Stendhal
Armance
Stendhal

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Zwanzigstes Kapitel

A fine woman! a fair woman! a sweet woman!
– Nay, you must forget that.
– O, the world has not a sweeter creature.
        Othello, Act IV

 

Während Armance allein in einem völlig abgelegenen Teil des Waldes von Andilly erging, traf Octave in Paris seine Reisevorbereitungen. Er empfand abwechselnd eine Ruhe, die ihn selbst erstaunte, und Augenblicke qualvollster Verzweiflung. Wollen wir versuchen, alle Abarten des Schmerzes zu schildern, die jeden Moment seines Lebens bezeichneten? Wird der Leser dieser traurigen Einzelheiten nicht überdrüssig werden?

Er glaubte immerfort, dicht neben seinen Ohren sprechen zu hören, und dieser seltsame, unerwartete Eindruck ließ ihn sein Unglück keinen Augenblick vergessen.

Die gleichgültigsten Dinge erinnerten ihn an Armance. Sein Wahnsinn ging so weit, daß er kein A oder Z auf einem Plakat oder einem Ladenschild sehen konnte, ohne gewaltsam an diese Armance von Zohiloff erinnert zu werden, die zu vergessen er sich geschworen hatte. Dieser Gedanke heftete sich an ihn wie ein verzehrendes Feuer und mit dem ganzen Reiz der Neuheit, mit dem ganzen Interesse, als ob er seit einer Ewigkeit nicht an seine Kusine gedacht hätte.

Alles verschwor sich gegen ihn. Er half seinem Diener, dem braven Voreppe, Pistolen einpacken; das Geschwätz dieses Mannes, der entzückt war, allein mit seinem Herrn zu reisen und alle Einzelheiten anzuordnen, lenkte ihn etwas ab. Da bemerkte er plötzlich auf dem Beschlag der einen Pistole die in Abkürzung eingravierten Worte: »Armance versucht mit dieser Waffe zu schießen. 3. September 182 . .«

Er nimmt eine Karte von Griechenland vor; als er sie aufschlägt, fällt eine jener Nadeln mit rotem Fähnchen heraus, mit denen Armance die Stellungen der Türken bei der Belagerung von Missolunghi markiert hatte.

Die Karte entfiel seinen Händen. Er blieb starr vor Verzweiflung. »Es ist mir also versagt, sie zu vergessen!« rief er gen Himmel blickend. Umsonst suchte er fest zu bleiben. Alles, was ihn umgab, trug Zeichen der Erinnerung an sie. Ihr teurer Name stand abgekürzt, mit irgendeinem wichtigen Datum versehen, überall geschrieben.

Octave lief in seinem Zimmer auf und ab, gab Befehle und widerrief sie sofort. »Ach!« sagte er sich im Übermaß seines Schmerzes, »ich weiß nicht mehr, was ich will. O Himmel, kann man mehr leiden?« Nichts bereitete ihm Linderung. Er machte die wunderlichsten Bewegungen. Empfand er dabei Verwunderung und körperlichen Schmerz, so lenkte ihn das eine halbe Sekunde lang von Armances Bild ab. Jedesmal, wenn dies Bild wieder vor seinen Geist trat, suchte er sich einen ziemlich heftigen körperlichen Schmerz anzutun. Von allen Hilfsmitteln, die er ersann, war dies noch das wirksamste.

»Ach!« sagte er sich in andern Augenblicken, »ich darf sie nie wiedersehen. Dieser Schmerz ist schlimmer als alle andern. Er ist eine scharfe Waffe, deren Spitze ich abstumpfen muß, indem ich sie mir lange genug ins Herz bohre.«

Er schickte seinen Diener fort, um irgend etwas zu kaufen, was er zu seiner Reise brauchte. Er hatte das Bedürfnis, von seiner Gegenwart befreit zu sein; er wollte sich eine kurze Weile ganz seinem furchtbaren Schmerz überlassen, den der Zwang noch zu verschärfen schien.

Kaum war der Diener fünf Minuten fort, so erschien es ihm als Erleichterung, mit ihm reden zu können; einsam zu leiden, war ihm zur schlimmsten Qual geworden. »Und ich kann mich nicht einmal töten!« rief er aus. Er trat an das Fenster und blickte nach etwas aus, was ihn einen Augenblick ablenken könnte.

Der Abend kam; auch die Trunkenheit half ihm nichts. Er hatte sich von ihr etwas Schlaf erhofft, aber sie machte ihn nur wahnsinnig. Er erschrak vor den Gedanken, die ihm kamen, die ihn zum Gerede des Hauses machen und mittelbar Armance bloßstellen konnten. »Besser wäre es, mir zu erlauben, ein Ende zu machen«, sagte er sich und schloß sich ein.

