der hat keine eigene Seele mehr. Wer ihm gehorcht, muß einen Mord tun, wenn er es befiehlt. Für jedes Wort, das ich Ihnen sage, wird er mich Buße tun lassen; aber ich kann nicht anders, ich kann nicht! Ich habe niemand, zu dem ich reden darf. Mein Bräutigam, mein Bruder, mein Gott – zu keinem läßt er mich hin. Ich soll nur zu ihm. Er will mich einer großen Sache weihen. Was ist das! Mich packt Grauen davor, mich verzehrt Sehnsucht danach. Können Sie mir's nicht sagen? Sie, die Sie so gut sind, so rein, so – unglücklich. Sie, die eine große Künstlerin waren, Sie, vor der ich hinknien, zu der ich beten möchte – sehen Sie, so!«

Sie hob ihr todblasses Antlitz, ihre beiden Arme zu mir auf und sah mich mit einem unbeschreiblichen Blicke an. Die Dämmerung um uns, der Donner des Wasserfalles über uns, die Beichte, die mir abgelegt wurde – es war eine Szene voll unheimlicher Feierlichkeit.

Ich sprach zu ihr. Mit tief geneigtem Antlitz hörte sie mich ruhig an. Als ich alles gesagt, was ich zu sagen hatte und sie schließlich bat, mich mit ihrem Bruder reden zu lassen, fuhr sie leidenschaftlich auf.

»Nein, nein, kein Wort zu ihm! Es würde ihn nur noch unglücklicher machen und retten kann er mich doch nicht. Retten kann mich niemand. Jeder, der mich liebt, soll sich von mir abwenden. Ich bin meinem Schicksale verfallen.«

»Aber der wackere Jüngling, der dich liebt, mit dem du verlobt bist!?«

Sie antwortete nicht sogleich. Ein heftiger Kampf schien in ihr vorzugehen; dann setzte sie ihre Beichte fort.

»Ich bin ihm gut gewesen, solange ich denken kann. Er dauert mich, denn er liebt mich sehr und wird sehr unglücklich werden. Ich kann ihm nicht helfen. Wenn ich jenem Manne noch immer nicht dahin gefolgt bin, wohin er mich führen will und wo ich meine große Sache – meine Mission, wie er es nennt – finden soll, so habe ich nur des armen Menschen wegen so lange gezögert. Jener weiß das auch. Das ist's ja, was er mir nicht vergeben will, weshalb er mich immer und immer wieder mahnt. Ich soll mein Herz mit jeder Faser von der Welt losreißen, eher bin ich nicht vorbereitet, nicht würdig genug für jenes fürchterliche, unbekannte Große, das ich aus seinen Händen von Gott empfangen soll. Von meinem Bruder hat er mich gelöst, daß ich gar kein Recht mehr besitze, in seinem Hause zu bleiben. Von meinem Bräutigam wird er mich lösen, daß in mir kein Gedanke mehr an ihn zurückbleibt. Aber noch – nein, noch kann ich nicht!«

»Unglückliche!« rief ich aus. »Wenn dieser Mensch, den ich nicht Priester nenne, weil dieser Name, zugleich mit dem seinen genannt, entweiht würde; Unglückliche, wenn er noch etwas anderes von dir begehren sollte als deine Seele!«

»Noch etwas anderes als meine Seele?« Sie starrte mich verwundert an.

»Etwas ganz andere», das ihm zugleich deine Seele überliefert: deinen Leib.«

Sie schien mich immer noch nicht zu verstehen. Endlich brachte sie hervor: »Er ist ein Geweihter.«

»Ach, Veronika, für einen solchen Geweihten ist es keine Entweihung seines Priestertums, wenn er ein Weib schön findet.«

Erst langsam begriff sie mich. Eine große Veränderung ging in ihr vor. Ihr Gesicht nahm einen seltsam starren Ausdruck an.

»Darin tun Sie ihm unrecht,« sagte sie ruhig. »Ein Dämon ist er, aber kein Teufel. Und wenn er es wäre – –«

Sie endete den Satz nicht, wandte sich ab und blickte nach der Felsenspalte hinüber.

