Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

Das Gewitter hatte schwere Wolken zusammengeschoben, die sich am andern Morgen träge über Altaich hinwälzten.

Flatternde Fetzen hingen von ihnen herunter, streiften den Knauf des Kirchturms und die Wipfel der Tannen im Sassauer Walde.

Wenn der Regen kurze Zeit aussetzte, fiel er gleich wieder mit verstärkter Wut über den Ort her.

»Brav! So mag i 's...«, sagte Dierl, der griesgrämig zusah, wie es von oben goß, von unten spritzte, aus Dachrinnen gurgelte und in vielgeteilten Bächen den Marktplatz hinunterfloß.

»Bravo! Aber dös Wetter kann mi net lang tratzen. Wenn's net bald aufhört, fahr' i in d' Stadt und spiel' mein Tertl.«

Der Kanzleirat, der neben ihm stand, gähnte. Das trübselige Wetter zeigte ihm wieder einmal, daß Landaufenthalt und Ruhe recht eingebildete Werte waren. Man lügt sich selber an mit diesem Aufatmen nach der Last des Dienstes. In Wirklichkeit bildet eine geregelte Beschäftigung den Inhalt des Lebens, und wo sie fehlt, tritt peinliche Leere ein.

Wäre der Urlaub nicht eine staatliche Einrichtung gewesen, von der man Gebrauch machen mußte, um den Schein der Übermüdung zu wahren, dann hätte sich Herr Schützinger nie von seiner Kanzlei, seinen Akten und dem anheimelnden Geruche des handgeschöpften Papiers getrennt.

Jedes Jahr hatte er das gleiche Gefühl, als stände er im Urlaub außerhalb der kreisenden Staatsmaschine und entbehre die gewohnte rotierende Bewegung.

Und immer wieder verlockte ihn das Beispiel der Vorgesetzten, sich von seinem Behagen loszureißen, um einige Wochen Strafhaft auf dem Lande auszuhalten.

Er war gerade dabei, von seiner Rückkehr in die Kanzlei zu träumen, und er hörte im Geiste den alten Oberschreiber Schmiedinger sagen: »Gott sei Dank, daß S' wieder da san, Herr Rat!«, als ihn ein seltsames Ereignis in lebhafte Unruhe versetzte.

Fanny kam mit einem umfangreichen Pack die Stiege herunter und hielt verdrossen Ausschau nach dem Wetter. Dabei murrte sie darüber, daß man sie und nicht die preußische Hopfenstange bei dem Regen in die Ertlmühle hinunterschicke. Dierl, der immer und überall für unterdrückte Dienstmädchen Partei ergriff, stellte Fragen an sie, und da hörte nun der Kanzleirat, daß Herr Schnaase spät in der Nacht heimgekehrt war, und daß es was gegeben haben müsse, denn die Berliner hätten ihre Rechnung verlangt und wollten auf Schnall und Fall abreisen.

Schützinger wurde von einem heftigen Schrecken ergriffen.

Schnaase war von ihm weg zum Stelldichein gegangen. Das stand fest, denn er hatte das eigene Geständnis des Mannes gehört. Ein Stelldichein hält man während eines scharfen Gewitters nicht im Freien ab; man läßt sich dabei nicht bis auf die Haut durchnässen, so daß man bei fremden Leuten einen Anzug borgen muß. Da lag etwas vor. Da war etwas Peinliches geschehen.

Hatte Schnaase fliehen müssen? War er entdeckt worden?

Die schnelle Abreise sprach dafür. Hatte ihn am Ende der wütende Schlosser in den Bach geworfen?

Die Angst, daß er als Mitschuldiger in die Geschichte verwickelt werden könnte, stieg riesengroß im Kanzleirat empor.

Es gab einen Skandal. Es hatte wahrscheinlich schon einen gegeben, denn Schnaase floh.

Noch gestern hatte er kein Wort vom Abreisen verlauten lassen, noch gestern hatte er – ja, das fiel ihm siedheiß ein – noch gestern hatte Schnaase von dem Sommerfeste gesprochen, das er arrangieren wollte – und heute reiste er ab!

