Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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»Passen S' auf... sagen S' dem Herrn Schnaase, er möcht' an Aug'nblick in Gang raus kommen... ich muß'n dringend sprechen, sagen S' ihm...«

Die Kellnerin richtete es aus, und Schnaase folgte etwas unwillig dem Ersuchen.

Er kam mit vollen Backen kauend, die Serviette vorgebunden, in den Hausgang.

»Brr! Donnerwetter, das zieht abscheulich! Mit was kann ich dienen, Herr Präsident?«

»Sie entschuldingen, Herr Schnaase, daß ich Sie da belästigen muß. Aber die Fanny, 's Zimmermädel, bringt so a dumms G'red daher, daß Herr Schnaase heut abreisen...«

»Stimmt.«

»Ja... i...«

»Das dumme Gerede stimmt, verehrter Herr Präsident. In ner Stunde fahren wir ab.«

»Ja, jetzt weiß i net, was i sag'n soll... Was is denn nacha mit unsern Fest?«

»Mit unserm Fest – nischt. Soweit ich in Betracht komme. Aber Ihr Fest können Se ruhig abhalten.«

»Aber Sie hamm 's doch selber verschob'n! Weg'n der bsondern Nummer, die wo Sie in petto hamm.«

»Hatte, müssen Se sagen, Herr Natterer. Die Nummer liegt nu wirklich im betto. Die Primadonna is unpäßlich. Tut mir leid, aber das kommt bei den besten Ensembles vor... Es is nu mal nich zu ändern.«

»Jetzt weiß i nimmer, was i sag'n soll. Es war do all's ausg'macht...«

»Und wär' auch fein geworden, lieber Natterer. Wir hätten das schon gedeichselt. Aber die Pflicht ruft, und da is nischt gegen zu machen. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Vergnügen un besten Erfolg... Nu entschuldigen Se mich aber, es zieht verdeibelt, un ich habe sowieso 'n Schnuppen, un meine Leute warten. Also auf Wiedersehen! Meine Stimme im Afko trete ich hiemit feierlich an Sie ab. Mahlzeit!...«

Natterer sah dem freundlichen Manne ingrimmig nach.

Mit Wut im Herzen ging er aus der Post.

»Sprecher, miserabliger! Spruchbeutel, nixnutziger!« murmelte er vor sich hin.

Daheim packte er die Statuten, Gründungsprotokolle, Sitzungsprotokolle, die Programmentwürfe und Briefe samt dem blauen Aktendeckel, der die Inschrift Afko trug, zusammen und eilte in die Küche.

Er drängte Wally vom Herde weg und warf die Arbeit vieler Stunden, die Beweise seiner Mühen ums öffentliche Wohl, zornig ins Feuer.

»Was tuast denn?« rief die erschrockene Frau.

»Aus is und gar is, und g'redt werd gar nix...«

»San dös de Papiera von...«

»Aus is, hab' i g'sagt, und koa Frag' gibt's net.«

Er ging hinaus und warf die Türe schmetternd hinter sich zu.

* * *

»Siehste«, sagte Schnaase, als er sich wieder neben Karoline setzte, »nu hätten wir doch noch ne Woche hier bleiben sollen. Die italienische Nacht kann ohne uns nich stattfinden...«

»Hat man dich deshalb hinausgerufen? So ne Zumutung!«

»Rege dich nich unnütz uff! Ich habe natürlich abgewunken. Und ich muß sagen, wie der Mann klein wurde, das hat mir ne gewisse Befriedigung verschafft. Denn nu biste gerächt, Karline. Weil er dich doch wirklich unerhört betimpelt hat mit seine Voralpen und Höhenluft. Nu wollen wir zahlen...«

Die Familie brach geräuschvoll auf. Fanny mußte kommen, und Stine wurde noch mal hinaufgeschickt, um die kleine Tasche zu holen, und die Handschuhe und... »Stine! Stine! Fräulein Henny hat ihren Schleier auf dem Sofa liegen...« Was die Person bloß hatte?

