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Elftes Kapitel.

Ohne Ruhe und Maß.

Wir hatten verabredet, der Mutter die Aussicht bezüglich der Hofbühne noch gänzlich zu verschweigen. Es hätte sie doch sehr aufgeregt und bis jetzt war ja alles nur ein schöner Traum. Wie wir zwei die Freude der Hoffnung allein trugen, wollten wir nötigenfalls auch den Schmerz der Enttäuschung allein überwinden.

Während der nächsten Tage sah ich den Freund nur an unserm Mittagstisch. Hier übte seine Gegenwart indessen nicht den geringsten Zwang auf mich aus. Ich verkehrte mit den Herren in meiner alten, frohen Weise weiter.

Seine Vorlesungen hielten Fernow ab, dem Vortrag über Schiller einen zweiten über seinen Liebling Lessing folgen zu lassen. Mir war es recht, da ich dem Freunde eine kleine Überraschung zugedacht hatte. Ich schloß mich den ganzen Tag in mein Zimmer ein und studierte, daß ich am Abend förmlich fieberte. Als er mir eines Mittags sagte, daß er in der Dämmerungsstunde zu mir kommen werde, hatte ich meine heimliche Vorfreude.

Laßt mich euch an jenem Nachmittag die junge Rolla, den Freund erwartend, in ihrem Zimmer zeigen.

Es ist ein Hinterstübchen; nur durch Luisens Küche gelangt man hinein. Sein einziges Fenster sieht auf einen schwermütigen Hof, an den ich noch heute mit stillem Glück zurückdenke: auch hier hatte Mutter Natur meine Jugend mit Grün geschmückt! An meinem Fenster sitzend, blicke ich nicht auf nackte Mauern hinaus, sondern auf hohe, düstre Efeuwände. Seit hundert Jahren mochte das Gerank in fester Umstrickung das Mauerwerk umschließen; denn jeder Fleck der dreistöckigen Häuserwände ist dicht von ihm umschlungen und im Herbst schimmert in dem dunklen Laub die heilige, bacchantische Eppichtraube. Schwärme von Sperlingen nisten in dem dichten Gezweig, freche Gesellen, die sie sind, bereits beim Morgengrauen, den Schläfer aus dem Traum zwitschernd. Mögen in der Welt Frühlingsblumen erblühen, oder der Frost seine eisigen Ranken an die Scheiben hauchen; immer gleich grün und hoffnungsvoll, sehe ich es von meinem Fenster aus und lasse meine Gedanken mit dem lustigen Vögelvolk von Blatt zu Blatt huschen.

Und wie traulich ist es drinnen!

Da ist vor allem mein kleiner Schreibtisch, mit dem Bild meines Vaters und der Büste meines Dichters, für deren beider Schmuck der Efeu draußen immer frische Ranken hergeben muß! Da ist mein kleiner Bücherschrank in einer Nische, die gleichfalls immergrüne Ranken umziehen, ein kleines Sofa, mit großgeblümtem Wollendamast bezogen, die beiden Rohrlehnstühle; dann der Blumentisch, mein größter Stolz und der alte Teppich, meine höchste Pracht. Mein ganzes liebes Stübchen seh ich wieder vor mir und ich sehe darin mich selbst: im hellen Kleid, die braune Flechte als einzigen Schmuck. In der Küche höre ich Luisen poltern, auf dem Hof die Sperlinge zwitschern. Auch der Brunnen rauscht. Ich gehe auf und nieder, leise vor mich hinredend und gewiß wie in Verzückung aufschauend. So erwarte ich den Freund und – da kommt er!

Ich empfange ihn mit der Bitte, sich zu setzen; ich wolle ihm etwas vorsprechen.

Er fragt nicht, was es sei und nimmt schweigend am Fenster Platz. Das trübe Zwielicht, das in die kleine Stube hineindämmert, ist gerade die rechte Stimmung dafür. Wie er so vor mir sitzt, halb von mir abgewendet, deucht mir sein edles, blasses Gesicht, in die Schatten der Nacht getaucht, fast schön. Nach einer langen Stille, in der ich mich sammle, trete ich noch mehr zurück; dann beginne ich – die Orsina.

Plötzlich wußte ich nichts mehr von mir.

Als ich wieder zu mir kam, war es hell im Zimmer. Aber nur der Freund befand sich bei mir. Er hatte mich auf das Sofa gelegt und beugte sich tief über mich. Wie ich die Augen aufschlug, sah ich ihm gerade in die seinen.