Wenn es einen Skandal gab, kam alles an den Tag, auch der Besuch bei dem zweifelhaften Frauenzimmer, und es wurde publik, daß ein höherer Beamter mit dabei gewesen war.

Schützinger wollte Fanny ausfragen und ganz unbefangen ein Gespräch beginnen.

Aber er schnitt bloß eine Grimasse und brachte keinen Ton aus der vertrockneten Kehle hervor.

Da hatte er es jetzt!

Seit jenem Besuche war er eine innerliche Unruhe nie mehr losgeworden. Er hatte sich's immer wieder gesagt, daß es töricht und verwegen gewesen war.

Er hatte sich auch vorgenommen, unter keinen Umständen die kompromittierende Bekanntschaft fortzusetzen.

Jetzt war es ohne sein Zutun doch noch zum Krach gekommen.

Die Haut prickelte ihn, aber er zwang sich zur Ruhe, um noch mehr zu erfahren.

Dierl machte ihn nervös mit seinen grobschlächtigen Vermutungen über die Ursachen des Kleiderwechsels. Er konnte das nicht mehr mit anhören. Nach einem flüchtigen Gruße schlich er die Treppe hinauf und schloß sich in sein Zimmer ein. Niedergeschlagen setzte er sich ans Fenster und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

War es nicht das richtigste, Herrn Schnaase zu bitten, daß er, komme, was wolle, keinesfalls von jenem Besuche etwas sage?

Er verließ sein Zimmer und kämpfte noch mit seinem Entschlusse, bei Schnaase anzuklopfen, als der Ersehnte auf den Gang heraustrat.

»In Morgen, Herr Rat! Haben Se schon gehört, daß wir reisen?...« Er unterbrach sich, weil ihn Schützinger erschrocken anstarrte und ihm sonderbare Zeichen machte.

»Nanu, was is?«

»Ich weiß alles...«, flüsterte der Herr Rat.

In diesem Augenblicke öffnete Frau Karoline die Türe und rief erregt:

»Gustav! Henny weiß bestimmt, daß du die Schlüssel gehabt hast...«

»Denn sind se im Nachttisch«, erwiderte er.

Er war etwas verwirrt.

Karoline konnte doch was merken, wenn sie den Knautschenberger so geheimnisvoll tun sah.

Was wollte denn der? Ihn ausfragen?

»Entschuldigen Sie«, sagte er kurz. »Sie sehen, ich habe wirklich keine Zeit, 'n Morgen!«

Damit drehte er ihm unwillig den Rücken.

Schützinger sah betrübt, daß er auf eine Aussprache mit dem begreiflicherweise erregten und verstörten Manne nicht rechnen konnte.

Er faßte einen raschen Entschluß, ging in sein Zimmer und packte. Nur fort von hier! So schnell als möglich!

* * *

Bei Hobbes machte sich reges Treiben bemerkbar.

Natterer, der im Laden stand, hörte über der Decke schwere, gleichmäßige und eilende, leichte Tritte. Die schweren rührten vom Professor her, der in seiner Studierstube auf und ab schritt und das Werk der letzten Wochen überdachte.

Es war gut, und mußte so, wie es war, stehen bleiben und in die fernste Zukunft wirken.

Die eilenden Schritte machte Frau Mathilde, die alles Mitgebrachte in zwei große Koffer packte.

Eine lederne Handtasche stand auf dem Tische; sie gehörte für das Manuskript, das für sich allein und ja nicht mit anderen Dingen vermengt nach Göttingen geschafft werden mußte. Es ging auf die elfte Stunde.

Man mußte noch die Miete bezahlen, dann in der Post zu Mittag essen, und kurz nach zwölf ging der Zug.

Mathilde schloß die Koffer ab und kam in den Laden herunter, wo sie die Rechnung prüfte und die Miete, wie den ausstehenden Betrag für Kieler Sprotten beglich.

