Stendhal
Armance
Stendhal

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Einunddreißigstes Kapitel

If he be turn'd to earth, let me but give him one hearty kiss, and you shall put us both into one coffin.
        Webster

 

Octave hatte eine Menge unerläßlicher Schritte bei den Verwandten zu tun, die, wie er wohl wußte, seine Heirat höchst mißbilligten. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ihm nichts peinlicher gewesen. Beim Verlassen der Häuser seiner berühmten Verwandten wäre er unglücklich und fast vom Glück angewidert gewesen. Doch zu seinem großen Erstaunen bemerkte er bei der Erfüllung dieser Pflichten, daß ihm nichts peinlich war, weil ihm nichts mehr Interesse einflößte. Er war für die Welt tot.

Seit Armances Unbeständigkeit waren die Menschen ihm Wesen einer fremden Gattung. Nichts konnte ihn rühren, weder das Unglück der Tugend noch das Glück des Verbrechers. Eine geheime Stimme sagte ihm: »Die sind weniger unglücklich als du.«

Mit bewundernswerter Gleichgültigkeit erledigte er alle Albernheiten, welche die moderne Zivilisation vorschreibt, um einen schönen Tag zu verderben. Die Hochzeit fand statt.

Octave benutzte einen sich einbürgernden Brauch und reiste mit Armance sofort nach dem Gut Malivert im Dauphiné; tatsächlich aber fuhr er mit ihr nach Marseille. Dort teilte er ihr sein Gelübde mit, in Griechenland zu zeigen, daß er trotz seines Ekels vor dem Soldatenwesen seinen Degen zu führen wisse. Armance war seit ihrer Hochzeit so glücklich, daß sie ohne Verzweiflung in diese augenblickliche Trennung willigte. Selbst Octave, der sich Armances Glück nicht verhehlen konnte, hatte die in seinen Augen sehr große Schwäche, seine Abreise um acht Tage zu verschieben. Er benutzte die Zeit, um mit ihr Sainte-Baume, das Schloß Borelli und die Umgegend von Marseille zu besuchen. Das Glück seiner jungen Gattin rührte ihn. »Sie spielt Komödie«, sagte er sich, »und ihr Brief an Méry beweist es mir klar; aber sie spielt sie gut!« Er hatte Augenblicke der Täuschung, wo Armances vollkommenes Glück ihn schließlich auch beglückte. »Welche andre Frau auf Erden«, sagte er sich, »könnte mir selbst durch aufrichtigere Gefühle so viel Glück bereiten?«

Endlich hieß es sich trennen. Kaum an Bord, bezahlte er diese Augenblicke der Illusion teuer. Tagelang fand er den Mut zum Sterben nicht mehr. »Ich wäre der niedrigste Mensch und in meinen eignen Augen ein Feigling, wenn ich Armance nach dem Urteilsspruche des verständigen Dolier nicht alsbald die Freiheit wiedergebe. Ich verliere wenig, wenn ich aus dem Leben scheide«, setzte er seufzend hinzu. »Wenn Armance so anmutig Liebe spielt, so ist das doch nur eine Erinnerung: sie entsinnt sich dessen, was sie einst für mich empfand. Ich hätte sie bald gelangweilt. Wahrscheinlich hegt sie Achtung für mich, aber ohne jedes leidenschaftliche Gefühl, und mein Tod wird sie nur betrüben, aber nicht in Verzweiflung bringen.« Über dieser grausamen Gewißheit vergaß Octave schließlich, wie Armances göttliche Schönheit am Vorabend der Abfahrt glückestrunken in seinen Armen gelegen hatte. Er faßte wieder Mut, und schon am dritten Tage der Seefahrt kehrte mit dem Mut auch die Ruhe zurück. Das Schiff fuhr auf der Höhe der Insel Korsika. Das Andenken an einen großen Mann, der so unglücklich gestorben war, trat vor seine Seele und gab ihm seine Festigkeit wieder. Da er unaufhörlich an ihn dachte, hatte er ihn fast zum Zeugen seines Tuns. Er heuchelte eine tödliche Krankheit. Zum Glück war der einzige Schiffsarzt ein alter Zimmermann, der vorgab, sich auf das Fieber zu verstehen, und sich zuerst durch Octaves Delirium und furchtbaren Zustand täuschen ließ. Dank einigen Augenblicken der Verstellung sah Octave, daß man nach acht Tagen an seinem Wiederaufkommen verzweifelte. In einem seiner sogenannten lichten Augenblicke ließ er den Kapitän rufen und diktierte sein Testament, das die neun Leute der Bemannung als Zeugen unterschreiben mußten. Octave hatte Sorge getragen, ein gleichlautendes Testament bei einem Notar in Marseille zu hinterlegen. Alles, worüber er verfügen konnte, hinterließ er seiner Frau unter der seltsamen Bedingung, daß sie sich binnen zwanzig Monaten nach seinem Tode wieder verheiratete. Sollte sie das nicht für angezeigt halten, so bat er seine Mutter, sein Vermögen anzunehmen.

Nachdem Octave sein Testament im Beisein der ganzen Bemannung unterzeichnet hatte, verfiel er in große Schwäche und verlangte nach den Sterbegebeten, die ein paar italienische Matrosen an seiner Seite sprachen. Er schrieb einen Brief an Armance und legte den Brief bei, zu dem er sich in einem Pariser Café ermannt hatte, sowie ihren Brief an ihre Freundin Méry de Tersan, den er in dem Orangenkübel gefunden hatte. Nie hatte Octave so unter dem Zauber zärtlichster Liebe gestanden wie in diesem letzten Augenblick. Er gönnte sich das Glück, Armance alles zu sagen, außer der Art seines Todes. Über eine Woche siechte Octave noch hin und genoß täglich das neue Vergnügen, an seine Freundin zu schreiben. Er vertraute seine Briefe mehreren Matrosen an, die versprachen, sie selbst seinem Notar in Marseille zu überbringen. Ein Schiffsjunge rief vom Mastkorb: »Land!« Das war der Boden Griechenlands, das waren die Berge Moreas, die man am Horizont erblickte. Ein frischer Wind trieb das Schiff rasch vorwärts. Der Name Griechenland belebte Octaves Mut. »Ich grüße dich, o Land der Helden!« sprach er. Als um Mitternacht des 3. März der Mond hinter dem Berg Kalos aufging, befreite eine selbstbereitete Mischung von Opium und Fingerhut Octave sanft von diesem für ihn so bewegten Leben. Beim Morgengrauen fand man ihn entseelt auf der Brücke auf einigen Tauen liegend. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, und seine seltne Schönheit ergriff selbst die Matrosen, die ihn ins nasse Grab senkten. In Frankreich ahnte nur Armance die Art seines Todes. Als bald danach der Marquis von Malivert starb, nahmen Armance und Frau von Malivert im selben Kloster den Schleier.

 


 


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