Stendhal
Armance
Stendhal

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Neunzehntes Kapitel

He unworthy you say?
'Tis impossible. It would
Be more easy to die.
        Deckar

 

Octave glaubte zu bemerken, daß Fräulein von Zohiloff ihn manchmal ziemlich ruhig ansah. Trotz seiner herben Mannhaftigkeit, die ihm streng verbot, an nicht mehr bestehende Beziehungen zu denken, konnte er den Gedanken nicht abwehren, daß er sie zum erstenmal wiedersah, seit er sich seine Liebe zu ihr gestanden. Am Morgen im Garten hatte ihn der Zwang zu handeln verwirrt. »Das also ist der Eindruck, den der Anblick eines geliebten Weibes macht!« sagte er sich. »Aber möglicherweise empfindet Armance nur Freundschaft für mich. Wenn ich heute nacht das Gegenteil annahm, so war auch das nur eine Anwandlung von Überhebung.« Während dieses peinlichen Frühstücks fiel kein Wort über das, was alle Herzen beschäftigte. Während Octave bei seinem Vater war, hatte Frau von Malivert Armance rufen lassen, um ihr den seltsamen Reiseplan mitzuteilen. Das arme Mädchen bedurfte der Aufrichtigkeit. Sie konnte sich nicht enthalten, zu Frau von Malivert zu sagen: »Nun sehen Sie, Mama, ob Ihre Gedanken begründet waren.«

Die beiden liebenswerten Frauen waren in den tiefsten Schmerz versunken. »Was ist die Ursache dieser Abreise?« fragte Frau von Malivert mehrfach. »Denn ein Wahnsinnsanfall kann es nicht sein; davon hast du ihn geheilt.« Sie kamen überein, mit niemand von Octaves Reise zu sprechen, nicht einmal mit Frau von Bonnivet. Man dürfe ihn nicht an seinen Plan binden, meinte Frau von Malivert, und vielleicht bliebe dann noch eine Hoffnung: er würde ein so überstürztes Vorhaben aufgeben.

Dies Gespräch steigerte Armances Qual womöglich noch. Getreu dem ewigen Schweigen, das sie dem zwischen sich und ihrem Vetter bestehenden Gefühl schuldig zu sein glaubte, litt sie nun die Qual ihrer Verschwiegenheit. Die Worte der Frau von Malivert, dieser klugen Freundin, die sie so zärtlich liebte, bezogen sich auf Dinge, die Armance nur unvollkommen kannte; sie konnten ihr daher keinerlei Trost geben.

Und doch, welches Bedürfnis hätte sie gehabt, eine Freundin über die verschiedenen Ursachen um Rat zu fragen, die nach ihrer Meinung das wunderliche Benehmen ihres Vetters hatten herbeiführen können! Aber nichts auf der Welt, auch nicht der wilde Schmerz, der ihre Seele zerriß, konnte sie vergessen lassen, was eine Frau sich selbst schuldet. Eher wäre sie vor Scham gestorben, als die Worte zu wiederholen, die der geliebte Mann ihr am Morgen gesagt hatte. »Machte ich solch eine Anvertrauung und Octave erführe davon«, sagte sie sich, »so würde er mich nicht mehr achten.«

Nach dem Frühstück reiste Octave schleunigst nach Paris ab. Er handelte jählings; er hatte darauf verzichtet, sich Rechenschaft über sein Benehmen abzulegen. Er begann die ganze Bitterkeit seines Reiseplans zu empfinden und fürchtete die Gefahr, mit Armance allein zu sein. War ihre engelhafte Güte nicht über die furchtbare Härte seines Benehmens erzürnt, ließ sie sich herab, mit ihm zu sprechen – wie konnte er dann dafür einstehen, daß er nicht weich wurde, wenn er dieser so schönen und so vollkommenen Kusine auf ewig Lebewohl sagte?

Sie würde dann merken, daß er sie liebte, und trotzdem müßte er unverzüglich abreisen, mit dem ewigen Vorwurf, selbst in diesem letzten Augenblick nicht seine Pflicht getan zu haben. Galten seine heiligsten Pflichten nicht dem Wesen, das ihm das liebste auf Erden war und dessen Seelenruhe er vielleicht aufs Spiel gesetzt hatte?

Octave verließ den Schloßhof mit dem Gefühl eines, der zum Tode geht, und wahrlich, er wäre glücklich gewesen, nur den Schmerz eines Menschen zu fühlen, den man zum Richtplatz führt. Er hatte die Einsamkeit der Reise gefürchtet, und nun litt er kaum; er wunderte sich über diese Ruhepause, die das Unglück gewährt. Er hatte eine zu harte Lehre der Bescheidenheit erhalten, als daß er diese Ruhe der eitlen Philosophie zugeschrieben hätte, die dereinst sein Stolz gewesen war. In dieser Hinsicht hatte das Unglück einen neuen Menschen aus ihm gemacht. Seine Kräfte waren durch so viele Anstrengungen und heftige Gefühle erschöpft, so daß er nichts mehr fühlte. Kaum war er von Andilly in die Ebene gelangt, so fiel er in einen bleiernen Schlaf, und er erstaunte, als er sich bei der Ankunft in Paris von dem Diener geführt sah, der bei der Abfahrt hinten auf seinem Kabriolett gesessen hatte.