»Es is wirklich schad'«, sagte Natterer, »daß die Herrschaften wegfahren und unser schönes Fest net mitmachen.«

»Zu schade«, erwiderte die Frau Professor. »Aber Horstmar drängt, denn Sie vers...stehen, nachdem nun doch sein Werk fertigges...stellt ist...«

»Gel'n S' das Werk! I hab' zu meiner Wally g'sagt – Wally, geh außa, d' Frau Professa is da! –, i hab' zu ihr g'sagt, da wer'n mir no öfta dran denk'n, daß da Herr Professa bei uns a Werk g'schrieb'n hat.«

Mathilde lächelte. Der gute Mann sagte in seiner naiven Art eine Wahrheit, die größer war, als er sich's wohl träumen ließ.

Was er heute so nebenher und zufällig wußte, erfuhr morgen die ganze gebildete Welt, und die vergaß es nie mehr, daß in einem bescheidenen Hinterstübchen zu Altaich an der Vils die »Phantasie als das an sich Irrationale« beendet worden war.

Aber wer konnte die Bedeutung dieses Geschehens den Leutchen klarmachen?

Mathilde schwieg und lächelte.

»O mei!« rief die eintretende Wally. »Is 's wirkli wahr? Gengan S' heut scho? No natürli, bei dem Weda...«

»I sag' grad' der Frau Professa, wie schad' 's is, daß de Herrschaft'n unser Fest net mitmach'n.«

»Freili, enker Fest... Hätt' 's as denn net früher halt'n kinna? Na hätt' da Herr Professa no was g'habt davo...«

»Ich hätt's ja auf 'n Samstag scho ang'setzt, aba da Herr Schnaase hat's net zulass'n. Er hat drauf bestanden, daß 's um acht Tag verschob'n werd, weil er a b'sonderne Nummer fürs Programm hätt', hat er g'sagt...«

»Daweil gengan de Herrschaft'n«, jammerte Wally. »Aba natürli, da Herr Professa werd halt Schul' halt'n müass'n...«

»Sei Werk hat er aa firti«, sagte Natterer.

»Ahan... 's Werk. No ja, da werd er froh sei, daß er dös weg hat. Dös laßt si denga. Er is ja so fleißi g'wen, und oft hab' i zu mein Mann g'sagt, wenn's Liacht brennt hat bis zwölfi, wia 's eahm no net z' fad werd, de lange Schreiberei, hab' i g'sagt... no ja... jetz is er Gott sei Dank firti, und Sie möcht'n hoam und Eahna Ordnung hamm, und da Herr Professa werd Schul' halt'n müass'n... dös laßt si denga...«

Mathilde lächelte wieder.

Es ließ sich noch anderes denken. Unendlich Höheres, aber es ließ sich nicht darüber s...sprechen.

»Also nich wahr, Sie sorgen dafür, daß Ihr Mädchen die Koffer pünktlich an die Bahn bringt? Wir sehen uns noch, bevor wir zur Post hinübergehen...«

Mathilde nickte freundlich und ging hinauf, in die Studierstube.

Der feierliche Augenblick war gekommen, da man das Manuskript einpacken mußte. Horstmar nahm es aus der Kommode und wog es beglückt in den Händen.

Die Frau Professor schlug es in starkes Papier ein und wickelte eine Schnur darum.

Tildchen hielt die Ledertasche geöffnet, und dann wurde das Manuskript langsam und sorgfältig versenkt. Mathilde klappte zu und reichte dem Gatten die Hand.

Er stand mitten im Zimmer und blickte ängstlich auf den ledernen Schrein, der sein Köstlichstes barg. »Nu wollen wir aber gehen«, drängte Mathilde.

Sie steckte ihren versonnenen Horstmar in einen Mantel, drückte ihm einen Regenschirm in die Hand, und indes sie die Ledertasche in die Linke nahm, hing sie sich mit der Rechten in seinen Arm ein. Sie gingen.

Aber unter der Türe wandten sich Herr und Frau Hobbe und Tildchen noch einmal um und umfaßten mit einem Blicke den stillen Raum, der die Wiege einer neuen kunstgeschichtlichen Epoche geworden war. Dann erst schritten sie die Treppen hinunter. An der Haustüre standen Natterer und seine Wally.

