Stendhal
Armance
Stendhal

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Achtzehntes Kapitel

Auf ihrem Alabasterbusen trägt sie ein glänzendes Kreuz, auf das Jakobs Sohn seine Lippen ehrerbietig drücken und das die Ungetreue anbeten würde.
        Schiller

 

Unwillkürlich trieb es ihn zum Schlosse. Er hatte das undeutliche Gefühl, daß Selbstgespräche für ihn das größte Übel seien, aber er hatte seine Pflicht erkannt und war sicher, den nötigen Mut zu jeder Handlung zu finden, die sich als unabweislich ergeben sollte. Er rechtfertigte seine Rückkehr zum Schlosse, die ihm die Furcht vor dem Alleinsein einflüsterte, mit dem Gedanken, daß vielleicht irgendein Dienstbote aus Paris käme und sagte, man habe ihn in der Rue Saint-Dominique nicht gesehen. Das konnte seine Torheit aufdecken und seine Mutter beunruhigen.

Als Octave, noch ziemlich weit vom Schlosse entfernt, durch den Wald schritt, sagte er sich: »Gestern waren hier noch junge Burschen, die jagten. Wenn einer davon, ein schlechter Schütze, hinter einer Hecke auf einen Vogel schösse und mich träfe, so hätte ich mir nichts vorzuwerfen. Gott, welche Wonne, einen Flintenschuß in diesen brennenden Kopf zu kriegen. Wie würde ich ihm dafür danken, bevor ich stürbe, wenn mir noch Zeit dazu bliebe!«

Wie man sieht, streifte Octave an jenem Morgen den Wahnsinn. Die romantische Hoffnung, durch Kindeshand zu fallen, ließ ihn die Schritte verlangsamen, und seine Seele, die sich dieser kleinen Schwäche nur halb bewußt ward, wollte die Berechtigung dieses Benehmens nicht ergründen. Schließlich trat er durch die kleine Gartenpforte in den Schloßgarten, und das erste Wesen, das er erblickte, war Armance. Er blieb unbeweglich stehen, sein Blut erstarrte; so bald hatte er sie nicht wiederzusehen gemeint. Kaum hatte sie ihn von weitem erkannt, so kam sie lächelnd auf ihn zu, anmutig und leichtfüßig wie ein Vogel. Nie hatte er sie so hübsch gefunden. Sie dachte an das, was er ihr am letzten Abend über sein Verhältnis zu Frau d'Aumale gesagt hatte.

»Ich sehe sie zum letztenmal!« sagte Octave sich und betrachtete sie gierig. Alles suchte er seiner Seele tief einzuprägen: ihren großen Strohhut, ihre schlanke Gestalt, die dichten Locken, die auf ihre Wangen herabfielen und einen reizenden Kontrast zu ihren durchdringenden und doch so klaren Blicken bildeten. Aber je näher Armance kam, desto schneller verloren ihre Blicke den Ausdruck des Glückes. Sie fühlte etwas Unheilverkündendes in Octaves Wesen und bemerkte seine durchnäßte Kleidung.

Mit vor Erregung bebender Stimme sagte sie: »Was haben Sie, Vetter?« Und bei diesen schlichten Worten konnte sie kaum ihre Tränen zurückhalten, so sehr fiel ihr der befremdende Ausdruck seiner Augen auf. »Gnädiges Fräulein«, entgegnete er mit eisiger Miene, »gestatten Sie mir, nicht allzu empfänglich für die Teilnahme zu sein, die Sie mir erweisen, wie um mir jede Freiheit zu rauben. Ich komme allerdings aus Paris, und meine Kleider sind naß. Wenn diese Erklärungen Ihre Neugier nicht befriedigen, kann ich ausführlicher reden . . .«

Hier hielt Octaves Grausamkeit wider Willen an.

Armance war leichenblaß geworden und schien vergebliche Anstrengungen zu machen, um sich zu entfernen. Sie wankte sichtlich und schien dem Umfallen nahe. Er trat auf sie zu, um ihr den Arm zu reichen; sie schaute ihn mit ersterbenden Blicken an, die keines Gedankens mehr fähig schienen.

