Stendhal
Armance
Stendhal

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Einundzwanzigstes Kapitel

Durate, et vosmet rebus servate secundis.
        Vergil

 

Octave betrat das Italienische Theater. Dort fand er wirklich Frau d'Aumale und in ihrer Loge einen Marquis von Crêveroche, einen der Gecken, die diese liebenswürdige Frau am meisten belagerten. Aber geistloser oder selbstgefälliger als die andern, wähnte er sich bevorzugt. Kaum war Octave erschienen, so sah Frau d'Aumale nur noch ihn, und der Marquis von Crêveroche verließ empört die Loge, ohne daß sein Fortgehen auch nur bemerkt wurde.

Octave setzte sich an die Logenbrüstung, und aus Gewohnheit – denn an jenem Tage war er von irgendwelcher Tuerei weit entfernt – begann er mit Frau d'Aumale so laut zu sprechen, daß seine Stimme bisweilen die der Darsteller übertönte. Wir müssen gestehen, daß er das Maß erlaubter Ungezogenheit etwas überschritt, und wäre das Parterrepublikum ebenso gewesen wie in den übrigen Theatern, so hätte er die Ablenkung eines öffentlichen Skandals haben können.

Mitten im zweiten Akt des »Othello« brachte ihm der kleine Verkäufer der Textbücher folgendes Billett:

»Mein Herr, ich verachte von Natur jede Tuerei. Man findet sie so häufig in der Gesellschaft, daß ich mich nur damit abgebe, wenn sie mich belästigt. Sie belästigen mich durch den Lärm, den Sie mit der kleinen d'Aumale vollführen. Schweigen Sie. Ich habe die Ehre zu sein

Marquis von Crêveroche
Rue de Verneuil 54.«    

Octave war tief erstaunt über das Billett, das ihn wieder in die Alltäglichkeit des Lebens zurückrief. Zuerst hatte er das Gefühl eines Menschen, den man für einen Moment aus der Hölle befreit hat. Sein erster Gedanke war, die Freude, die seine Seele alsbald überflutete, zur Schau zu tragen. Er nahm an, daß Herrn von Crêveroches Opernglas auf Frau d'Aumales Loge gerichtet war und daß es für seinen Nebenbuhler vorteilhaft sei, wenn sie sich nach dessen Billett weniger gut zu unterhalten schien.

Das Wort »Nebenbuhler«, das er bei seinem Selbstgespräch anwandte, ließ ihn laut auflachen; sein Blick war seltsam. »Was haben Sie denn?« fragte Frau d'Aumale. – »Ich denke an meinen Nebenbuhler. Kann es auf Erden einen Mann geben, der den Anspruch hätte, Ihnen ebenso zu gefallen wie ich?« Diese schöne Überlegung war der jungen Gräfin noch lieber als die leidenschaftlichsten Töne der erhabenen Pasta.

Abends sehr spät, als Octave Frau d'Aumale, die soupieren wollte, nach Hause begleitet hatte und sich selbst überlassen blieb, war er ruhig und heiter. Welch ein Gegensatz zu dem Zustand, in dem er sich in der Nacht im Walde befunden!

Es war recht schwierig für ihn, einen Sekundanten zu finden. Sein Wesen war so abweisend, und er hatte so wenig Freunde, daß er sehr fürchtete, lästig zu fallen, wenn er einen seiner Lebensgefährten bat, ihn zu Herrn von Crêveroche zu begleiten. Endlich fiel ihm ein Herr Dolier ein, ein verabschiedeter Offizier, den er zwar höchst selten sah, der aber mit ihm verwandt war.

Um drei Uhr morgens schickte er ein Billett zum Portier des Herrn Dolier. Um halb sechs Uhr war er selbst da, und kurz darauf erschienen beide Herren bei Herrn von Crêveroche, der sie mit tadelloser, wenn auch etwas gezierter Höflichkeit empfing. »Ich erwartete Sie, meine Herren«, sagte er freimütig zu ihnen. »Ich hoffte, Sie würden mir die Ehre erweisen, mit meinem Freunde, Herrn von Meylan, und mit mir Tee zu trinken. Ich gestatte mir, ihn Ihnen vorzustellen.«

Als man den Tee getrunken hatte und aufstand, nannte Herr von Crêveroche den Wald von Meudon.