Den ganzen Morgen ging sie mürrisch herum, und rot geweinte Augen hatte sie, und als man so und so oft nach ihr gerufen hatte, fand man sie in ihrem Zimmer weinend beim Briefschreiben.

Ach ja! Was wußte die Familie Schnaase von einem gebrochenen Herzen oder von dem Liebreiz eines altbayrischen Schlossers und Piganiers, den Stine Jeep aus Kleinkummerfelde – ochott! – nu so ganz ohne Abschied und letzte Zärtlichkeit verlassen mußte, und den sie nur mehr brieflich ermahnen konnte, treu zu bleiben und jeden Tag eine Postkarte zu schreiben?

Die Familie Schnaase wußte nicht, wie Scheiden und Meiden der armen Stine so weh tat.

Doch hörten auch Karoline und Henny schwere Abschiedsseufzer.

Herr von Wlazeck sagte ihnen, daß er fassungslos sei.

»Ich bidde, meine Damen, das is doch ein Schlag aus heiterm Himmel! Wie ich heite herunter gekommen bin und diese schlimme Nachricht erfahren habe, war ich färmlich beteibt. Man fühlt die Greße des Glickes erst, wenn es entschwindet. Ich kann jetzt mit dem bekannten Dichter sagen, daß die schönen Tage von Aranjuez vorieber sind. Sie gehen und ieberlassen den Armen der Pein, das heißt der Gesöllschaft des Herrn Dierl. Das ist grausam! Gestatten wenigstens diese Blumen. Es war alles, was hier aufzutreiben war...«

Schnaase suchte derweilen den Posthalter Blenninger, von dem er noch nicht Abschied genommen hatte. Aber er war nirgends zu finden, und als Fanny zuletzt den Hansgirgl fragte, wo denn der Herr bloß sein könne, wurde sie mit auserlesener Grobheit abgewiesen.

Der Blenninger saß aber im Stalle auf der Futterkiste, und er hatte dem Hansgirgl befohlen, das Geheimnis zu wahren, weil er verborgen bleiben wollte, denn das Gesurrm konnte er nicht anhören.

»Das is wieder mal echt!« sagte Schnaase, der selbst im Hofe Umschau hielt.

Da trat der Kanzleirat heimlich und rasch an ihn heran und drückte ihm einen Zettel in die Hand. Bevor sich Schnaase von der Überraschung erholt hatte, war Schützinger weggeeilt.

Er schlich auf Seitenwegen zum Bahnhofe. Seinen Koffer hatte er dem Martl gegeben.

Schnaase öffnete den Zettel und las: »Schonen Sie mich!«

»Nanu! Verrückt un drei macht neine. Der hat 'n Triller.«

* * *

»Nischt zu machen. Der Posthalter bleibt unsichtbar«, sagte Schnaase. »Dieses Gegenteil von einem Europäer is wenigstens konsequent.«

»Mach' endlich zu!« rief Karoline ungeduldig. »Hobbes sind schon an die Bahn, und du stehst noch hier und wartest.«

»Also los! So leb denn wohl, du stilles Haus, un Fräulein Fanny, sagen Sie dem Posthalter, ich hätte mir zu gerne noch mal seine ansprechenden Züge ins Gedächtnis geprägt, aber es hat nicht sollen sein. Und sagen Se ihm, ich werde ihn rekommandieren als Gasthof zum bair'schen Hiesel oder zum Kanadier ohne übertünchte Höflichkeit, und, paßt mal Obacht, denn fängt's erst an mit de Fremden aus preußisch Berlin! Au reservoir! Adchees, Kinner!...«

Er winkte fröhlich mit der Hand und eilte seinen Damen nach, die mit Herrn von Wlazeck schon vorausgegangen waren.

Am Bahnhofe kam noch ein herzlicher Abschied vom Martl, der die Koffer hingefahren hatte.

Zuerst erhielt er ein Trinkgeld, und es fiel so aus, daß er zufrieden brummte und die Haube rückte.

