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Viertes Kapitel.

Allerlei Wehmütiges und Sehnsüchtiges.

Man wird erstaunt sein, daß mir, der Tochter eines deutschen Lehrers, bis zu meinem vierzehnten Jahre der größte deutsche Dichter in seinen Werken fremd geblieben war; denn was ich in der Schule von ihm kennen lernte, waren nur einige seiner Balladen. Wenn mich diese schon außer mir gebracht hatten, wie mußten da erst die Dramen auf mich wirken!

In einer Zeit schwerer Not hatte meine Mutter sich entschließen müssen, die kleine Bibliothek, die heiligste Hinterlassenschaft meines Vaters, zum Antiquar zu tragen; jedoch mit der Bedingung, daß ihr der Rückkauf gestattet sei. Jetzt ging aus den Händen meiner Mutter ein wahrer Frühling hervor, für dessen Erlös nach und nach Band auf Band wieder erworben ward. Auch Luise ließ sich nicht nehmen, den poetischen Blüten meiner Mutter ihre prosaischen Strümpfe hinzuzufügen und so kam es, daß eines Tages in unserem Häuschen ein großes Fest gefeiert werden konnte: das letzte Buch ward zurückgeholt.

Unter den Werken befand sich natürlich auch ein Schiller. Wenn ich nun trotzdem nicht dazu kam, weder diesen Dichter, noch irgendeinen andern zu lesen, so hatte das meine ängstliche Mutter verhütet, wohl nicht mit Unrecht eine Steigerung meiner übergroßen Erregbarkeit bis zum entschieden Krankhaften befürchtend. Der Schrank, dessen Inhalt meine Sehnsucht gestillt haben würde, stand mir unverschlossen. Doch herzlich gebeten, seine Türen nicht zu öffnen, tat ich es niemals. Nur was meine heimlichen Deklamationen anbetraf, vermochte ich nicht eine gehorsame Tochter zu sein. Wie ein Dichter schon als Kind reimen muß, so mußte ich, derselben inneren Notwendigkeit zufolge, schauspielern.

Wie sehr meine Mutter recht gehabt, zeigte sich nach jenem Weihnachtsabend, der mir den Schiller meines Vaters bescherte. Wenn ich sage, daß ich fast alle Dramen auswendig kannte, wird man mich gewiß der Übertreibung beschuldigen. Und doch war das der Fall. Einmal begonnen, war kein Anhalten, kein Aufhören mehr möglich. Mein ganzes Nervensystem litt darunter und einige Zeit kränkelte ich bedeutend. Aus Furcht, daß mir mein Schiller genommen werden könne, äußerte ich jedoch nie eine Klage. Die Angst der Mutter, der mein blasses Aussehen Besorgnis einflößte, lächelte und scherzte ich hinweg. Den wahren Grund ahnte wohl nur – man denke! – unsere grobsinnige Luise.

Ich war gerade eingesegnet worden, als die kleine Familie einen großen Kummer erfuhr.

Unser liebes Häuschen, in dem wir inmitten der lärmvollen Stadt, eine schier ländliche Idylle lebten, war Eigentum eines alten Gärtners, der nichts von der neuen Zeit wissen wollte, welche Stadtmauern niederriß und auf dem Felde des Landmanns riesenhohe Schornsteine aufführen ließ. Trotzig gärtnerte er weiter; pflanzte seinen Kohl, zog seine Blumen, ließ seine Frucht reifen, während rings um ihn her Häuser aus den Boden stiegen und sich Straße auf Straße ausdehnte. Man bot ihm für seinen Garten Summen, die ihn mit einem Schlage zum reichen Mann gemacht hätten; aber mein wackerer Gärtner wollte sterben, wie er gelebt hatte: den Boden bebauend, auf dem seine Eltern und Großeltern im Schweiße ihres Angesichts gesäet und geerntet. Der gute Mann, dem ich seinen redlichen Trotz noch heute danke, starb. Ein gleichgültiger, in diesem Fall wirklich lachender Erbe, mochte den Verkaufskontrakt bereits in der Tasche tragen, als er den braven Arbeiter zur Grube geleitete. Wenige Tage nach dem Begräbnis wurde uns angekündigt, daß wir in kürzester Frist das Häuschen zu räumen hätten.

