Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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»Karline, ich warte nu schon die ganze Zeit und sehe nich die Spur von Industrie. Nischt wie Bauernhäuser un Kirchen un Kirchen un Bauernhäuser. Die ganze Neuzeit mit ihrem kolossalen Fortschritt ist in diese Gegend überhaupt noch nich vorjedrungen. Nich ein Fabrikschlot, nich ein Etablissemank, und wenn ich an so ne Fahrt denke, wie von Berlin nach Leipzig oder Hannover oder nach Halle, denn frage ich mich, wie is es möglich, daß der moderne Geist einfach wie vor ner Schranke halt gemacht hat, und wie is es möglich...«

»Gott, Gustav! Das sagt doch schon Baedeker, daß man in der Fremde nich die gleichen Verhältnisse suchen soll, wie zu Hause.«

»Ich lasse mir von Baedeker nich das Denken verbieten, und wenn ich vor ner rätselhaften Erscheinung stehe, dann suche ich eben nach ner Erklärung. Als denkender Mensch, nich wahr?«

»Du bringst dich bloß um den Genuß, weiter nischt. Mir is es doch wirklich mehr wert, daß die Gegend hübsch ist.«

»Hübsch... na... ja.«

»Fängst du schon wieder an? Ich finde diese kleinen Dörfer und überhaupt alles ganz entzückend.«

»Meinetwegen. Aber Enttäuschung is es und bleibt es, wenn ich mich auf Alpen vorbereite... na, laß mal! Ich weiß ja, was du sagen willst, und ich nörgle nich. Ich konstatiere aber die einfache Tatsache, daß hier nich die Spur von Industrie zu sehen ist. Da! Vier, fünf Häuser mit Strohdächern, un daneben wieder ne Kirche! Nee, das is nu mal ne andre Welt.«

Der Zug hielt oft. Hie und da vor einem kleinen Bahnhofe, manchmal auf freiem Felde. Dann stand auf einer hölzernen Tafel das Wort »Haltestelle«, und eine kleine Hütte aus Wellblech war der Warteraum. Beim Halten und Anfahren prallten die Wagen so aufeinander, daß man von den Bänken gehoben wurde.

Und einmal fiel Stine einem gegenübersitzenden Landmanne, der in Zeidolfing eingestiegen war, auf den Schoß.

»Ochott! Neun!« rief sie schmerzlich aus und schob sich den Hut wieder gerade. »So fährt man doch nich!«

»Er werd eahm net gnua Dampf hamm; er ziahgt eahm a weng hart o«, sagte der Zeidolfinger.

Stine blickte ihn ratlos an. Sie konnte kein Wort verstehen. »Er werd eahm z'weng Dampf hamm«, wiederholte der Mann freundlich, aber es konnte sich keine Unterhaltung entspinnen.

Man fuhr noch eine Weile durch das Vilstal, und endlich schnaufte die Lokomotive sehr erschöpft im Bahnhofe von Altaich.

Schnaase stieg rasch aus und sah sich nach einem Hoteldiener um.

Es waren aber nur zwei Leute da.

Der Bahnvorstand Heigelmoser und der Stationsdiener Simmerl.

Heigelmoser grüßte ritterlich, setzte seinen Kneifer zurecht und ging zur Lokomotive vor, was er sonst nie tat, und richtete im Befehlstone Fragen an den Lokomotivführer Schanderl, der so verblüfft war, daß er anständig und freundlich antwortete.

Hinterdrein glaubte er, daß der Adjunkt übergeschnappt wäre.

Er wußte nicht, was er für eine unwürdige Rolle hatte spielen müssen, damit der Heigelmoser sich vor der eleganten jungen Dame ein Ansehen geben konnte.

Schnaase wandte sich an den Stationsdiener.

»Sagen Sie mal, wer schafft denn hier das Gepäck ins Hotel?«

Simmerl schaute ihn verständnislos und gleichgültig an.

Er brummte, daß er von keinem Hotel nichts wisse.

»Wir wollen doch hier... du hast den Namen aufgeschrieben, Karline...«

»Hotel zur Post«, las Frau Schnaase aus ihrem Notizbuche vor.