Und dann sagte Schnaase: »Sehen Se, verehrtester Herr Urbaier, das mit 'm Gepäck haben Se nu schon raus, daß man's bringt un holt. Mit der Zeit werden Se auch noch begreifen, daß man für schwarze Stiebel schwarze Wichse un für gelbe Stiebel gelbe Wichse nimmt, und wenn Se das erst richtig intus haben und von Ihrem Herrn Posthalter noch 'n Happen Liebenswürdigkeit abkriegen, denn werden Se 'n großartiger Hotelportier, und wenn der Posten bei Adlong frei wird, will ich Sie gerne empfehlen. Leben Se wohl und grüßen Se die andern Indianer!«

Martl zog die Oberlippe in die Höhe, und sein Schnurrbart sträubte sich. Aber er fand keine rasche Antwort, und zum Überlegen ließ ihm der damische Hund keine Zeit, denn er stieg gleich ein.

Kurz bevor der Zug abfuhr, schlich der Kanzleirat heran, nahm seinen Koffer von Martl in Empfang und setzte sich abseits in den zweiten Wagen.

Ängstlich spähte er durchs Fenster, ob nicht doch noch der wütende Schlosser herbeieilte und auch von ihm Rechenschaft verlangte.

Er atmete auf, als sich der Zug in Bewegung setzte, und als sich Täler und Hügel zwischen ihn und die Stätte seiner Verfehlung legten.

Es war eben doch etwas anderes, einem Ministerialrat frivole Geschichten nachzuerzählen, als sie selbst zu erleben. Indessen Martl seinen Karren mißmutig heimschob und darüber nachdachte, was er den Berliner alles heißen hätte müssen, und indessen Herr von Wlazeck sich über die entsetzliche Leere klar wurde, die ihn angähnte und die einem Manne, der die Venus zum Leitstern erkoren hatte, so fühlbar sein mußte, indessen Stine mit umflorten Augen den Kirchturm, der so nahe bei einer gewissen Schlosserei stand, verschwinden, noch einmal auftauchen und wieder verschwinden sah, faßte Herr Schnaase das Gesamtergebnis zusammen.

»Und nu gib mal zu, Karline, eigentlich war's doch 'n Reinfall. Ich habe ja dir zuliebe geschwiegen, aber wenn ich an allens denke, dann frage ich mich, wie konnten wir auf das Schwindelinserat fliegen, und wie sind wir uns in diesem hinterbaierschen Neste vorgekommen?«

»Du hast mir zuliebe noch nie geschwiegen«, erwiderte Karoline. »Und wenn du schon nich imstande bist, den Zauber der Einsamkeit und des tiefen Friedens zu empfinden, so mußt du doch nich bei andern die gleiche Gefühllosigkeit suchen.«

»Aber nu biste doch gründlich entzaubert?« fragte Schnaase.

Da wandte sich Karoline von ihm ab und seufzte.

Denn schon auf der Fahrt nach Berlin war sie dabei, die Altaicher Tage zu einem entschwundenen Märchen zu gestalten und sich in Sehnsucht nach dem fernen Glücke einzuleben.

In der andern Ecke des Wagens saßen Horstmar und Mathilde Hobbe; Tildchen ihnen gegenüber.

Sie sahen zum Fenster hinaus.

Äcker, Wiesen, Wälder huschten vorüber. Braune Flächen, grüne Flächen, Bäume. Hier hausten Menschen im trostlosen Einerlei, gingen hinterm Pfluge, trieben Tiere, gingen zum Essen, gingen zum Trinken, Tag um Tag, Woche um Woche. Einmal in ihrem Leben fiel Helligkeit in dieses Dunkel.

Ein hoher Geist war unter sie getreten, aber sie wußten es nicht. Sie ahnten es nicht.

Horstmar fuhr aus tiefem Sinnen auf.

»Hast du es?« fragte er ängstlich.

»Ja, Liebster«, antwortete Mathilde und deutete auf die Ledertasche an ihrer Seite.

Und dann blickte sie mißbilligend auf das große, hübsche Mädchen, das an einem Fenster stand und unweiblich vor sich hin pfiff.

An was Henny dachte?

An Altaich oder an Berlin?

