Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Neuntes Kapitel

Es war ein ruhevoller Sommerabend. Die Häuser auf dem Marktplatze schlurften durch offene Türen und Fenster frische Luft ein, nach der sie den langen Nachmittag geschmachtet hatten.

Die Uhr auf dem Kirchturme glühte noch unter den letzten Sonnenstrahlen, aber dunkle Schatten, die langsam hinaufkrochen, versprachen ihr erquickende Kühle. Der Brunnen plätscherte lauter, und den Bürgern unter den Haustüren war eine stille Freude auf den Abendtrunk anzusehen.

Vor der Post ging Herr Dierl mit dem Kanzleirate unter ernsten Gesprächen auf und ab.

»Ich muß sagen, ich hab' eigentlich nichts g'merkt. Bis jetzt wenigstens is mir nix aufg'fallen«, sagte Schützinger.

»Sie wern's a sehg'n, daß i recht hab'. Der Berliner hat was im Sinn, und der fade Kerl da drüben« – Dierl deutete mit dem Stocke nach dem Kaufhause Natterer hin –, »der wepsige Kramer is natürli mit dabei...«

»Was wollen s' denn machen?«

»An Fremdenschwindel ei'führ'n, d' Leut verderb'n, alles in d' Höh treib'n... Ich kenn' de G'schicht'n, weil i s' scho a paarmal erlebt hab'...«

»Vielleicht sehen Sie doch zu schwarz...«

»Na! Na! Verlassen S' Ihnen auf mich!... Ah, gut'n Abend, Herr Posthalter! Sind S' heut recht fleißig g'wes'n?«

»Hat scho sei müass'n...'s letzte Fuada Korn hamm ma rei...«

Blenninger schnaufte in der Erinnerung an die Anstrengung und wischte sich mit seinem blauen Sacktuche über die sonnenverbrannte Stirne.

Man hörte ein Horn tuten.

Die Altaicher Kühe wurden über den Marktplatz heimgetrieben. Geduldig trotteten sie übers Pflaster; ab und zu sonderten sich etliche vom Haufen ab und bogen in Seitengassen ein.

Dann blies der alte Hüter fest ins Horn zum Zeichen, daß die Stalltüren geöffnet werden sollten.

Dierl sah mit freundlicher Miene auf das Treiben.

»So was tuat oan wohl«, sagte er. »Dös is no was aus der guat'n alt'n Zeit...«

»Ja... ja...«, meinte der Posthalter, »aber...«

»Was aber?«

»Der Zuastand paßt nimmer recht her...«

Blenninger wies auf eine Kuh, die stehen blieb, und indes sie nachdenklich vor sich hinschaute, ein stattliches Andenken fallen ließ.

»No... was is nacha?« fragte Dierl.

»So was paßt si nimmer her...«

»Auweh! Dös hätt' i liaba net g'hört.«

Dierl wandte sich unwillig ab und entfernte sich etliche Schritte mit dem Kanzleirate.

»Spanna S' was? Dös san scho de erst'n Anfäng'. Jetzt hätt' der Lalli aa scho an Graus'n vor'm Landleb'n. A Kurort werd's halt, dös Altaich...«

»Eine Änderung in dem speziellen Punkt wär' ja net so schlimm«, entgegnete Schützinger, den der Vorgang nicht so stark angeheimelt hatte.

»Net? I will Ihna was sag'n. Wenn d' Leut amal de Sprüch' macha vom Ändern und vom Fortschritt, wenn eahna dös Alte ordinär vorkimmt, nacha is's scho g'fehlt...«

»Ich bin ja auch fürs Romantische, aber ich meine, Herr Oberinspektor, es laßt sich auch vom hygienischen Standpunkt aus...«

»Nix! I kenn' d' Leut und i hab' meine Erfahrunga g'macht. Wenn amal de Redensart'n ei'reiß'n von zeitgemäß und Fortschritt, nacha verschwindet der solide Geist...«

Die Kühe waren weiter getrottet, und aus der Ferne hörte man zuweilen den Hüter blasen. Die verklingenden Töne erregten in Dierl eine wehmütige Ahnung, daß es bald aus sein werde mit alten Bräuchen und alter Biederkeit.

