Stendhal
Armance
Stendhal

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

In ihrer Verzweiflung sah Armance sich zugleich für immer entehrt und von ihrem Geliebten verraten. Sie setzte sich einen Augenblick auf die oberste Treppenstufe. Sie kam auf den Einfall, an die Tür von Frau von Maliverts Zofe zu klopfen, aber das Mädchen schlief und gab keine Antwort. Frau von Malivert hatte die unbestimmte Sorge, daß ihr Sohn krank sei. Sie nahm ihre Nachtlampe und öffnete selbst ihre Zimmertür. Armances Gesicht versetzte sie in Schrecken. »Was ist Octave zugestoßen?« rief sie aus. »Nichts, gnädige Frau, gar nichts, es geht ihm gut. Nur ich bin unglücklich und verzweifelt, daß ich Sie im Schlafe störe. Ich wollte Frau Dérien sprechen und nur zu Ihnen kommen, wenn sie mir sagte, daß Sie noch nicht schliefen.« – »Aber Kleine, wozu die Anrede gnädige Frau? Du erschreckst mich damit ja nur doppelt. Es muß etwas Besonderes sein. Ist Octave krank?« – »Nein, Mama«, versetzte Armance, in Tränen ausbrechend; »nur ich bin ein verlorenes Mädchen.«

Frau von Malivert ließ sie in ihr Zimmer treten, und sie erzählte ihr, was ihr eben zugestoßen war, ohne etwas zu verheimlichen noch zu vertuschen, selbst ihre Eifersucht nicht. Armances Herz war so erschöpft von all dem Unglück, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, irgend etwas zu verbergen.

Frau von Malivert war entsetzt. Plötzlich rief sie aus: »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Gib mir meinen Pelz, mein armes liebes Mädchen!« Und sie küßte sie zwei-, dreimal mit der ganzen Leidenschaft einer Mutter. »Zünde mein Licht an; du bleibe hier.« Frau von Malivert eilte zu ihrem Sohne; zum Glück war seine Tür nicht verschlossen. Sacht trat sie ein, weckte Octave und erzählte ihm, was geschehen war. »Mein Bruder kann uns verderben«, sagte sie, »und anscheinend wird er nicht unterlassen, es zu tun. Steh auf, geh in sein Zimmer und sage ihm, ich hätte in deinem Zimmer eine Art Blutsturz bekommen. Findest du etwas Besseres?« »Ja, Mutter, Armance morgen zu heiraten, wenn dieser Engel mich noch will.«

Dies unerhoffte Wort war die Erfüllung ihrer Wünsche. Sie küßte ihren Sohn, setzte aber nachdenklich hinzu: »Dein Onkel liebt Armance nicht; er könnte reden. Er wird zwar Schweigen geloben, aber er hat seinen Diener, der auf sein Geheiß reden wird und den er dann wegjagt, wenn er geredet hat. Ich bleibe bei meinem Einfall mit dem Blutsturz. Diese Komödie wird uns zwar drei Tage lang zu schaffen machen, aber die Ehre deiner Frau geht über alles. Denke daran, daß du den Bestürzten spielen mußt. Sobald du dem Komtur Bescheid gesagt hast, geh in mein Zimmer hinunter und teile Armance unsern Plan mit. Als der Komtur Armance auf der Treppe begegnete, war ich in deinem Zimmer, und sie ging eben Frau Dérien holen.«