Die Nacht war vorgerückt. Er stand unbeweglich auf dem Balkon vor seinem Fenster und blickte gen Himmel. Das geringste Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, aber nach und nach verstummte jeder Lärm. Diese tiefe Stille, die ihn ganz sich selbst überließ, schien ihm das Schreckliche seiner Lage noch zu vermehren. Fand er in seiner äußersten Erschöpfung einen Augenblick halber Ruhe, so weckte ihn jählings das verworrene Summen menschlicher Stimmen wieder auf, die er dicht an seinem Ohr zu vernehmen wähnte.

Als der Friseur am nächsten Morgen bei ihm eintrat, um ihm die Haare zu schneiden, war die innere Qual, die ihn zum Handeln trieb, so furchtbar, daß er Lust hatte, dem Manne um den Hals zu fallen und ihm zu sagen, wie beklagenswert er sei. So glaubt der Unglückliche, den das Messer des Chirurgen martert, seinem Schmerz durch einen wilden Schrei Luft zu machen.

In den erträglichsten Augenblicken hatte Octave das Bedürfnis, sich mit seinem Diener zu unterhalten. Die albernsten Kleinigkeiten schienen seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen, und er widmete sich ihnen mit peinlichster Sorgfalt.

Sein Unglück hatte ihn äußerst bescheiden gemacht. Erinnerte er sich irgendeiner jener kleinen Streitereien, die in der Gesellschaft vorkommen, so wunderte er sich stets über die unhöfliche Energie, die er entfaltet hatte; ihm schien, daß sein Gegner stets recht gehabt hätte und er stets unrecht.

Das Bild jedes Unglücks, das ihm im Leben widerfahren war, stellte sich mit schmerzhafter Eindringlichkeit ein, und weil er Armance nicht mehr sehen sollte, erwachte bitterer denn je die Erinnerung an die Fülle kleiner Leiden, die ein Blick von ihr in Vergessenheit gebracht hätte. Er, der langweilige Besuche so verabscheut hatte, wünschte sie jetzt herbei. Jeder Dummkopf, der ihn besuchte, war eine Stunde lang sein Wohltäter. Er mußte einer entfernten Verwandten einen Höflichkeitsbrief schreiben, aber die Verwandte war versucht, darin eine Liebeserklärung zu sehen, so aufrichtig und eingehend sprach er von sich selbst und so sehr war zu merken, welches Bedürfnis der Schreiber nach Mitleid empfand.

Unter diesen wechselnden Schmerzen war der Abend des zweiten Tages herangerückt, seit er Armance verlassen hatte. Octave kam von seinem Sattler. Alle Zurüstungen sollten in der Nacht beendet werden, so daß er am nächsten Morgen abreisen konnte.

Sollte er nochmals nach Andilly zurückkehren? Diese Frage erwog er lebhaft bei sich selbst. Mit Schrecken sah er, daß er seine Mutter nicht mehr liebte, denn sie spielte keine Rolle bei den Gründen, aus denen er Andilly wiedersehen wollte. Er fürchtete Fräulein von Zohiloffs Anblick, und das um so mehr, als er sich bisweilen sagte: »Aber ist mein ganzes Benehmen denn nicht Selbstbetrug?« Er wagte es nicht zu bejahen, aber dann sagte die Stimme der Versuchung: »Ist es nicht eine heilige Pflicht, meine arme Mutter nochmals zu sehen, wie ich es versprochen habe? – Nein, Unseliger!« rief sein Gewissen, »diese Antwort ist nur eine Ausflucht, du liebst deine Mutter nicht mehr.«

In diesem bangen Augenblick blieben seine Augen mechanisch auf einem Theaterzettel haften, auf dem er das Wort »Othello« in Riesenlettern sah. Dies Wort erinnerte ihn an das Dasein von Frau d'Aumale. »Vielleicht ist sie nach Paris gekommen, um ›Othello‹ zu sehen. In diesem Fall habe ich die Pflicht, sie noch einmal zu sehen. Ich muß ihr meine plötzliche Reise als den Einfall eines Menschen darstellen, der sich langweilt. Ich habe diesen Plan meinen Freunden seit langem vorenthalten, aber seit Monaten wurde meine Abreise nur durch jene Art von Geldverlegenheiten verzögert, über die man mit reichen Freunden nicht reden mag.«

 


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