Über den Platz herüber kam Martl und schlenkerte einen leeren Maßkrug, daß der Deckel auf- und zuklappte. Er pfiff vor sich hin und schritt daher wie das Sinnbild des altbayrischen Feierabends.

In Dierls Gemüt fiel ein Sonnenstrahl, als er den von aller Neuzeit unberührten Hausknecht sah, und er fingerte in der Westentasche an einem Markstück herum. Doch er gewann seine Besonnenheit wieder und zog die Hand leer zurück.

Martl hatte den Seelenkampf bemerkt, denn Hausknechte sind scharfblickend, und ihre Beobachtungsgabe ist nicht gering.

Er wunderte sich auch nicht über den kläglichen Ausgang, denn er und sein Freund Hansgirgl betrachteten den Inspektor als notigen Hund. Deswegen achtete er nicht auf die landsmännische Freude Dierls und schlurfte ohne Gruß ins Haus.

»Wie lang' is der Martl schon bei Ihnen?« fragte Dierl den Posthalter.

»Da Martl? A vierz'g Jahr g'wiß. Er is scho als Bua herkemma...«

»Das is noch einer von der alt'n Garde. Solchene gibt's nimmer viel.«

»... Ja ja... ko scho sei«, sagte Blenninger trocken und schenkte seine Aufmerksamkeit einem aufgedonnerten Frauenzimmer, das gerade auf dem Bürgersteige daher kam.

Als wollte es ihnen die ganze Verdorbenheit der neuen Zeit vor Augen führen, so rauschte es an den kernigen Altbayern vorüber und warf aus untermalten Augen verächtliche Blicke auf sie.

Der Kanzleirat schaute ihm verblüfft nach, und Dierl rief: »Ja, was waar denn jetzt dös! Wia kimmt denn so was hieher?«

»Is ja a hiesige...«, sagte der Blenninger.

»De...?«

»Von hier?« fragte Schützinger. »Das kann man ja gar net glaub'n...«

»Wenn i's Eahna sag'! D' Hallberger Marie is; an Schlosser Hallberger sei Tochta...«

»In an solchan Aufzug?« staunte Dierl.

»Sie is beim Theata oder halt bei so a 'ra Gaudi und Schlawinag'sellschaft in Berlin drob'n. Seit etli Tag is s' dahoam. Wahrscheinli is ihr der Diridari ausganga, sonst waar de wohl net hergroast...«

Der Kanzleirat war nachdenklich geworden.

»Eine Dame vom Theater is sie? Das is eigentli sehr merkwürdi, wenn ma denkt, aus Altaich... Und ein Schlosser is ihr Vater...? Is er vielleicht der Schlosser grad gegenüber von der Kirch...?«

»Ganz richti... der is. Der Hallberger...«

»M... hm...«, machte Schützinger. »Ich find', es is eigentlich sehr merkwürdi...«

»Und des merkwürdigst is, daß anständige Bürgersleut eahna Tochter zu a 'ra Gaudig'sellschaft geh' lass'n...«, sagte Dierl. »Dös hätt's früher all's net geb'n. Da hamm S' Eahna geliebte Neuzeit!« wandte er sich an Blenninger.

»I? Was geht denn mi d' Neuzeit o?«

»Sie san aa scho o'g'steckt... Wia S' voring daher g'redt hamm weg'n de Küah...«

»Ah so...«

»Was sind denn diese Hallberger für Leut?« fragte Schützinger.

