Stendhal
Armance
Stendhal

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Dreißigstes Kapitel

Er schlug sich rasch in eine Lindenallee, um ihn ungestört zu lesen. Schon bei den ersten Zeilen merkte er, daß der Brief für Fräulein Méry de Tersan bestimmt war – es war der vom Komtur verfaßte Brief. Aber die ersten Zeilen hatten ihn derart beunruhigt, daß er weiterlas:

»Ich weiß nicht, wie ich auf deine Vorwürfe antworten soll. Du hast recht, liebe Freundin, ich bin töricht, zu klagen. Diese Verbindung übertrifft in jeder Hinsicht alles, was ein armes, über Nacht reich gewordenes Mädchen erwarten kann, das keine Familie besitzt, die für ihr Unterkommen sorgen und sie beschützen kann. Er ist ein geistvoller und höchst tugendhafter Mann – vielleicht zu tugendhaft für mich. Soll ich's Dir gestehen? Die Zeiten haben sich geändert. Was vor ein paar Monaten noch der Gipfel der Seligkeit für mich gewesen wäre, ist jetzt nur noch eine Pflicht. Hat der Himmel mir die Fähigkeit versagt, in der Liebe beständig zu sein? Ich gehe eine vernünftige, vorteilhafte Verbindung ein, das sage ich mir unablässig, aber mein Herz empfindet nicht mehr jene holden Wallungen, die einst der Anblick des vollkommensten Mannes hervorrief, der in meinen Augen auf Erden lebt, des einzigen Wesens, das geliebt zu werden verdient. Heute sehe ich, daß seine Laune sehr ungleich ist, aber warum soll ich ihn anklagen? Er hat sich nicht geändert; mein ganzes Unglück liegt darin, daß mein Herz nicht mehr das gleiche ist. Ich gehe eine in jeder Hinsicht vorteilhafte und ehrenvolle Ehe ein, aber, liebe Méry, ich erröte bei dem Geständnis: ich heirate nicht mehr das Wesen, das ich über alles liebte. Ich finde ihn ernst und manchmal wenig unterhaltend, und mit ihm soll ich mein ganzes Leben verbringen! Wahrscheinlich in einem einsamen Schloß irgendwo fern in der Provinz, wo wir den Volksschulunterricht und die Impfung einführen werden. Vielleicht, liebe Freundin, werde ich mich nach dem Salon der Frau von Bonnivet zurücksehnen: wer hätte uns das vor sechs Monaten gesagt? Diese seltsame Unbeständigkeit meines Charakters betrübt mich am meisten. Ist denn Octave nicht der hervorragendste junge Mann, den wir diesen Winter gesehen haben? Aber ich habe eine so traurige Jugend verbracht! Ich hätte gern einen unterhaltsameren Gatten gehabt. Lebe wohl! Übermorgen erlaubt man mir, nach Paris zu fahren. Um elf Uhr werde ich an Deiner Tür sein.«

Octave blieb stehen, von Grausen gepackt. Plötzlich erwachte er wie aus einem Traum; er eilte nach dem Orangenkübel, um seinen Brief wiederzuholen. Er zerriß ihn wütend und steckte die Fetzen in seine Tasche.

»Ich brauchte die wahnsinnigste und tiefste Leidenschaft, um Verzeihung für mein unheilvolles Geheimnis zu finden«, stellte er kalt fest. »Wider alle Vernunft, wider alles, was ich mir zeitlebens geschworen, glaubte ich ein übermenschliches Wesen gefunden zu haben. Um eine solche Ausnahme zu verdienen, hätte ich liebenswürdig und heiter sein müssen, und gerade das fehlt mir. Ich habe mich getäuscht; mir bleibt nur der Tod. Es hieße zweifellos gegen die Ehre verstoßen, wenn ich das Geständnis nicht ablegte, wenn ich Fräulein von Zohiloff für ewig an mich kettete. Aber nach einem Monat kann ich sie freigeben. Sie wird eine junge, reiche, sehr schöne und gewiß sehr umworbene Witwe sein, und der Name Malivert wird ihr besser dazu dienen, einen unterhaltsamen Gatten zu finden, als der noch wenig bekannte Name Zohiloff.«