Octave nahm ziemlich schroff ihre Hand unter seinen Arm und ging auf das Schloß zu. Aber er fühlte, daß auch ihn die Kräfte verließen. Dem Umfallen nahe, hatte er doch noch den Mut, ihr zu sagen: »Ich werde verreisen. Ich muß eine lange Reise nach Amerika machen. Ich werde schreiben. Ich rechne darauf, daß Sie meine Mutter trösten. Sagen Sie ihr, ich kehrte bestimmt zurück. Was Sie betrifft, gnädiges Fräulein, so hat man behauptet, ich empfände Liebe für Sie; ich bin weit entfernt, so anspruchsvoll zu sein. Zudem scheint mir, die alte Freundschaft, die uns verbindet, hätte genügen müssen, um keine Liebe aufkommen zu lassen. Wir kennen uns zu gut, um füreinander Gefühle zu hegen, die immer eine Art Illusion voraussetzen.«

In diesem Augenblick vermochte Armance nicht weiterzugehen. Sie erhob ihre Augen zu Octave und blickte ihn an. Ihre bleichen, bebenden Lippen schienen ein paar Worte sagen zu wollen. Sie wollte sich auf einen Orangenkübel stützen, hatte aber nicht die Kraft, sich zu halten, und fiel völlig besinnungslos neben dem Baum nieder.

Ohne ihr irgendwie beizuspringen, blickte Octave sie regungslos an. Sie lag in tiefer Ohnmacht. Ihre schönen Augen waren noch halb geöffnet; die Konturen ihres reizenden Mundes bewahrten noch den Ausdruck tiefen Schmerzes. Die ganze seltne Vollkommenheit ihres zarten Körpers schimmerte durch ihr leichtes Morgenkleid. Octave bemerkte ein kleines Diamantkreuz, das sie heute zum ersten Male trug.

Er war so schwach, ihre Hand zu ergreifen. Seine ganze Philosophie war dahin. Da er sah, daß der Orangenkübel ihn vor der Neugier der Schloßbewohner verbarg, kniete er neben Armance nieder. »Verzeih, geliebter Engel!« flüsterte er, während er ihre eisige Hand mit Küssen bedeckte. »Nie hab' ich dich mehr geliebt!«

Armance bewegte sich; Octave erhob sich mit krampfhafter Anstrengung. Bald konnte sie wieder gehen; er führte sie ins Schloß zurück, ohne daß er sie anzublicken wagte. Er machte sich bittre Vorwürfe über die unwürdige Schwäche, zu der er sich hatte hinreißen lassen. Hätte Armance sie bemerkt, so wäre die ganze Grausamkeit seiner Rede unnütz gewesen. Nach der Rückkehr ins Schloß verließ sie ihn eilends.

Sobald Frau von Malivert aufgestanden war, ließ Octave sich bei ihr melden und warf sich in ihre Arme. »Liebe Mama«, sagte er, »laß mich reisen. Das ist das einzige Mittel, um einer verabscheuten Heirat zu entgehen, ohne die Achtung zu verletzen, die ich meinem Vater schulde.« Höchst erstaunt suchte Frau von Malivert etwas Näheres über diese angebliche Heirat herauszubekommen.

»Wie!« sagte sie. »Weder den Namen des Fräuleins noch etwas über die Familie kann ich von dir erfahren! Aber das ist ja Wahnsinn!« Bald wagte Frau von Malivert dies Wort nicht mehr zu gebrauchen: es schien ihr nur zu wahr. Von ihrem Sohn, der fest entschlossen schien, noch am selben Tage abzureisen, konnte sie nur das eine erreichen, daß er nicht nach Amerika ging. Das Reiseziel war Octave gleich; er hatte nur an den Schmerz der Trennung gedacht.

Da er sich im Gespräch mit seiner Mutter zu maßvolleren Gedanken zwang, um sie nicht zu erschrecken, fiel ihm plötzlich ein stichhaltiger Grund ein: »Liebe Mama, ein Mann, der den Namen Malivert trägt und mit zwanzig Jahren leider noch nichts geleistet hat, muß zuerst wie unsere Ahnen zum Kreuzzug ausziehen. Bitte, erlaube mir, nach Griechenland zu gehen. Wenn du willst, sage ich meinem Vater, ich reiste nach Neapel. Dort kann mich die Neugier wie zufällig nach Griechenland locken, und ist es nicht natürlich, daß ein Edelmann dies Land mit dem Degen in der Hand sieht? Diese Art, meine Reise anzukündigen, wird ihr alles Anspruchsvolle nehmen . . . «