»Der Hallberger? Ja, er is amal a ganz a richtiger Mensch und hat an Ansehg'n hier. Da fehlat nix. Aber sie halt! Sie is a verruckte Heubod'nspinna; als Muatta scho gar nix wert. De hat dös Madl so dumm herzog'n. Zu der Arbat is s' z' nobl g'wen von kloa auf, und all's hat sie dem Fratz'n hi'geh' lass'n... no ja, jetza siecht ma's scho...«

»Also! Was sag' i denn? Da hat ma den Beweis, was rausschaugt dabei, wenn ma dös Alte, dös Solide nimma reschpektiert... Dös is der Zeitgeist! I bin froh, daß i net no mal jung sei muaß... Was is, Herr Kanzleirat? Genga ma nei zum Ess'n?«

»Ich hab' no kein recht'n Appetit und möcht' noch a bissel spazier'ngeh'n...«

»Viel Vergnüg'n! I geh' zu meiner Hax'n...«

Dierl ging ins Haus, und Schützinger schlenderte über den Platz und schaute angelegentlich in die Auslage des Kaufmanns Natterer, bis er sich durch die Spiegelung in der Fensterscheibe überzeugt hatte, daß auch der Posthalter weggegangen war.

Nun eilte er mit rascheren Schritten den Platz hinunter und bog in die Kirchgasse ein.

Eine süßliche Witterung von Parfüm zeigte ihm an, daß er auf der rechten Fährte war.

Kurz vor der Kirche nahm er die gemächlichste Gangart an und spielte zierlich mit seinem Stocke.

Er betrachtete das Portal aufmerksam, wie ein gewiegter Kenner von Barock und Rokoko; er trat zurück, um das Gesamtbild auf sich wirken zu lassen, und trat wieder näher, um die Einzelheiten zu mustern.

Dabei verlor er das Hallbergerhaus nicht aus den Augen, und er sah, daß die Dame vom Theater an ein offenes Fenster des ersten Stockwerkes trat und mit hochgezogenen Brauen zur Turmuhr hinaufschaute, um die Zeit auf ihrer Armbanduhr damit zu vergleichen.

Er bemerkte, daß ihr Blick den Turm herunter auf einen jugendlichen Kanzleirat glitt und auf ihm ein wenig haften blieb.

Er hörte sie ein Lied trällern.

Viens poupoule, viens poupoule, viens!

Er kannte es nicht, aber es kam ihm ansprechend frivol vor.

Die Dame lächelte und trat vom Fenster zurück.

Das rußige Lehrbubengesicht, das hinter einer Fensterscheibe zur ebenen Erde auftauchte und aus dem zwei lustige Augen sich auf ihn richteten, sah der Herr Rat nicht. Ihm genügten seine anderen Beobachtungen, die so stark auf ihn wirkten, daß seine Beine die auf Kanzleistühlen verlorene Beweglichkeit wiedergewannen und jugendlich tänzelten. Sie behielten das bei, als der Herr Rat heimkehrte und in die Gaststube trat, so daß Dierl erstaunt aufsah und fragte:

»No... no! Was hamm denn Sie heut für an Schwung?«

»Ich sag' Ihnen, Herr Oberinspektor, so ein Spaziergang erfrischt ungemein«, antwortete Schützinger und setzte sich quecksilbern lebhaft auf seinen Platz.

* * *

Ja, es ist schön, in einer lauen Sommernacht durch hochstehende Ährenfelder zu gehen. Die Halme streifen das Gewand, und nichts ist zu hören als das Geräusch der eigenen Schritte. Weite Flächen liegen im bleichen Mondlicht, und daneben sind tiefe, dunkle Schatten.

Drohend ragen gewaltige Massen vor einem auf, und sind harmlose Bäume, wenn man näher kommt.

Seitab vom Wege liegt zusammengekauert und verschlafen ein Bauernhaus; kein Licht brennt mehr darin.

Alles ist müde von Arbeit in tiefe Ruhe versunken. Die Schritte knirschen über Kies, hallen lauter über hölzerne Stege. Aus dem Dunkel führt der Weg über flutendes Licht wieder ins Dunkle und Ungewisse. Allmählich werden die Formen von Baum und Strauch vertrauter; ein Geländer, ein Feldkreuz sind alte Bekannte und zeigen die Nähe der Heimat an.

»Gut'n Abend, Herr Konrad!« sagte freundlich ein Mädel, das auf einer von den neuen Ruhebänken gesessen war und nun aufstand.

»Guten Abend!« wünschte er zurück und ging weiter.

