Stendhal
Armance
Stendhal

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Octave war verblüfft über die Veränderung in Armances Wesen. Er glaubte, auch als Freund Anspruch darauf zu haben, daß sie ihm den Anlaß ihrer Sorgen anvertraute. Denn daß sie unglücklich war, daran konnte Octave nicht zweifeln. Ebenso klar war es ihm, daß der Chevalier von Bonnivet jede Gelegenheit zu einer Aussprache zwischen ihnen zu vereiteln suchte, die sich beim Spaziergang oder im Salon bot.

Auf die Andeutungen, die Octave bisweilen machte, erhielt er keine Antwort. Um ihren Schmerz einzugestehen und auf das System völliger Zurückhaltung zu verzichten, das sie sich auferlegt hatte, hätte Armance tief erregt sein müssen. Doch Octave war zu jung und selbst zu unglücklich, um auf diese Entdeckung zu kommen und sie zu nutzen.

Der Komtur von Soubirane war zum Essen nach Andilly gekommen. Am Abend zog ein Gewitter auf, und es regnete stark. Man beredete den Komtur, dazubleiben, und brachte ihn in einem Zimmer neben Octave im zweiten Stock des Schlosses unter. An jenem Abend hatte Octave sich vorgenommen, Armance etwas aufzuheitern. Er hatte das Bedürfnis, sie lächeln zu sehen; in diesem Lächeln hätte er einen Abglanz ihrer alten Vertrautheit erblickt. Seine Fröhlichkeit mißfiel Armance sehr und hatte gar keinen Erfolg. Da sie keine Antwort gab, mußte er seine Worte an Frau d'Aumale richten, die zugegen war und viel lachte, während Armance in dumpfem Schweigen verharrte.

Octave wagte sie etwas zu fragen, was eine lange Antwort zu erfordern schien: sie antwortete sehr einsilbig. Über ihre offenbare Ungnade verzweifelt, verließ er den Salon augenblicklich. Als er im Garten Luft schöpfte, traf er den Förster und sagte ihm, er wolle am nächsten Morgen frühzeitig auf die Jagd gehen.

Frau d'Aumale, die im Salon nur noch ernste Leute sah, deren Unterhaltung ihr lästig war, entschloß sich gleichfalls, zu verschwinden. Dies zweite Stelldichein schien der unglücklichen Armance zu offensichtlich. Besonders empört war sie über Octaves Falschheit, der ihr im Durchgang zwischen zwei Zimmern ein paar sehr zärtliche Worte gesagt hatte. Sie ging auf ihr Zimmer, um ein Buch zu holen, das sie wie das kleine englische Gedicht auf Octaves Türklinke legen wollte. Als sie durch den Flur schritt, der zu ihres Vetters Zimmer führte, hörte sie drinnen Geräusch; die Tür stand offen, und er machte seine Flinte zurecht. Daneben lag ein Kämmerchen, das als Nebenausgang für das Zimmer diente, das soeben für den Komtur zurechtgemacht wurde, und dessen Tür auf den Flur ging. Unglücklicherweise stand diese Tür offen. Octave näherte sich seiner Zimmertür, als Armance herbeikam, und machte eine Bewegung, als wollte er in den Durchgang treten. Es wäre Armance schrecklich gewesen, Octave in diesem Augenblick zu begegnen. Sie hatte gerade noch Zeit, in die offne Tür zu stürzen, die sich ihr anbot. »Sobald Octave hinaus ist«, sagte sie sich, »werde ich das Buch anbringen.« Sie war so verwirrt über diesen gewagten Schritt, der ein großer Fehler war, daß sie kaum folgerichtig denken konnte.

In der Tat verließ Octave sein Zimmer. Er ging an der offnen Tür des Kämmerchens vorbei, in dem Armance sich befand, aber nur bis ans Ende des Flurs. Dort trat er an ein Fenster und pfiff zweimal, wie um ein Zeichen zu geben. Da der Förster, der in der Küche trank, keine Antwort gab, blieb Octave am Fenster stehen. Da die Gesellschaft im Salon im Erdgeschoß und die Dienerschaft im Souterrain war, herrschte in diesem Teil des Schlosses so tiefe Stille, daß Armance, deren Herz gewaltig pochte, sich nicht zu rühren wagte. Zudem konnte die Unglückliche sich nicht verhehlen, daß Octave eben ein Zeichen gegeben hatte. Und so wenig weiblich das auch war, es schien ihr doch wohl möglich, daß Frau d'Aumale dies Zeichen verabredet hätte.

Das Fenster, zu dem Octave sich hinauslehnte, lag am Kopfende der kleinen Treppe, die zum ersten Stock hinabführte; es war unmöglich, da vorbeizukommen. Als es elf Uhr schlug, pfiff Octave zum drittenmal; der Förster, der mit den Dienstboten in der Küche war, gab keine Antwort. Gegen halb zwölf kehrte Octave in sein Zimmer zurück.

Armance, die noch nie im Leben etwas unternommen, wovor sie hätte erröten müssen, war so verwirrt, daß die Beine ihr den Dienst versagten. Es war klar, daß Octave ein Zeichen gab, daß man darauf antworten oder daß er sein Zimmer alsbald nochmals verlassen würde. Die Schloßuhr schlug drei Viertel zwölf, dann Mitternacht. Diese ungewöhnliche Stunde steigerte Armances Gewissensbisse noch. Sie entschloß sich, das Kämmerchen, in das sie sich geflüchtet, zu verlassen, und als der zwölfte Schlag verklang, machte sie sich auf den Weg. Sie war dermaßen verwirrt, daß sie, sonst so leichtfüßig, ziemlichen Lärm machte.

Als sie durch den Flur schritt, erblickte sie im Dunkeln beim Fenster eine Gestalt, die sich vom Himmel abhob, und erkannte alsbald Herrn von Soubirane. Er wartete auf seinen Diener, der ihm eine Kerze bringen sollte, und in dem Augenblick, wo Armance, die den Komtur soeben erkannt hatte, regungslos in sein Gesicht starrte, fiel das die Treppe heraufkommende Licht gegen die Decke des Flurs.

Bei kaltem Blut hätte Armance versuchen können, sich hinter einem großen Schrank zu verbergen, der nahe bei der Treppe in der Flurecke stand, und vielleicht wäre sie gerettet gewesen. Aber starr vor Schrecken verlor sie zwei Sekunden, und als der Diener die oberste Treppenstufe erreichte, fiel der Lichtschein voll auf sie, und der Komtur erkannte sie. Ein abscheuliches Lächeln trat auf seine Lippen. Sein Verdacht über das Verhältnis seines Neffen mit Armance bestätigte sich, aber zugleich hatte er ein Mittel, beide für immer zu verderben. »Peter«, sagte er zu seinem Diener, »ist das nicht Fräulein Armance von Zohiloff?« – »Jawohl, Herr Komtur«, entgegnete der Diener ganz verblüfft. »Octave geht es hoffentlich besser, gnädiges Fräulein?« sagte der Komtur in spöttischem, rohem Ton und ging weiter.

 


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