Dieser Plan beunruhigte Frau von Malivert sehr, aber es lag etwas Hochherziges darin, und er entsprach seinen Pflichtbegriffen. Nach zweistündiger Unterredung, die für Octave ein Augenblick der Ruhe war, erlangte er die Zustimmung seiner Mutter. In den Armen dieser zärtlichen Freundin genoß er für ein Weilchen das Glück, weinen zu können. Er ging auf Bedingungen ein, die er beim Betreten ihres Zimmers noch abgelehnt hätte. So versprach er ihr, wenn sie es verlangte, ein Jahr nach seiner Einschiffung nach Griechenland zwei Wochen zu Besuch zu ihr zu kommen. »Aber, liebe Mama, um es mir zu ersparen, daß meine Reise in der Zeitung steht, laß mich dich auf dem Gut Malivert im Dauphiné besuchen.« Alles wurde nach seinen Wünschen geregelt, und Tränen der Zärtlichkeit besiegelten diese unerwartete Abreise. Als Octave seine Mutter verlassen und seine Pflichten Armance gegenüber erfüllt hatte, fand er die nötige Kaltblütigkeit, um bei dem Marquis einzutreten. »Lieber Vater«, sagte er, nachdem er ihn umarmt hatte, »erlaube deinem Sohn eine Frage: Welches war die erste Tat Enguerrands von Malivert, der 1147 unter Ludwig dem Kinde lebte?«

Der Marquis öffnete eifrig seinen Schreibtisch und nahm eine schöne Pergamentrolle hervor, die ihn nie verließ: es war sein Familienstammbaum. Mit größtem Vergnügen sah er, daß das Gedächtnis seinen Sohn nicht getrogen hatte. »Mein Lieber«, sagte der Greis, seine Brille abnehmend, »Enguerrand von Malivert zog 1147 mit seinem König in den Kreuzzug.« – »War er damals nicht neunzehn Jahre alt?« fragte Octave. »Genau neunzehn Jahre«, entgegnete der Marquis, und seine Befriedigung über die Hochachtung des jungen Vicomte für den Stammbaum der Familie nahm noch zu.

Nachdem Octave seinem Vater Zeit gelassen, seine Befriedigung auszukosten und seine Seele damit zu erfüllen, fuhr er mit fester Stimme fort: »Vater, Adel verpflichtet! Ich bin über zwanzig Jahre. Mit Büchern habe ich mich genügend beschäftigt. Ich bitte um deinen Segen und um die Erlaubnis, eine Reise nach Italien und Sizilien machen zu dürfen. Ich will dir nicht verhehlen – aber dir allein vertraue ich es an –, daß es mich von Sizilien nach Griechenland hinüberziehen wird. Ich werde versuchen, an einem Kampfe teilzunehmen, und dann zu dir zurückkehren, vielleicht etwas würdiger des schönen Namens, den du mir vererbt hast.«

Der Marquis war zwar sehr tapfer, besaß aber nicht die Seele seiner Vorfahren zur Zeit Ludwigs des Kindes. Er war Vater, und zwar ein zärtlicher Vater des 19. Jahrhunderts, somit über Octaves plötzlichen Entschluß völlig bestürzt; ein weniger heldenhafter Sohn wäre ihm lieber gewesen. Immerhin machte ihm die ernste Miene dieses Sohnes und die feste Entschlossenheit seines Benehmens starken Eindruck. Charakterfest war er nie gewesen, und so wagte er eine Erlaubnis nicht zu versagen, um die sein Sohn ihn in einer Weise bat, als würde er seinen Willen auch ohne sie durchsetzen.

»Du brichst mir das Herz«, sagte der gute Greis, wieder an seinen Schreibtisch tretend, und ohne daß sein Sohn ihn darum bat, schrieb er mit zitternder Hand eine Anweisung auf eine ziemlich beträchtliche Summe für einen Notar, bei dem er Geld stehen hatte. »Nimm das«, sagte er zu Octave, »und gebe Gott, daß es nicht das letzte Geld ist, das ich dir gebe.«

Es läutete zum Frühstück. Zum Glück waren die Damen d'Aumale und Bonnivet in Paris, und die betrübte Familie war nicht gezwungen, ihren Schmerz hinter leeren Worten zu verbergen. Octave fühlte sich durch das Bewußtsein erfüllter Pflicht etwas gestärkt und fand den Mut, weiterzugehen. Eigentlich hatte er schon vor dem Frühstück abreisen wollen, aber er dachte, daß es besser sei, sich wie gewöhnlich zu benehmen: die Dienstboten konnten sonst schwatzen. Er setzte sich Armance gegenüber an den kleinen Frühstückstisch.

»Ich sehe sie zum letztenmal im Leben«, sagte er sich. Zum Glück verbrannte Armance sich beim Teemachen ziemlich schmerzhaft die Hand. Dieser Zufall hätte ihre Verwirrung entschuldigt, wäre jemand in dem kleinen Saale so kaltblütig gewesen, sie zu bemerken. Herr von Malivert sprach mit zitternder Stimme; zum erstenmal im Leben fand er nichts Liebenswürdiges zu sagen. Er überlegte, ob sich diese Abreise nicht durch irgendeinen Vorwand verschieben ließe, der mit dem großen Worte »Adel verpflichtet« zusammenhing, das sein Sohn so zu rechter Zeit gesprochen hatte.

 


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