Das war ein trauriger Abend, an dem wir zum letztenmal auf dem Altan beisammen saßen. Es war gerade Frühling und noch heute glaube ich den Duft der Holunderblüten zu spüren. Die Zimmer standen bereits ausgeräumt. Es war so öde im Haus, als empfände das alte Gemäuer, daß es mit ihm zu Ende gehe. Die Mutter erzählte uns, wie sie hier mit ihrem Manne gelebt habe: so glücklich, daß sie niemals gesehen, wie niedrig die Decken seien und wie kahl die weiß getünchten Wände. Es war zum erstenmal, daß sie in solcher Art von ihrer Vergangenheit sprach. Ich rückte ihr zu, umfing sie mit beiden Armen, legte meinen Kopf an ihre Brust, und belauschte ihr klopfendes Herz. Auch von meiner Großmutter erfuhr ich an jenem Abschiedsabend zum erstenmal. Nachdem mein Vater gestorben, hatte sie ihrer Tochter – nicht vergeben, sondern eine kleine Jahresrente ausgesetzt, die aber nicht angenommen worden war. Jetzt wußte meine Mutter nicht einmal, ob sie noch lebte.

Nie vergesse ich, mit welchem stummen Spiel Luise diese Erzählung begleitete. Zuletzt lief sie in ihre Kammer, wo wir sie sonderbare unartikulierte Laute ausstoßen hörten, so daß die Vermutung nahe lag, sie habe, um ihre laute Rührung zu ersticken, den Kopf unter ihre sämtlichen Betten gesteckt.

Am nächsten Morgen ganz früh gingen wir drei noch einmal durch alle Räume. Von unserem Altan pflückte ich mir eine Ranke ab, deren fast zu Staub zerfallenes Laub bei jenen Lorbeerkränzen liegt, die mir durch ihre Spender teuer, ja heilig sind. Als wir unser Häuschen verließen, begriff ich, daß eines Menschen Heimat dort sei, wo er als Kind in unsäglichem Glücke gespielt hat.

 

Das grüne Laub meiner Kindheit verwelkend mit mir forttragend, begann unser neues Leben, das sich mir zum erstenmal in einer weiten, weiten Welt liegend zeigte.

Recht grau lag die Zukunft vor uns. Unser guter alter Gärtner war auch mit seinem Mietzins weit hinter der neuen Zeit zurückgeblieben: mit der kleinen Summe, für die wir unser Häuschen bewohnten, hätten wir kaum eine Dachkammer bezahlen können. In dieser schweren Lage sollte uns von einem guten Menschen unerwartet eine Hilfe kommen, die mit einem Schlage unser äußeres Geschick zum Besseren wendete.

Da man das Gute und Edle nennen soll, wo man ihm begegnet, will ich das hier tun.

Meine Mutter hatte einen Jugendfreund, dem sie herzlich zugetan war; er aber liebte sie. Wäre mein Vater nicht gekommen, so würden die beiden ohne Zweifel ein Paar geworden sein und gewiß ein recht glückliches. So jedoch gestaltete sich alles anders. Drei Menschen wurden unglücklich und es schien, als könne keinem von ihnen geholfen werden. Viele Jahre lang blieben meine Eltern sich einander getreu – sein ganzes Leben lang blieb das jener edle Mann seiner Jugendliebe. Sobald er von der Neigung meiner Mutter zu einem andern unterrichtet worden, hatte er die Stadt verlassen und sah die Geliebte erst wieder: das eine Mal als glückselige Gattin, das andere Mal als trostlose Witwe. Wiederum nach Jahren bot er, als er glaubte annehmen zu können, daß die Zeit auch an meiner Mutter ihr Wunder getan, der noch immer heißgeliebten Frau seine Hand an. Das zweite Nein, womit sie ihm antworten mußte, war für sie ein viel schmerzlicheres, als es das erste gewesen. Dennoch blieb er meiner Mutter ergebener Freund. Einmal des Jahres erhielt jedes vom andern einen langen Brief. Doch wurde des Freundes Name nie in unserem Hause genannt, so daß ich von allem, was ich hier erzähle, erst in viel späteren Zeiten erfuhr, als meine Mutter schon alt und er schon tot war.