Mit solchen Gefühlen ging Octave zu seiner Mutter; dort traf er Armance, die von ihm sprach und an seine baldige Rückkehr dachte. Bald war sie ebenso bleich und fast ebenso unglücklich wie er, und doch hatte er seiner Mutter soeben gesagt, er könne den Aufschub seiner Heirat nicht länger ertragen. »Viele möchten mein Glück stören«, hatte er hinzugesetzt; »des bin ich sicher. Was brauchen wir so viele Vorbereitungen? Armance ist reicher als ich, und es ist unwahrscheinlich, daß es ihr je an Kleidern oder Schmuck fehlen wird. Ich wage zu hoffen, daß sie vor Ende des zweiten Jahres unsrer Ehe heiter und glücklich sein und alle Vergnügungen von Paris genießen wird und daß sie den Schritt, den sie vorhat, nie bereuen wird. Ich denke, sie wird nie auf dem Lande in irgendein altes Schloß vergraben sein.«

Octaves Tonfall war so seltsam und paßte so wenig zu dem Wunsch, den er aussprach, daß Armance und Frau von Malivert fast gleichzeitig fühlten, wie die Tränen in ihre Augen traten. Armance hatte kaum die Kraft zu antworten: »Ach, lieber Freund, wie grausam sind Sie!«

Äußerst unzufrieden, daß er kein Glück heucheln konnte, ging Octave unvermittelt hinaus. Der Entschluß, seine Ehe mit dem Tode zu enden, gab seinem Wesen etwas Hartes und Grausames. Nachdem Frau von Malivert mit Armance über den vermeintlichen Wahnsinn ihres Sohnes geweint hatte, kam sie zu dem Schluß, daß Einsamkeit für einen von Natur düsteren Charakter nichts tauge. »Liebst du ihn immer noch trotz dieses Fehlers, unter dem er selbst am meisten leidet?« fragte Frau von Malivert. »Befrage dein Herz, mein Kind. Ich will nicht, daß du unglücklich wirst. Noch läßt sich alles rückgängig machen.« – »Ach, Mama, ich glaube, ich liebe ihn noch mehr, seit ich ihn nicht mehr so vollkommen weiß.« – »Wohlan, Kind«, versetzte Frau von Malivert, »dann will ich deine Hochzeit in acht Tagen veranstalten. Bis dahin sei nachsichtig gegen ihn. Er liebt dich, daran kannst du nicht zweifeln. Du weißt, welche Auffassung er von seinen Pflichten gegen seine Verwandten hat, und doch sahst du seine Wut, als er dich den üblen Redensarten meines Bruders ausgesetzt glaubte. Sei sanft und gut, liebes Kind, gegen einen, den irgendein wunderliches Vorurteil gegen die Ehe unglücklich macht.«

Armance, für die diese hingeworfenen Worte einen tiefen Sinn hatten, verdoppelte ihre Aufmerksamkeiten und ihre zärtliche Hingebung für Octave.

Am nächsten Tag in aller Frühe begab er sich nach Paris und gab eine beträchtliche Summe, fast zwei Drittel dessen, worüber er verfügen konnte, für kostbare Schmucksachen aus, die er in den Brautkorb legen ließ. Dann ging er zum Notar seines Vaters und ließ in den Ehekontrakt noch höchst vorteilhafte Bestimmungen für seine künftige Gattin aufnehmen, die ihr für den Fall ihrer Witwenschaft die glänzendste Unabhängigkeit sicherten.

Mit Sorgen dieser Art füllte Octave die zehn Tage aus, die zwischen der Entdeckung von Armances vermeintlichem Brief und seiner Hochzeit verflossen. Sie waren für Octave ruhiger, als er zu hoffen gewagt hatte.

Was zarten Seelen das Unglück so grausam macht, ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, der bisweilen noch aufflackert. Octave hatte keinen. Sein Entschluß stand fest, und für starke Seelen mag der gefaßte Entschluß noch so hart sein, er entbindet sie vom Grübeln über ihr Schicksal und fordert nur noch den Mut zu pünktlicher Ausführung; und das ist wenig.

Was Octave am meisten betroffen machte, wenn die notwendigen Vorbereitungen und Besorgungen aller Art ihm Zeit für sich selbst ließen, das war das tiefe Erstaunen, daß Fräulein von Zohiloff ihm nichts mehr war! Er war es derart gewohnt, fest an die Ewigkeit seiner Liebe und ihres Herzensbundes zu glauben, daß er immerfort vergaß, daß alles sich geändert hatte; er konnte sich das Leben ohne Armance nicht vorstellen. Fast jeden Morgen beim Erwachen mußte er sich sein Unglück erst wieder klarmachen. Das war ein grausamer Augenblick. Aber bald tröstete ihn der Gedanke an den Tod und gab seinem Herzen die Ruhe wieder.