»Von da Post is neamd da. Von da Post kimmt überhaupts neamd...«

»Ja, sollen wir unser Gepäck selbst auf der Karre hinbringen? Heiliger Bimbam, nu wird mir die Bummelei aber doch zu stark!...«

Heigelmoser eilte heran und klappte die Absätze zusammen. »Bahnvorstand Heigelmoser...«

»Sehr angenehm; mein Name ist Schnaase. Sagen Sie mal, Herr Bahnvorsteher...«

»Die Herrschaften wollen ihr Gepäck in die ›Post‹ schaffen lassen?«

»Aber natürlich! Ich verstehe nur nich...«

»Die Herrschaften sind vermutlich zum Kuraufenthalt eingetroffen?«

»Jawollja... aber sagen Sie mal, was sind denn das für Zustände? Es muß doch jemand vom Hotel am Zuge sein...«

Heigelmoser lächelte.

»Die Leute sind der Situation noch nicht so gewachsen...«

»Nanu! Wenn man schon die größten Inserate losläßt...«

»Vielleicht kann das Gepäck einstweilen hier eingestellt werden, und dann holt man es von der ›Post‹ ab?«

»Also gut. So wird's wohl gehen, Karline?«

Frau Schnaase nickte. Henny fing belustigt den huldigenden Blick des Adjunkten auf.

Das spornte ihn zu neuer Liebenswürdigkeit an.

»Das kleine Gepäck lasse ich den Herrschaften gleich besorgen. Das können ja Sie tragen«, sagte er zum Stationsdiener.

Simmerl, dem sein Vorgesetzter gar zu geschäftig vorkam, war unwirsch.

»I?« fragte er.

»Nehmen Sie's nur und begleiten Sie die Herrschaften!«

»Ja, i muaß do de zwoa Kaibln ei'lad'n vom Hartlwirt z'Tandern...«

»Die laden Sie später ein!«

Simmerl fand, daß sich der Herr Adjunkt ein wenig krautig machte, und er hätte sich am liebsten widerhaarig benommen, aber eine Ahnung, daß bei der Geschichte etliche Maß Bier herausschauen könnten, stimmte ihn versöhnlich.

Er nahm eine Hutschachtel und zwei Taschen und ging voran. Stine folgte mit dem andern Gepäck. Hinter ihr ging die Familie Schnaase, die sich freundlich von Heigelmoser verabschiedet hatte.

»Was er für verliebte Nasenlöcher machte!« sagte die Tochter.

»Henny! Wenn uns schon jemand freundlich entgegenkommt...«

»Gott, Mama! Hältst du es für nötig, bei jeder Gelegenheit erzieherisch zu wirken? Ich gestehe dir offen, daß ich keinen Geschmack daran finde.«

Frau Schnaase, die auf der staubigen Straße bei der prallen Hitze genau so schlecht gelaunt wurde, wie ihre Tochter, wollte heftig erwidern, aber der Vater nahm das Wort.

»Kinner! Mir geht allmählich 'n Seifensieder auf. Dieses biedere, um verschiedene Jahrhunderte zurückgebliebene, schlichte Volk hat uns Berliner auf unserm ureigensten Gebiete geschlagen, nämlich auf dem Gebiete des Zeitungs- und Inseratenwesens! Allerhand Achtung vor dem geriebenen Jungen, der das, was wir hier sehen, mit fetten Buchstaben ausgerechnet in einem Berliner Blatte als Höhenluftkurort ausschreiben ließ. Der Mann hat Mut und Phantasie, und die Art, wie er uns eingewickelt hat, imponiert mir. Wenn ich 'n Berliner Inserat lese, bin ich vorsichtig, und kommt's recht dicke, denn denke ich mir: Scheibe mein Herzken. Aber wenn das Auge mitten unter den großstädtischen Schwindelannoncen ganz unvermutet auf so ne angepriesene bayrische Oase fällt, dann riecht's förmlich nach Natur und Treuherzigkeit, und kein Mensch denkt an Schwindel, und man malt sich ne Idylle aus, man gibt noch selbst was dazu, weil man glaubt, dieses schlichte Volk hat gar nich den Mut, ordentlich aufzutragen. Man denkt, es is zu schüchtern, zu naiv. Un denn eilt man auf Flügeln des Vertrauens her und sieht, was einem die Brüder als Höhenluftkurort in den Voralpen angedreht haben...«

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter«, sagte Frau Schnaase, deren Antlitz von Sonnenhitze und Empörung glühend rot geworden war.