»Genga S' scho hoam?« fragte das Mädel und folgte ihm.

Konrad blieb stehen. »Wer sind Sie denn?«

»Kenna S' mi nimmer?«

»Nein, in der Dunkelheit nicht.«

»I bin do d' Noichl Kathi...«

»Ah so! D' Fräul'n Noichl!«

Er sagte es so, als wäre er nun ganz im reinen, und doch wußte er wenig oder nichts von der rundlichen Tochter des Konditors Noichl.

Es fiel ihm auch nicht weiter auf, daß sie so spät noch um den Weg war.

»Ah gengan S', sagen S' doch net Fräulein zu mir! Wissen S' nimma, wie ma no mitanand' in d' Schul ganga san?«

Konrad erinnerte sich an ein dickes, gutmütiges Mädel, das immer die Taschen voll Eiszucker und Himbeerbonbons gehabt und freigebig ihre Schätze verteilt hatte. Es war kein vorteilhaftes Bild, das er im Gedächtnis trug, denn dem Mädel waren von vielem Naschen die Zähne schlecht geworden, und seine kleinen Augen waren zwischen dicken Backen eingeklemmt gesessen. Ob sich daran was geändert hatte, ließ sich beim Mondlicht nicht unterscheiden.

»Dann sag' ich Kathi, wie früher.«

»Ja, dös tean S'!« Fraulein Noichl schmiegte sich voll Freude an Konrad, der merken konnte, daß sie die Rundlichkeit erhalten und weiter entwickelt hatte.

»Kommen S' g'wiß vom Mal'n?«

»Ja. Ich war in Riedering. Aber, wo kommen eigentlich Sie her?«

»I? Von dahoam.«

»Da sind S' aber spät d'ran.«

»Jessas! Geln S'? Aber i ko nix dafür. I bin nach'n Ladenschluß spazier'n ganga, und so müad bin i g'wen, und so hoaß is g'wen, und da hab' i mi auf a Bank g'setzt und bin ei'g'schlaf'n. Auf oamal bin i aufg'wacht, wia Sie kemma san. I bin fei beinah' derschrock'n.«

»Vor mir?«

»Ah, gengan S'!« Kathl schmiegte sich an. »Na, i bin derschrock'n, weil's so spat g'wen is. Jessas! Was müass'n Eahna Sie am End' denk'n?«

»Nix.«

»Sie sagen's halt net. Vielleicht denken S' Eahna, daß i auf wen g'wart' hab'?«

»Na. Ich glaub's Ihnen schon, daß Sie eing'schlafen sind.«

»Aba g'wiß? Dös is des erstemal im ganz'n Summa, daß i auf d' Nacht spazier'n ganga bin. Weil's so hoaß war im Lad'n.«

Konrad ging weiter, ohne zu antworten.

»Gengan S' oft nach Riedering ummi?«

»Hie und da.«

»I tat Eahna gern beim Mal'n zuaschaug'n. Derf i net?«

»I kann's Ihnen net verbiet'n.«

»Ah geh, Sie müassen ma's extra verlaab'n.«

»I erlaub's Ihnen schon, wenn's Ihnen Spaß macht.«

»I möcht's halt gern sehg'n. Vielleicht malen S' morgen in da Näh'?«

»Morgen? Da will ich nach Sassau nüber.«

Kathi überlegte. »Vielleicht, wenn d' Muatta im Lad'n bleibet. I müaßt halt an Ausred' find'n.«

»Am End' is doch g'scheiter, Sie wart'n, bis ich in der Näh' arbeit'.«

»Ah gengan S'! Eahna is net recht, wenn i kimm.«

»Ich hab' nix dageg'n, Kathl.«

»Da müassen S' mir aber a Botschaft schick'n, sunst woaß i 's ja net, wann i zuaschaug'n derf.«

»Schön. Also, wenn amal G'legenheit is...«

»Amal!« rief Kathi schmollend. »I siech scho, Sie wollen's net hamm und sag'n grad a so.«

Konrad wußte nichts Rechtes zu antworten, und da wurde auch Kathi still.


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