Als er bemerkte, daß ich ihn gewahrte, änderte er seine Miene.

»Was ist mit mir vorgegangen?«

Zugleich richtete ich mich auf und fühlte eine große Mattigkeit.

»Was mit uns vorgegangen ist? Nichts Besonderes. Nur, daß wir die tolle Gräfin etwas zu toll spielten. Es schadet uns aber nichts. Im Gegenteil: es wird uns guttun; das nächste Mal werden wir viel sänftiglicher mit uns umgehen. Jetzt sind wir noch etwas schwach, aber morgen wollen wir die große Nutzanwendung aus der Sache ziehen. – Nein, ich muß Sie bitten, ruhig liegen zu bleiben: Strafe muß sein! Auch wird man sich Eisumschläge gefallen lassen müssen; aber ich ersuche dringend, erst morgen bereuen zu wollen. – – Herrgott, da kommt Luise von ihrem Butter- und Eiereinkauf zurück. Ich muß es allein mit ihr ausmachen: Einen Augenblick, liebe Rolla.«

Ich merkte kaum mehr, daß er mich verließ. Als ich das zweite Mal wieder zu mir kam, lag ich im Bett und die Mutter und Luise befanden sich bei mir. Die Mutter machte mir mit sanfter Hand kalte Umschläge, welche Funktion Luise mit herzbrechendem Seufzen begleitete. Ihr Gesicht kam mir wieder einmal beängstigend rosenrot vor.

Ich phantasierte die ganze Nacht und soll gar nicht von der »tollen Gräfin« fortzubringen gewesen sein, wobei ich Luise immer als Marinelli behandelte. Diese entsetzte sich dermaßen, daß sie endlich in ihre Kammer lief, sicher um ihren Kopf unter die Betten zu stecken. Noch eine Woche später belauschte ich sie einmal in der Küche, wo sie beim Spicken eines Kalbsbratens pathetisch die Szene memorierte.

So machte denn auch Luise, freilich höchst unfreiwilligerweise, Lessingstudien.

Wir kamen dieses Mal mit dem Schreck davon.

Bereits am nächsten Vormittag konnte Fernow seine Patientin auf dem Sofa finden. Ich war noch immer sehr matt und fühlte mich etwas beschämt. Fernow jedoch war harmlos heiter; wie mir schien, sogar etwas satirisch.

Nachdem er mir den Puls gefühlt, begann er: »Sie können meine Strafpredigt bereits ganz gut vertragen, ich brauche Sie nicht einmal zu ›schonen!‹ – – Aber, beste Rolla, was für Streiche?! Ist es denn schon gar so lange her, daß ich Ihnen Ihre sechzehn – Verzeihung: Ihre siebzehn Jahre zum Vorwurf gemacht?! Siebzehn Jahre und dann eine Gräfin Orsina? Sechs Ladies Milford wären leichter zu ertragen gewesen! Haben Sie denn nicht gewußt – nein, natürlich nicht! – haben Sie denn gar nicht geahnt, daß sich an der Orsina eine Dreißigjährige um den Verstand spielen kann! Sie müssen wirklich Charlotte Ackermann lesen, oder die traurige Geschichte von der armen Aurelie. Womit kann ich Ihnen nur gleich so recht angst machen?«

»Verzeihen Sie nur. Ich will es auch gewiß nicht wieder tun,« bat ich, schwach lächelnd. Fernow seufzte.

»Wären Sie jetzt doch einer meiner Studenten; da könnte ich Ihnen eine so schöne Vorlesung über Pathologie halten und alles wäre abgetan. Ich würde Ihnen säuberlich ein menschliches Herz und ein menschliches Hirn vorlegen und dann wundervoll drauflos dozieren. Das alles geht nun nicht. So wie die Sache steht, muß ich wohl oder übel Pathologie Pathologie sein lassen und Ihnen als junger, modernen Dame von Ihren Nerven reden.

Liebe, junge Freundin, Sie können eine große Künstlerin werden, denn Sie besitzen eine so erschreckend große Phantasie; eine Einbildungskraft, wie sie mir bis dahin noch nie vorgekommen. Das wäre nun alles wunderschön, wenn Sie nicht bewußte unangenehme Nerven hätten, die bei Ihnen, sehr reizbare Damen, einmal großes Unheil anrichten können.