»Glückliche Reise!« sagte der Hausherr. »Schad, schad, Herr Professa, daß Sie unsa Fest nimmer mitmach'n... Vielleicht kommen S' im nächst'n Jahr wieda und schreib'n a neu's Werk...«

»Eahna Ruah hamm S' ja bei uns, und dös Zimma hint naus lass'n ma tapezier'n«, sagte Frau Wally.

»Wir werden ja sehen«, erwiderte Mathilde.

Hobbe aber hörte nicht, was die Leute sprachen.

Unruhig fragte er seine Frau: »Hast du es?«

»Ja, Horstmar«, sagte sie und hob die Ledertasche in die Höhe.

»Und nun Adieu!«

»Adjö! Adjö!« jauchzte Tildchen.

Natterer verbeugte sich, Wally nickte freundlich, und beide blickten der Familie Hobbe nach.

Von drüben kam Fanny mit hochgehobenen Röcken herüber.

Sie trat in den Laden ein und legte ein Paket auf die Buddel.

»An schön Gruaß von Herrn Schnaase, und da schickt er Eahna de Programm und die Schreibereien...«

Natterer öffnete die blauen Aktendeckel und sah erstaunt die Protokolle, Entwürfe und Festprogramme des Altaicher Fremdenkomitees.

»Zu was bringen S' denn dös?« fragte er.

»Da Herr Schnaase schickt's Eahna, weil er heut abreist...«

»Wer reist ab?«

»De Berliner Herrschaft...«

»Der Herr Schnaase?«

»Ja. Heut z' Mittag.«

»Das is ja der höhere Blödsinn!« rief Natterer. »Wenn mir 's Fest am Samstag hamm!«

»Frag'n S' 'n halt selber, wenn S' as net glaab'n. Für was san nacha d' Koffa packt, und z'weg'n was muaß i den ganz'n Vormittag umanandlaffa? Ja... also... Eahnere Papier' hamm S'... b'füad Good! I hab' koa Zeit net zum Hersteh'...«

Sie eilte hinaus.

»Das is ja der höhere Blödsinn!« wiederholte Natterer. »Wally! Geh in Lad'n rei! I muaß zum Blenninger nüber... das is ja der höhere...«

»Was hast denn?«

»Nix hab' i. Laß ma do du mein Ruah!« Er stülpte seinen Hut auf und lief ohne Schirm im strömenden Regen zur Post hinüber.

Er traf den Blenninger Michel in der Küche, wohin er sich vor dem Lärm der Berliner geflüchtet hatte.

»Was hat denn da enker Fanny für an Unsinn daher bracht?« fragte Natterer ungestüm. »Daß da Herr Schnaase heut furtfahrt?«

»Ja.«

»Was ja?«

»Furt fahrt er.«

»Das is ja a Mist! Das is der reinste Blödsinn. Gestern war er bei mir, und mir hamm mitanand beschloss'n, daß unser Fest am Samstag stattfind'n soll. Da werd er heut wegfahr'n.«

Der Blenninger zerlegte ruhig seinen Leberknödel.

»Red' do! Woher habt's denn ös den Schmarrn, den einfältig'n? Wer sagt denn dös überhaupts?«

»Er.«

»Wer er?«

»Da Schnaase.«

Natterer sah, daß er von dem phlegmatischen Menschen nichts Rechtes erfahren konnte.

»Wo is der Herr Schnaase?«

»Drin.«

»In der Gaststub'n?«

»Ja.«

»Nacha geh' i nei... oder na, geh' du nei und sag' eahm...«

»I geh' net nei.«

»Den G'fall'n, moan i, kunntst d' mir erweisen, für dös, daß i dir's Haus voll Fremde herbracht hab'...«

»I mag dös G'surrm net«, sagte der Posthalter und blieb sitzen. Die Kellnerin kam gerade ans Fenster, und Natterer wandte sich an sie.


 << zurück weiter >>