An stilwidrige Beinkleider oder an Breeches?

Oder an einen Bräutigam und an eine große Wohnung in Charlottenburg, die man modern möblieren konnte?

Übrigens war es sonderbar, daß der dritte doch nicht gekommen war, nicht mal zum Abschiednehmen.

Und der Zug rollte weiter.

* * *

In Altaich aber kamen nach einer Regenwoche stille Spätsommertage. Es lag wie Feierabend über den abgeräumten Feldern, und was geblüht und Früchte getragen hatte, schien sich behaglich auszuruhen.

Wer es recht verstand, für den war's eine schöne Zeit.

Und Konrad verstand es und gewann die Heimat von einem Tag zum andern lieber.

Daheim aber, wo sich's an den langen Abenden noch behaglicher saß, war ihm Michel ein guter Kamerad.

Der ging nach und nach aus sich heraus und erzählte bessere Geschichten als die vom Patrik Sgean, der am Kaninchenbau dem George Downie eins über den Kopf gegeben hatte. Und erzählte Geschichten von drangvollen Tagen, in denen es sich so nebenher zeigte, was er für ein furchtloser deutscher Mann gewesen war.

Aber das gehörte nicht daher.

Er fühlte sich glücklich bei der Arbeit und lachte fröhlich, wenn zuweilen ein Bauer kam, der einen leibhaftigen Gschlafenhandler sehen wollte.

In der Post war es wie vor dem Gesurrme der Fremdenzeit. Laut und geschäftig am Schrannentag, schläfrig an den andern.

Alle Kurgäste und merkwürdigen Erscheinungen waren fortgezogen. Der Dichter Bünzli schied einen Tag nach der Familie Schnaase; er fuhr mit dem gleichen Zuge wie Mizzi Spera, die sich auf dem Bahnhofe recht kurz von der weinenden Hallbergerin verabschiedete.

Bünzli soll in Winterthur wieder Gerstenschleim und Bärenzucker verkaufen und als ehemals lüderlicher Dichter in einem anreizenden Rufe bei den Mädchen stehen. Herr von Wlazeck kehrte tief verwundet nach Salzburg zurück, wo er an Swoboda und Plachian immer unangenehmere Feststellungen zu machen hat.

Als letzter zog Herr Inspektor Dierl von Altaich ab. Auch als der einzige, der wiederkommen wollte. Der Blenninger Michel steht an guten und schlechten Tagen unterm Haustor mit den Händen in den Hosentaschen, und wenn ihm Natterer unterkommt, verfehlt er nie, zu fragen:

»Was is na g'wen mit dein Summafest?«

Und jedesmal gibt es dem rührigen Manne einen Stich und erinnert ihn an die schlimmste Enttäuschung seines Lebens.

Für die Hebung des Fremdenverkehrs wollte er nie mehr einen Finger rühren.

Was hatte ihm seine Mühe eingebracht?

Spott und Undank.

Und dazu den unausrottbaren Haß des Hausknechts Martl. Der vergaß es dem hundshäuternen Kramer nie, was der ihm hatte antun wollen, und er sah nie ohne Ingrimm die damische Mütze am Nagel hängen mit der Aufschrift: »Hotel Post«. In ungetrübter Freundschaft aber lebte er mit Hansgirgl, der von Altaich nach Sassau und von Sassau nach Altaich fuhr und seinem Stutz zuweilen eins aufblies. Bald ein trauriges, bald ein lustiges Lied. Am liebsten einen Landlerischen:

»Zum Deandl bin i ganga
De ganze Wocha,
Am Samstag auf d' Nacht
Is ma d' Loata brocha.
Dudel-dudel-dudel-duduliäh
Dudel-dudel-duliäh! –

Und dann ereignete sich noch was Merkwürdiges.

Am Kirchweihmontag saß in Riedering draußen beim Wirt der Xaver einträchtig mit der Fanny beisammen.

Es ist was Spaßiges um ein Mädel und seinen ewigen Zorn. Aber es ist auch was Spaßiges um einen Piganier und seine ewige Treue.


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