Ich gebe Ihnen, wie Sie sehen, keine Medizin, sondern Wahrheit, die Sie ohne Zweifel sehr bitter finden werden. Trotzdem muß ich Ihnen von dieser Mixtur verabreichen, bis Sie davon die notwendige radikale Wirkung erfahren. – – Wissen Sie, daß Sie alle Anlagen haben – erschrecken Sie nicht, oder ja: erschrecken Sie nur! – eines schönen Tages nach einem unvernünftigen Spiel, entweder am Gehirnschlag zu sterben oder mir nichts dir nichts von Sinnen zu kommen? Starren Sie mich nur an, ich kann Ihnen nicht helfen.

Das darf nicht länger so fortgehen. Sie haben entschiedenes Talent zur Selbstmörderin und betreiben die Vorbereitungen dazu auf wahrhaft raffinierte Weise.

Ich sprach vorhin von der Möglichkeit, daß Sie bei einem völligen Entfesseln Ihrer Affekte eine große Künstlerin werden könnten – ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich meinte: eine große Kunstspezialität. Denn ein großer Künstler ist nur derjenige, der auf das souveränste seine Affekte beherrscht; Sie jedoch lassen sich von Ihren Affekten beherrschen. Ein großer Künstler behandelt seine Rolle wie ein großer Bildhauer seinen Marmorblock: die Hand muß den Meißel so fest und sicher führen, daß die Gestalt, welche sich dem Stein entwindet, auf das genaueste gerade die Form annimmt, die der Künstler zu bilden beabsichtigte. Bei Ihren Gestalten, liebe Rolla, ist von einer solchen Meißelführung noch gar nicht die Rede. Sie haben das mächtige Material unter den Händen und wissen nicht, was Sie damit anfangen sollen. Ebensowenig verstehen Sie Ihre Handwerkszeuge zu gebrauchen. In schönster Bewußtlosigkeit bilden Sie darauflos. Da Sie talentvoll sind, wird auch etwas daraus; aber bei dem Bilden einer Ariadne zum Beispiel hängt es bei Ihnen ganz vom Zufall ab, ob eine Bacchantin oder eine Mänade daraus wird. Sie schaffen in der Stimmung eines Augenblicks, in dem Sie beinahe somnambül sind. Das Resultat mag das Publikum und den Schauspieler selbst in Erstaunen setzen, aber die wahre Kunst ist es eben doch nicht.«

»Und da wissen Sie nicht, womit Sie mir so recht von Herzen angst machen sollen?! Armer Freund! Sie wollen Ihrer Patientin so gern helfen, aber ich sehe nicht ein, wie Sie mir helfen können

»Sie werden erleben, wie ich es kann. Ihre Konstitution ist trotz alledem prächtig. Wir bringen Sie durch! Sehen Sie, dieses Lächeln kam Ihnen schon ganz frisch vom Herzen. – – Sie sollen ja durchaus keine Schauspielerin werden, die, nachdem sie die Medea gespielt, Austern ißt und Sekt schlürft, als ob sie eben einen Kotillon getanzt habe. Künstlerinnen, die mitten in ihren leidenschaftlichsten Momenten noch eine Empfindung für den Fall ihrer Schleppe oder für die Dekoration ihres griechischen Mantels haben, sind mir abscheulich! Nein: seien Sie nach Ihrer Medea gründlichst erschöpft, das kann Sie nur ehren. Aber um Gottes willen nicht dieses nutzlose Hinströmenlassen von Lebensblut. Die ersten Regeln Ihrer Kunst sind: Ruhe, Ruhe! Maß, Maß! Ohne Ruhe und Maß ewig Schüler und Pfuscher – mit Ruhe und Maß Künstler und Meister.

Und glauben Sie mir nur: mit einer solchen mächtigen Beherrschung – sie ist schwer, sie ist das Schwerste! – werden Sie dann Wirkungen erzielen, die Sie bis jetzt noch gar nicht zu ahnen vermögen. Sind Sie einmal erst so weit gelangt; völlig ruhig und gelassen einer gewaltigen Leidenschaft vollen Ausdruck zu geben; dann sollen Sie sehen, wie Sie das Publikum hinreißen werden! Dann sollen Sie erleben, wie ein ganzes Haus an Ihren Lippen hängen wird, wie Sie die Seelen von Tausenden erbeben und erzittern machen!«

Jetzt hingen meine Augen an seinen Lippen, jetzt machte er meine Seele erzittern. Ich konnte nicht reden, aber ich richtete mich auf und fühlte mich bereit, jene göttliche Ruhe und jenes schöne Maß mir zu eigen zu machen und wäre es auch durch ein Martyrium.

 


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