»So etwas kann nicht möglich sein auf der Welt,« schloß sie und fuhr sich mit der Hand mehreremal über die Stirn.

Ich fühlte einen heftigen Schmerz in mir.

Also verloren! dachte ich und beschloß, einen letzten Versuch zu ihrer Rettung zu machen.

»Komm zu mir in mein Haus, Veronika, und lebe mit mir,« bat ich herzlich.

»Nein,« erwiderte sie kurz und herb. »Ihre Wege sind nicht meine Wege, Ihre Gedanken nicht meine Gedanken. Sagen Sie mir nichts mehr, ich muß meiner Bestimmung folgen.«

Wie um jedes weitere nutzlose Wort zu verhindern, entfernte sie sich langsam. Ich sah ihre hohe Gestalt aus der Dunkelheit immer mehr der Felsenspalte sich nähern, aus der ihr das Licht entgegendrang. Mich erwartend blieb sie hier stehen; ich mußte ihr folgen.

»Ich danke Ihnen – gehen Sie! Ich komme auch gleich.« Sie wandte sich ab und trat an das Kreuz, das sie mit Alpenrosen bekränzte, die sie im Heraufsteigen gepflückt hatte.

Vor dem Ausgang der Höhle stieß ich auf Alois, bei mich an derselben Stelle erwartete, wo ich ihn verlassen hatte. Ich sollte eine neue Entdeckung machen.

»Hat sie Euch auch das von ihrem Bräutigam gesagt?« raunte mir der Bursche mit heiserer Stimme zu.

»Auch das? Was soll das heißen?«

»Nun eben das! Dem Pater hat sie's gebeichtet. Der Pater meint, daß ihre Seele für alle Ewigkeit verloren sei, wenn der Augustin – so hieß Veronikas Verlobter – es nicht büßen tät.«

»Woher kannst du wissen, was Veronika dem Pater gebeichtet hat und was ist das alles für wüstes Geschwätz?!«

Der Bursche mußte begreifen, daß er schon zu viel gesagt habe; indessen verstand ich ihn damals nicht, Er sah mich mißtrauisch an und murmelte etwas.

Dann trat Veronika zu uns. Eine halbe Stunde später befanden wir uns alle drei wieder in der Sennhütte. Der Pater war nicht mehr da. Er hatte der Sennerin für Veronika aufgetragen, daß er am nächsten Sonntag auf den Jägeralmen predigen werde, sie möge ja nicht versäumen, hinüber zu kommen.

Es dunkelte bereits, als ich aufbrach. Die Alpen glühten, der Wasserfall brauste wie eine Flammenflut in den düstern Schoß der Tannen hinab. Welch ein Frieden lag um die kleine Hütte gebreitet! Der Kampf der menschlichen Leidenschaft schien hier ein Märchen zu sein.

Das Felsentor passierend, trat uns ein schöner Jüngling entgegen. Ei grüßte mich mit einem Anstand, der mir auffiel. Es war eine prächtige Gestalt; langes, hellblondes Haar lockte sich um ein mildes, beinah weiblich sanftes Gesicht. Seltsam unter diesem Volk von Bauern und Hirten ein Christusantlitz!

Als er vorüber war und ich mich bei Alois nach ihm erkundigen wollte, sah ich diesen wie angewurzelt stehen und ihm nachblicken. Ich mußte ihn mehreremal rufen, bis er endlich kam.

»Wer war das Alois?«

»Wer der war?!«

Er blieb wieder stehen und sah sich um.

»Wer das war? Das war er, der Bräutigam!«

Auf dem Heimweg hatte ich genug zu denken. Ich beachtete kaum, wie die Dämmerung immer mehr zur Dunkelheit ward, wie die Schatten aus dem düstern Tal immer höher an den, noch im matten Schein leuchtenden Gebirgen emporkrochen, wie sie sich über die Felsenhäupter hinwegwälzten, die Schneefelder mit Nacht bedeckend, den ganzen Himmel überziehend. An diesem leuchteten die Sterne auf. Unten verhallten die letzten Glockenschläge.


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