Octave eilte zu seinem Onkel, den er noch völlig wach fand. Der Komtur betrachtete ihn mit einem spöttischen Blick, der seine Erregung in Wut verwandelte. Dann flog er in das Zimmer seiner Mutter. »Ist's möglich«, sagte er zu Armance, »daß Sie den Chevalier von Bonnivet nicht lieben und daß er nicht der geheimnisvolle Gatte ist, von dem Sie mir früher erzählt haben?« – »Der Chevalier ist mir ein Greuel. Aber Sie, Octave, lieben Sie nicht Frau d'Aumale?« – »Ich werde sie zeitlebens nicht wiedersehen noch an sie denken«, entgegnete Octave. »Teure Armance, geruhen Sie doch zu sagen, daß Sie mich zum Gatten nehmen. Der Himmel straft mich dafür, daß ich Ihnen meine Jagdpartien verheimlicht habe; ich pfiff dem Förster, der nicht antwortete.« Octaves Beteuerungen zeigten alle Glut, aber nicht alle Zartheit wahrer Leidenschaft. Armance glaubte zu erkennen, daß er nur eine Pflicht erfüllte, aber anders dachte. »Sie lieben mich in diesem Augenblick nicht«, sprach sie zu ihm. – »Ich liebe Sie von ganzer Seele, aber die Wut übermannt mich über diesen gemeinen Komtur, diesen elenden Menschen, auf dessen Schweigen kein Verlaß ist.« Octave drang von neuem in sie. »Ist's auch wirklich Liebe, die spricht«, fragte Armance ihn, »und nicht vielleicht nur Edelmut? Lieben Sie Frau d'Aumale? Sie verabscheuten doch die Ehe. Diese plötzliche Bekehrung ist mir verdächtig.« – »Bei Gott, liebe Armance, wir wollen keine Zeit verlieren. Der ganze Rest meines Lebens soll dir für meine Liebe bürgen.« Er war so überzeugt von dem, was er sagte, daß er sie schließlich auch überzeugte.

Rasch ging er wieder hinauf. Er fand den Komtur bei seiner Mutter, der die Freude über Octaves baldige Heirat den Mut gab, sehr gut Komödie zu spielen. Immerhin schien der Komtur von dem Anfall seiner Schwester nicht voll überzeugt. Er erlaubte sich einen Scherz über Armances nächtliche Ausflüge. Da sprang Octave auf und stürzte auf ihn zu. »Herr«, schrie er, »ich habe noch einen gesunden Arm, und wenn Sie noch ein Wort sagen, werfe ich Sie da zum Fenster hinaus!« Der Komtur erbleichte ob Octaves verhaltener Wut; ihm fielen noch rechtzeitig die Wahnsinnsanfälle seines Neffen ein, und er sah diesen so erregt, daß er eines Verbrechens fähig war.

In diesem Augenblick erschien Armance, aber Octave brachte kein Wort hervor. Er konnte sie nicht einmal liebevoll anblicken; die Stille hatte ihn außer sich gebracht. Als der Komtur, um sich Haltung zu geben, ein paar lustige Worte sagen wollte, fürchtete Octave, er möchte Armance verletzen. »Herr«, sagte er und packte ihn fest am Arm, »ich fordere Sie auf, sofort in Ihr Zimmer zu gehen.« Der Komtur zauderte. Da packte Octave ihn beim Arme, zog ihn in sein Zimmer, stieß ihn hinein, schloß die Tür ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche.

Wütend kehrte er zu den Damen zurück. »Wenn ich diese gemeine Krämerseele nicht töte«, rief er wie im Selbstgespräch, »wird er wagen, meiner Frau Übles nachzureden. Wehe ihm!«

»Ich liebe Herrn von Soubirane aber«, sagte Armance entsetzt, als sie sah, welches Leid Octave seiner Mutter bereitete. »Ich liebe Herrn von Soubirane, und wenn Sie weiter so toben, muß ich fast glauben, daß ein gewisses, etwas voreiliges Versprechen, das wir ihm eben mitgeteilt haben, Sie mißlaunig macht.«

»Das glauben Sie gewiß selber nicht«, unterbrach Octave sie. »Aber Sie haben ja stets recht. Recht besehen, bin ich dieser gemeinen Seele Dank schuldig.«

Nach und nach verrauchte sein Zorn. Frau von Malivert ließ sich auf ihr Zimmer bringen und spielte die Blutsturzkomödie sehr gut. Sie ließ ihren Arzt aus Paris holen.

Der Rest der Nacht war entzückend. Der Frohsinn der glücklichen Mutter teilte sich Octave und seiner Freundin mit. Durch Frau von Maliverts heiteren Zuspruch ermutigt, wagte Armance, noch ganz verwirrt und all ihrer Selbstbeherrschung beraubt, Octave zu zeigen, wie lieb sie ihn hatte. Sie genoß die ganze Wonne, ihn auf den Chevalier von Bonnivet eifersüchtig zu sehen. Dies Gefühl erklärte ihr in so beglückender Weise seine augenscheinliche Gleichgültigkeit in den letzten Tagen. Frau d'Aumale und Frau von Bonnivet, die man trotz Frau von Maliverts Befehl geweckt hatte, erschienen erst sehr spät, und alles legte sich bei Tagesanbruch schlafen.

 


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