Nie hatte der getreue Mann, der für überaus reich galt, sich gestattet, der Mutter eine Unterstützung anzubieten. Sein Zartgefühl ging so weit, daß er sich sogar das Glück versagte, ihrer Tochter Geschenke zu machen. Als dann infolge des Aufgebenmüssens unseres Häuschens unsere Lage mehr als sorgenvoll zu werden drohte, bot er, der stets von allem, was uns anbetraf, genau unterrichtet war, der Mutter ein kleines Darlehen an. Wohl fühlend, daß diesem Mann gegenüber jeder Stolz tiefes Unrecht gewesen wäre, ließ meine Mutter sich von ihm helfen, zugleich darauf bedacht, wie sie mit dem kleinen Kapital sich und ihrer Tochter einen Lebensunterhalt zu schaffen vermöchte. Sie teilte dem Freund ihren Vorsatz mit. Dieser billigte ihn, worauf meine Mutter daran ging, ihn auszuführen, und zwar – wie gleich gesagt sei – mit vollem Erfolge.

In der Nähe der Universität wurde eine geräumige Wohnung genommen, ausmöbliert, um sodann in einzelnen Zimmern vermietet zu werden. Bei der ungemein günstigen Lage und dem Wesen meiner Mutter dauerte es nicht lange, bis alles von jungen Studenten aus guter Familie besetzt war. Diese Herren wohnten nicht nur bei uns, sondern hatten sich auch bei der Mutter oder richtiger: bei Luise in Kost gegeben. Zwar bekamen auch jetzt die fleißigen Hände meines Mütterchens keine Ruhe, aber das Gebet um unser tägliches Brot konnte doch leichteren Herzens getan werden. Über mich ward auf den Rat wohlwollender Männer beschlossen, daß ich mich zur Lehrerin ausbilden solle.

Ein einziger Abend in meinem Leben wurde jedoch die Ursache, daß ich über mich und mein Leben eigenmächtig entschied.

Da die Erwähnung dieses Ereignisses erst hier geschehen sollte, muß ich noch einmal in unser Häuschen zurückkehren – wie gern!

Es war kurz vor meiner Einsegnung und unserem Auszug gewesen, als ich zufällig in einem Zeitungsblatt die Notiz las, daß »meine« Tragödin ihrer schwächlichen Gesundheit wegen beabsichtige, sich gänzlich vom Theater zurückzuziehen. Als Iphigenie trat sie zum letztenmal auf. Nach beendigter Lektüre, schien mir undenkbar, weiter leben zu können, ohne dieser Abschiedsvorstellung beigewohnt zu haben. Ich überlegte also, wie ich es anfangen sollte, meinem jungen Dasein längere Dauer zu verleihen. Eine herzliche Bitte an die Mutter wäre das einfachste gewesen, mich vor irgendeiner schrecklichen Todesart zu bewahren. Aber gerade damals kam mir's vor, als ob des Nachts das trübe Lampenlicht in ihrem Zimmer besonders lange brenne. Ich mußte mir diesmal selber helfen. Nachdem ich einige Tage recht trübselig herumgeschlichen, bekamen die Mutter und Luise Gelegenheit, sich höchlichst über meine ausgelassene Heiterkeit zu wundern, zu der kein Grund vorhanden schien. Denn in jeder freien Stunde saß ich, schrieb und schrieb; ja, ich mußte sogar um Erlaubnis bitten, einige halbe Nächte hindurch aufbleiben zu dürfen: der deutsche Aufsatz sei dieses Mal auch gar so schrecklich lang. Endlich war die schriftliche Herkulesarbeit glücklich zu Ende gebracht. Nun hätte die Mutter gern erfahren, was für eine Weisheit ihr Töchterchen auf so viele Bogen ausgekramt habe. Doch das Töchterchen machte ein geheimnisvolles Gesicht, die gute Mutter bekam Küsse in Überfluß, aber weiter auch nichts. Fröhlich begab ich mich an diesem Tag in die Schule.

»Nun, was hat denn der Lehrer zu der Wissenschaft meiner Tochter gesagt?« ward die Zurückkehrende von der Mutter befragt.

»Daß deine Tochter eine leidlich gute Schrift habe,« erhielt sie mit erkünstelter Gleichmut erwidert. Dann brach es aber doch jubelnd aus mir heraus und meine zarte Mutter mußte sich gefallen lassen, immer von neuem stürmisch in die Arme geschlossen zu werden.