»Die affektierte Höflichkeit dieses Herrn fängt an, mich zu verdrießen«, sagte der Offizier der alten Armee, als er Octaves Kabriolett wieder bestieg. »Lassen Sie mich die Zügel nehmen und verderben Sie sich die Hand nicht. Seit wie lange waren Sie nicht mehr in einem Fechtsaal?« – »Seit drei bis vier Jahren, soweit ich mich entsinne«, entgegnete Octave. – »Wann haben Sie zuletzt mit Pistolen geschossen?« – »Vielleicht vor einem halben Jahr, aber ich habe nie daran gedacht, mich zu duellieren.« – »Zum Teufel!« sagte Herr Dolier. »Ein halbes Jahr, das paßt mir gar nicht. Strecken Sie den Arm nach mir aus. Sie zittern ja wie Espenlaub!« – »Das habe ich leider immer gehabt«, sagte Octave. Herr Dolier war sehr mißvergnügt und sprach kein Wort mehr. Die stille Stunde Fahrt von Paris nach Meudon war für Octave die holdeste Zeit in seinem Unglück. Er hatte diesen Zweikampf nicht gesucht. Er gedachte sich tapfer zu verteidigen, aber schließlich, wenn er fiel, hatte er sich nichts vorzuwerfen. Wie die Dinge für ihn lagen, war der Tod für ihn das größte Glück.

Man langte an einer entlegenen Stelle des Waldes von Meudon an, aber Herr von Crêveroche, heute affektierter und dandyhafter denn je, erhob lächerliche Einwände gegen zwei oder drei Plätze. Herr Dolier beherrschte sich kaum; Octave hatte große Mühe, ihn zurückzuhalten. »Lassen Sie mir wenigstens den Sekundanten«, sagte Herr Dolier. »Ich will ihm klarmachen, was ich von beiden denke.« – »Vertagen Sie das auf morgen«, gebot Octave streng. »Denken Sie daran, daß Sie heute so gut waren, mir einen Dienst zu versprechen.«

Der Sekundant des Herrn von Crêveroche schlug zuerst Pistolen vor, bevor er von Degen sprach. Octave, der die Sache geschmacklos fand, winkte Herrn Dolier, der sofort annahm. Endlich war es soweit: Herr von Crêveroche, ein sehr geschickter Schütze, hatte den ersten Schuß. Octave wurde am Schenkel verwundet; das Blut floß in Strömen. »Ich bin am Schuß«, sagte er kalt, und Herr von Crêveroche erhielt einen Streifschuß am Bein. »Verbinden Sie mir den Schenkel mit meinem und Ihrem Taschentuch«, sagte Octave zu seinem Diener. »Das Blut darf ein paar Minuten nicht fließen.« – »Was haben Sie denn vor?« fragte Herr Dolier. – »Fortzufahren«, entgegnete Octave. »Ich fühle mich durchaus nicht schwach. Ich habe genausoviel Kraft wie bei der Ankunft. Ich würde jede andre Sache zu Ende führen; warum nicht diese?« – »Aber sie scheint mehr als beendigt«, sagte Herr Dolier. – »Und was ist aus der Wut geworden, die Sie vor zehn Minuten hatten?« – »Der Mensch wollte uns keineswegs beleidigen«, antwortete Herr Dolier, »er ist bloß ein Dummkopf.«

Nachdem die Sekundanten miteinander gesprochen hatten, widersetzten sie sich durchaus einem neuen Kugelwechsel. Octave hatte bemerkt, daß Crêveroches Sekundant ein untergeordneter Mensch war, den vielleicht seine Tapferkeit in die Gesellschaft gebracht hatte, der aber in Anbetung vor dem Marquis erstarb. Er richtete einige verletzende Worte an diesen. Herr von Meylan wurde durch ein kräftiges Wort seines Freundes zum Schweigen gebracht, und so konnte Octaves Sekundant nichts mehr sagen. Während Octave sprach, war er vielleicht so glücklich wie nie im Leben. Ich weiß nicht, welche unbestimmte Hoffnung er auf seine Wunde setzte, die ihn ein paar Tage bei seiner Mutter zurückhalten sollte, und somit nicht allzufern von Armance. Endlich, nach einer Viertelstunde, setzten der zornrote Crêveroche und der überglückliche Octave durch, daß die Pistolen von neuem geladen wurden.