Sie blieb stehen, und man sah es ihr an, daß eine übermächtige Bitterkeit in ihr aufgequollen war.

»Nanu, Olleken!« rief ihr Mann etwas erschrocken aus.

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter. Ich habe es satt, mich von dir und Henny quälen zu lassen...«

»Aber Mama!«

»Ja! Quälen und peinigen...«

Frau Schnaase kämpfte mit den Tränen.

»Ihr tut ja gerade, als ob ich verantwortlich wäre für alles, was euch nicht gefällt. Nein! Fällt mir doch gar nicht ein! Ich tue einfach nicht mehr mit. Sag' dem Mann, er soll das Gepäck zurücktragen! Wir nehmen den nächsten Zug. Ich fahre heim, und ihr könnt ja tun, was ihr für gut findet...«

»Aber, Karline, nu beruhige dich wieder! Du bist 'n bißchen nervös geworden...«

»Ich? Ihr natürlich nicht!«

»Wir ooch. Es fällt mir doch nich im Schlafe ein, dich zu kränken oder dich verantwortlich zu machen... Nee! Und sieh mal zu, wir gehen jetzt ruhig ins Hotel, und denn ruhen wir uns aus... nich wahr? Und denn sehen wir schon, was zu tun ist...«

»Also gut! Ich gehe noch mal mit. Aber, Gustav, das sage ich dir, wenn du noch mal auf mir piekst, dann packe ich sofort.«

»Bong! Nu komm aber. Wir wollen doch nich hier auf der Straße... Der Kerl spitzt schon die Löffel...«

Die Familie legte den letzten Teil des Weges schweigend zurück, und in Schnaase erregte alles, was er nun unterdrücken mußte, einen heftigen Zorn.

Unterm Tore der »Post« standen der Blenninger Michel und sein Hausknecht Martl. Sie hielten eine Siesta ab, indem sie nichts sprachen und abwechselnd aufs Pflaster spuckten. Sie wurden empfindlich gestört. Zuerst mußten sie erstaunen über die Prozession, die hinterm Simmerl von der Bahn herauf kam, dann mußten sie ihre Stellung räumen, weil die Leute offenbar in die »Post« kamen, und dann trat der dicke Herr auf den Blenninger zu und sagte in einer unangenehm scharfen Sprache:

»Der Mann behauptet, daß Sie der Posthalter sind.«

Michel schaute mit unerschütterlicher Ruhe in die zornigen Augen des Fremden und antwortete langsam: »I bin da Posthalter – jawoi...«

»So? Na, dann will ich Ihnen mal was sagen. Wenn Sie Ihren famosen Voralpenkurort schon ausschreiben, wissen Se, wenn Sie schon das Geld für Inserate ausgeben, dann können Se sich auch den Luxus gestatten und 'n Hoteldiener auf die Bahn schicken, nich wahr? Das is nämlich so Usus in Europa, wissen Se, und zu Europa gehören Sie am Ende ooch noch, nich wahr? Das is nämlich keine Manier, wissen Se, daß man Gäste anlockt, und denn läßt man sie auf der Bahn stehen und zwingt die Damen, die staubige Straße da heraufzupaddeln. Das können Sie machen, wissen Se, mit Ihren ausgewachsenen Rabattentretern, aber nich Damen, nich wahr? Diesen Mindestgrad von Kultur müssen Se hier ooch noch leisten, verstehen Se, oder lotsen Se die Leute nich her in Ihre Schwindelalpen und schicken Se ganz einfach 'n Wagen an die Bahn. Das wollte ich Ihnen zunächst mal sagen, verehrter Herr!«


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