An diesem selben Nachmittag mußte ich von Luisens Lippen öfters die pathetische Versicherung hören, daß ich »wieder einmal« ganz verdreht sei! Alle Augenblicke sprang ich hinaus in den Garten, um dort, hinter Gebüschen und Sträuchern versteckt, stets wieder und wieder Geld zu zählen: meinen ersten Verdienst! Wobei ich immer glückselig vor mich hinmurmelte: »Es reicht, es reicht!«

Der Erwerb dieses klingenden Glückes, war mir dadurch möglich geworden, daß ich abgeschrieben hatte.

In meiner Schule befanden sich viele Töchter unbemittelter Eltern. Da kam es denn oft vor, daß man sich an den Lehrer wandte, ob dieser keine Schülerin mit guter Handschrift zum Kopieren empfehlen könne? Ich hatte mich bis dahin nicht gemeldet, weil in meiner Klasse mehrere Mädchen waren, die weit bedürftiger als ich. Aber jetzt mußte ich Geld haben. Ich trug dem mir sehr wohlwollenden Lehrer meine Bitte vor, und da ich wirklich recht zierlich schrieb, erhielt ich auch sofort einen Auftrag. Ganz frech hatte ich vorher die Bedingung gesetzt, daß ich das Geld zugleich mit der Ablieferung erhalten müsse. Nun hatte ich's!

Der nächste Sonntag war der große Tag der Abschiedsvorstellung. Am Abend vorher sagte ich zur Mutter: »Morgen muh ich sehr früh fortgehen.«

»Aber, Kind, die Kirche fängt ja erst um neun Uhr an.«

»Ich kann morgen nicht in die Kirche gehen.«

»Wohin willst du denn?«

»Das sollst du morgen mittag erfahren. Sei nicht neugierig, Mütterchen und laß mich gehen.«

»Wenn du's durchaus für nötig hältst. Aber ich gebe dir Luise mit.«

»Wo denkst du hin? Luise muß ja über die Predigt des Herrn Pfarrers Müller schluchzen und sich über den neuen Hut der Bäckersfrau ärgern. Ich muß durchaus allein gehen.«

Erst am Nachmittag kam ich zurück, mit glühendem Gesicht, aber nicht die geringste Müdigkeit verspürend. Viele Stunden hatte ich vor der Kasse des königlichen Schauspielhauses mich herumstoßen lassen. Welche Angst stand ich während der ganzen Zeit aus, kein Billett mehr zu bekommen! Um mich her wurde nur davon geredet, wie voll es heute abend sein werde und was für ein Ereignis diese Vorstellung sei. Jeder, der so glücklich war mit einer Einlaßkarte den Ausgang zu gewinnen, wurde angerufen und gefragt: ob noch Hoffnung wäre, diesen oder jenen Platz zu erlangen. Das entmutigende Achselzucken, die wichtigen Mienen, die bedenklichen: Vielleicht! und: Möglich! waren für mich geradezu furchtbare Zeichen und Worte. Dabei machte mich noch eine andere Empfindung ganz fassungslos: Was muß es sein, zu wissen, daß dort die Menge sich drängt, um dich, du Glückselige, spielen zu sehen!

Aber glücklich war auch ich: ich erhielt Billette, drei Stück, numerierter Platz, dritte Galerie. Ich glaube, es waren die letzten.

Überlaut brach mein Entzücken aus, als beim Mittagessen die Mutter und Luise auf den Tellern unter ihren Servietten, von Blumen bedeckt, ihre Karten fanden.

Von der Vorstellung selbst spreche ich nicht. – – Eine große Schauspielerin zu werden, einmal, ein einziges Mal in meinem Leben das zu empfinden, was die Tragödin empfinden mußte, als sie vor einem Publikum, das außer sich war, die Iphigenie spielte – ein ganzes langes, durch Liebe und Glück verklärtes Dasein hätte ich für eine einzige solche Stunde dahinwerfen mögen, unter Verzicht auf jedes Glück, unter Entsagung alles dessen, was uns sonst das Leben als hohes Gut schätzen läßt.

Wie Iphigenie hatte ich meiner hohen Göttin dienen wollen. – Nein, nicht wie Iphigenie! Des Agamemnon hehre Tochter diente der Göttin »mit stillem Widerwillen«. Eine bessere – eine heilige – Priesterin, hätte ich meine Arme erhoben: großen und gütigen Göttern zu danken, daß sie mich gewürdigt, die Opferflamme zu nähren. Denn:

Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weit verbreitete, gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen, ewigen Himmels
Mitgenießendes, fröhliches Anschauen
Eine Weile gönnen und lassen.


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