Herr von Crêveroche schäumte vor Wut, weil er nun wegen seines Streifschusses vielleicht ein paar Wochen nicht tanzen konnte, und vergebens schlug er vor, aus nächster Nähe zu schießen. Die Sekundanten drohten, beide mit ihren Dienern stehenzulassen und die Pistolen wegzunehmen, wenn sie sich einen Schritt näher kämen. Das Los begünstigte Herrn von Crêveroche nochmals; er zielte lange und verwundete Octave schwer am rechten Arm. »Mein Herr!« rief Octave ihm zu, »Sie müssen meinen Schuß abwarten. Gestatten Sie, daß ich meinen Arm verbinden lasse.« Das war rasch geschehen, und Octaves Diener, ein alter Soldat, hatte das Tuch noch mit Branntwein getränkt, so daß es sich sehr fest wickeln ließ. Dann sagte Octave zu Herrn Dolier: »Ich fühle mich ganz kräftig«. Er schoß. Herr von Crêveroche stürzte zu Boden und war nach zwei Minuten tot.

Auf seinen Diener gestützt, ging Octave zu seinem Kabriolett und bestieg es, ohne ein Wort zu sagen. Herr Dolier konnte nicht umhin, den schönen jungen, sterbenden Mann zu beklagen, dessen Glieder man auf ein paar Schritt Entfernung starr werden sah. »Ein Laffe weniger«, sagte Octave kalt.

Obwohl das Kabriolett nur im Schritt fuhr, sagte Octave nach zwanzig Minuten zu Herrn Dolier: »Der Arm tut mir sehr weh, das Taschentuch drückt mich zu stark«, und plötzlich wurde er ohnmächtig. Erst nach einer Stunde kam er wieder zu sich. Es war in der Hütte eines Gärtners, eines sehr menschenfreundlichen Biedermannes, den Herr Dolier beim Eintreten gut bezahlt hatte. »Sie wissen, lieber Vetter«, sagte Octave zu Herrn Dolier, »wie leidend meine Mutter ist. Verlassen Sie mich, fahren Sie nach der Rue Saint-Dominique, und wenn Sie meine Mutter dort nicht antreffen, haben Sie die außerordentliche Güte, nach Andilly zu fahren. Teilen Sie ihr mit möglichster Schonung mit, ich sei mit dem Pferde gestürzt und hätte mir den rechten Armknochen gebrochen. Sagen Sie nichts von Duell und Kugeln. Ich habe Grund zu der Annahme, daß meine Mutter aus gewissen Gründen, die ich Ihnen später erzählen werde, nicht in Verzweiflung über meine leichte Verletzung sein wird. Vom Duell reden Sie nur bei der Polizei, wenn es sein muß, und schicken Sie mir einen Wundarzt. Wenn Sie bis zum Schloß von Andilly kommen, das fünf Minuten vom Dorfe liegt, lassen Sie Fräulein Armance von Zohiloff rufen; sie wird meine Mutter auf Ihren Bericht vorbereiten.«

Armances Name bewirkte eine Umwälzung in Octaves Lage. Er wagte diesen Namen also auszusprechen, und er hatte sich das doch so streng verboten! Vielleicht würde er sie nicht vor Monatsfrist verlassen! Dieser Augenblick war wonnevoll.

Während des Zweikampfes war Octave der Gedanke an Armance oft gekommen, aber er hatte ihn streng unterdrückt. Nachdem er ihren Namen genannt, wagte er einen Augenblick an sie zu denken; gleich danach fühlte er sich sehr schwach. »Ach! wenn ich jetzt stürbe!« sagte er sich voller Freude, und er erlaubte sich, an Armance zu denken, wie vor der verhängnisvollen Entdeckung seiner Liebe zu ihr. Octave merkte, daß die ihn umstehenden Bauern sehr beunruhigt waren; die Zeichen ihrer Besorgnis verringerten die Gewissensbisse, die er sich machte, weil er sich erlaubt hatte, an seine Kusine zu denken. »Wenn meine Verwundung schlimm wird«, sagte er sich, »werde ich ihr schreiben dürfen. Ich war recht hart gegen sie.«