Immerhin machte ihn gegen das Ende dieser zehn Tage Armances äußerste Zärtlichkeit für Augenblicke schwach. Auf ihren einsamen Spaziergängen glaubte Armance sich durch ihre baldige Heirat dazu berechtigt, ein- oder zweimal Octaves Hand zu ergreifen, die sehr schön geformt war, und sie an die Lippen zu führen. Diese Verdoppelung zarter Fürsorge, die Octave wohl bemerkte und für die er wider Willen sehr empfänglich war, machte den Schmerz, den er überwunden zu haben glaubte, oft stark und quälend.

Er stellte sich vor, was diese Liebkosungen bedeutet hätten, wären sie von einem Wesen gekommen, das ihn wahrhaft liebte, von Armance, wie sie nach ihrem eigenen Geständnis in dem schicksalsvollen Brief an Méry de Tersan noch vor zwei Monaten war. »Und mein Mangel an Liebenswürdigkeit und Frohsinn konnte ihre Liebe verlöschen lassen«, sagte Octave sich bitter. »Ach, ich hätte die Kunst lernen sollen, mich in der Welt beliebt zu machen, statt mich mit so vielen eitlen Wissenschaften zu befassen! Was haben sie mir genützt? Was haben mir meine Erfolge bei Frau d'Aumale genützt? Sie hätte mich geliebt, wenn ich nur gewollt hätte. Ich war nicht geschaffen, zu gefallen, wo ich achtete. Offenbar macht eine unselige Schüchternheit mich trübselig und unliebenswürdig, wenn ich leidenschaftlich danach trachte, zu gefallen. Armance hat mir stets Furcht eingeflößt. Nie bin ich vor sie getreten, ohne das Gefühl, vor dem Herrn meines Schicksals zu stehen. Ich hätte mir aus der Erfahrung und aus dem, was ich in der Welt sah, richtigere Gedanken über die Wirkung bilden sollen, die ein liebenswürdiger Mann hervorruft, der ein junges Mädchen von zwanzig Jahren fesseln will . . . Aber das alles ist jetzt unnütz«, sagte Octave mit trübem Lächeln. »Mein Leben ist zu Ende«, unterbrach er sich. »Vixi et quam dederat fortuna sortem peregi.Die Worte der sterbenden, von Aeneas verlassenen Dido: »Ich habe gelebt und das vom Schicksal gewollte Los erfüllt.«« Bisweilen ging Octave in seiner finsteren Stimmung so weit, in Armances zärtlichem Benehmen, das so wenig zu der ihr angeborenen äußersten Zurückhaltung paßte, die Erfüllung einer peinlichen Pflicht zu sehen, die sie sich auferlegte. Dann war die Schroffheit seines Betragens ohnegleichen, ja sie grenzte an Wahnsinn.

War er in andern Augenblicken weniger unglücklich, so ließ er sich von der verführerischen Anmut dieses jungen Mädchens rühren, das alsbald seine Frau werden sollte. Und fürwahr, es ließ sich schwerlich etwas Rührenderes und Edleres vorstellen als die Zärtlichkeiten dieses sonst so zurückhaltenden jungen Mädchens, das ihren Lebensgewohnheiten Gewalt antat, um dem geliebten Mann etwas Ruhe zu schenken. Sie glaubte ihn von Gewissensbissen gepeinigt und empfand doch eine heftige Leidenschaft für ihn. Seit die Hauptaufgabe ihres Lebens nicht mehr darin bestand, ihre Liebe zu verbergen und sich Vorwürfe darüber zu machen, war Octave ihr noch teurer geworden.

Eines Tages, bei einem Spaziergang nach dem Walde von Ecouen, ließ Armance sich von ihren eigenen zärtlichen Worten so weit hinreißen, ihm zu sagen, und zwar völlig ehrlich: »Ich habe manchmal die Idee, ein Verbrechen wie das deine zu begehen, damit du mich nicht mehr fürchtest.« Octave war von dem Ton wahrer Leidenschaft betroffen und begriff ihren ganzen Gedankengang. Er blieb stehen und blickte sie fest an. Es fehlte wenig, daß er ihr den Geständnisbrief gegeben hätte, dessen Fetzen er noch immer bei sich trug. Als er aber seine Hand in die Rocktasche steckte, fühlte er das dünnere Papier des falschen Briefes an Méry de Tersan, und sein guter Vorsatz erstarrte.

 


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