Im Schloßgiebel hinter einem Sommerladen hatte Armance seine Abreise beobachtet. Als sein Kabriolett hinter den Bäumen verschwunden war, stand sie noch immer starr auf der Stelle und sagte sich: »Alles ist aus, er wird nicht zurückkehren.«

Gegen Abend, als sie lange geweint hatte, stellte sich eine Frage ein, die ihren Schmerz etwas ablenkte. »Dieser Octave hat so ausnehmend höfliche Manieren, und seine Freundschaft war so aufmerksam, so ergeben, ja vielleicht so zärtlich«, fügte sie errötend hinzu. »Wie konnte er da, nur wenige Stunden nach unserm gemeinsamen Abendspaziergang, einen so harten, beleidigenden Ton anschlagen, der seinem ganzen Wesen so fremd ist? Gewiß hat er nichts von mir erfahren können, was ihn hätte kränken können.« Armance suchte sich alle Einzelheiten ihres Benehmens zu vergegenwärtigen, mit dem geheimen Wunsch, irgendeinen Fehler zu entdecken, der Octaves wunderlichen Ton ihr gegenüber gerechtfertigt hätte. Sie fand nichts Tadelnswertes; sie war unglücklich, kein Unrecht an sich zu entdecken, als plötzlich ein alter Gedanke wieder auftauchte.

Hatte Octave nicht etwa einen Rückfall in jene Raserei gehabt, die ihn früher zu mehreren sonderbaren Gewalttaten hingerissen hatte? Diese Erinnerung, obwohl anfangs sehr peinlich, war ein Lichtblick. Armance war so unglücklich, daß alle Überlegungen, die sie anstellen mochte, ihr bald diese Erklärung als die wahrscheinlichste bewiesen. Es war ein unendlicher Trost für sie, Octave nicht für ungerecht zu halten, einerlei, worin seine Entschuldigung bestand.

Ja, sein Wahnsinn! Wenn er wahnsinnig war, liebte sie ihn nur um so leidenschaftlicher. »Er wird meiner ganzen Hingabe bedürfen, und die wird ihm nie fehlen«, setzte sie mit Tränen in den Augen hinzu. Ihr Herz pochte vor Hochherzigkeit und Mut. »Vielleicht macht Octave sich jetzt übertriebene Vorstellungen von den Pflichten eines jungen Edelmannes, der noch nichts geleistet hat und den es nach Griechenland lockt. Wollte sein Vater ihn nicht vor ein paar Jahren veranlassen, Malteserritter zu werden? Mehrere Mitglieder seiner Familie sind es gewesen. Da er ihren erlauchten Namen erbt, fühlt er sich vielleicht verpflichtet, ihren Schwur, die Türken zu bekriegen, zu halten.«

Es fiel Armance ein, daß Octave an dem Tage, als der Fall von Missolunghi bekannt wurde, zu ihr gesagt hatte: »Ich begreife die schöne Ruhe meines Onkels, des Komturs, nicht. Er hat doch einen Eid abgelegt und vor der Revolution die Früchte einer beträchtlichen Pfründe genossen. Und da verlangen wir Achtung von der Partei der Industriellen!«

Nach längerem Verweilen bei dieser tröstlichen Erklärung für das Benehmen ihres Vetters sagte sich Armance: »Vielleicht ist irgendein persönliches Motiv noch zu der allgemeinen Verpflichtung hinzugetreten, durch die Octaves edle Seele sich, was leicht möglich ist, gebunden fühlt. Seine Absicht, Priester zu werden, die er früher, vor den Erfolgen eines Teiles der Geistlichkeit, hegte, hat vielleicht neuerdings zu irgendeiner Bemerkung über ihn Anlaß gegeben. Vielleicht hält er es seines Namens für würdiger, nach Griechenland zu gehen und dort zu zeigen, daß er seinen Ahnen nicht nachsteht, als in Paris irgendwelchen dunklen Geschäften nachzugehen, deren Anlaß zu erklären stets peinlich wäre und ihn beflecken könnte . . . Er hat es mir zwar nicht gesagt, weil man solche Dinge einer Frau nicht erzählt. Er hat gefürchtet, daß sein gewohntes Zutrauen zu mir ihn zum Geständnis brächte: daher seine harten Worte. Er wollte sich nicht dazu hinreißen lassen, mir eine unpassende Anvertrauung zu machen . . .«

So verirrte sich Armances Phantasie in tröstliche Mutmaßungen, die ihr Octave als unschuldig und hochherzig hinstellten. »Nur durch ein Übermaß an Tugend«, sagte sie sich mit Tränen in den Augen, »kann eine solche Seele in den Anschein des Unrechts kommen.«

 


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