Nachdem der Gedanke, an Armance zu schreiben, einmal aufgetaucht war, nahm er völlig Besitz von Octaves Denken. »Wenn ich mich wohler fühle«, sagte er sich endlich, um seine Selbstvorwürfe zu beschwichtigen, »steht es mir immer noch frei, meinen Brief zu verbrennen.« Octave litt schwer; heftige Kopfschmerzen stellten sich ein. »Ich kann plötzlich sterben«, sagte er sich heiter und bemühte sich, einige anatomische Kenntnisse wieder aufzufrischen. »Ja, es muß mir erlaubt sein, zu schreiben!«

Schließlich war er so schwach, eine Feder, Papier und Tinte zu verlangen. Man konnte ihm ein Blatt grobes Schulpapier und eine Feder herbeischaffen, aber es war keine Tinte im Hause. Dürfen wir es gestehen? Octave war so kindisch, mit seinem Blute zu schreiben, das immer noch durch den Verband seines rechten Armes sickerte. Er schrieb mit der linken Hand, und zwar leichter, als er gehofft hatte.

»Liebe Kusine!

Ich habe zwei Wunden erhalten, die mich jede vierzehn Tage ans Haus fesseln können. Da Sie mir nach meiner Mutter das teuerste Wesen auf der Welt sind, richte ich diese Zeilen an Sie, um Ihnen folgendes mitzuteilen. Schwebte ich irgendwie in Gefahr, so sagte ich es Ihnen. Sie haben mich an die Beweise Ihrer zarten Freundschaft gewöhnt: wären Sie so gütig, wie zufällig zu meiner Mutter zu gehen, der Herr Dolier von meinem einfachen Sturz mit dem Pferde und einem Bruch des rechten Armes erzählen soll? Wissen Sie, liebe Armance, daß wir zwei Unterarmknochen haben? Einer davon ist gebrochen. Von den Verwundungen, die etwa einen Monat lang ans Haus fesseln, ist dies die einfachste, die ich mir ausdenken konnte. Ich weiß nicht, ob die Konvenienz erlaubt, daß Sie mich während meines Krankseins sehen; ich fürchte, nein. Ich habe Lust, eine Indiskretion zu begehen. Meiner engen Treppe wegen wird man mein Bett vielleicht in den Salon stellen wollen, durch den man muß, um ins Schlafzimmer meiner Mutter zu gelangen, und ich werde darauf eingehen. Bitte verbrennen Sie meinen Brief sofort . . . Ich wurde eben ohnmächtig, die natürliche und keineswegs gefährliche Folge der Hämorrhagie; da bin ich schon wieder bei medizinischen Ausdrücken. Sie waren mein letzter Gedanke, als ich das Bewußtsein verlor, und mein erster, als ich wieder zu mir kam. Wenn Sie es passend finden, kommen Sie vor meiner Mutter nach Paris. Der Transport eines Verwundeten, auch wenn es sich nur um eine bloße Verstauchung handelt, hat stets etwas Bedrückendes, das man ihr ersparen muß. Es gehört zu Ihrem Unglück, liebe Armance, daß Sie keine Eltern mehr haben. Sollte ich zufällig und gegen alle Wahrscheinlichkeit sterben, so werden Sie von einem Manne getrennt sein, der Sie mehr liebt als ein Vater seine Tochter. Ich bitte Gott, Ihnen das Glück zu schenken, das Sie verdienen. Das ist viel, sehr viel gesagt.

Octave

P.S. Verzeihen Sie die harten Worte, die damals nötig waren.«

Da der Gedanke an den Tod vor Octave getreten war, ließ er ein zweites Blatt Papier bringen und schrieb mitten darauf:

»Ich vermache das Eigentum an allem, was ich gegenwärtig besitze, meiner Kusine, Fräulein Armance von Zohiloff, als schwaches Zeugnis meiner Dankbarkeit für die Fürsorge, die sie sicherlich meiner Mutter erweisen wird, wenn ich nicht mehr bin. Geschehen zu Clamart, den . . . 182 . . .

Octave von Malivert.«

Er ließ zwei Zeugen unterschreiben, da ihm die Beschaffenheit der Tinte einige Zweifel an der Gültigkeit eines solchen Aktes erweckte.

 


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