Stendhal
Armance
Stendhal

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Vierzehntes Kapitel

Il giovin cuore o non vede affatto i diffetti di chi li sta vicino o li vede immensi. Error commune ai giovinetti che portono fuoco nell' interno dell' anima.
        Lampugnani

 

Eines Tages erfuhr Octave in Paris, daß einer der Herren, mit denen er am häufigsten und liebsten verkehrte, einer seiner Freunde, wie man sie so nannte, sein schönes Vermögen, das er mit Grazie ausgab, einer Handlung verdankte, die in seinen Augen die niedrigste war: Erbschleicherei. Bei der Rückkehr nach Andilly teilte er Fräulein von Zohiloff sofort diese ärgerliche Entdeckung mit. Sie fand, daß er sie mit Würde ertrug. Er hatte keinen Anfall von Misanthropie, wollte mit dem Manne nicht in verletzender Weise brechen.

Ein andermal kehrte er sehr frühzeitig von einem Schloß in der Picardie zurück, wo er den ganzen Abend verbringen sollte. »Wie albern sind diese Unterhaltungen!« sagte er zu Armance. »Sie reden immer nur von der Jagd, von der Schönheit des Landlebens, der Musik Rossinis, den Künsten! Und dabei heucheln sie noch Interesse. Diese Leute sind dumm genug, Angst zu haben. Sie glauben sich in einer belagerten Stadt und vermeiden es, von der Belagerung zu sprechen. Armseliges Volk! Wie verdrießt es mich, zu ihnen zu gehören!«

»Nun, so gehen Sie doch zu den Belagerern«, riet Armance. »Deren Lächerlichkeiten werden Ihnen helfen, die des Heeres zu ertragen, in das Sie hineingeboren sind.«

»Das fragt sich noch sehr«, sagte Octave. »Gott weiß, wie ich leide, wenn ich einen unserer Freunde eine unsinnige oder schroffe Meinung vertreten höre, aber ich kann doch mit Ehren schweigen. Mein Schmerz bleibt ganz unsichtbar. Lasse ich mich jedoch dem Bankier Martigny vorstellen . . .«

»Nun«, versetzte Armance, »dieser so schlaue, so geistreiche Mann, der so sehr Sklave seiner Eitelkeit ist, wird Sie mit offnen Armen empfangen.«

»Gewiß, aber wenn ich mich dann noch so gemäßigt, so bescheiden und so schweigsam zu verhalten suche, ich werde schließlich doch meine Meinung über Menschen und Dinge sagen. Eine Sekunde darauf fliegt die Tür des Salons mit lautem Krach auf. Man meldet einen Herrn Soundso, Fabrikant in . . ., der schon an der Tür mit Stentorstimme schreit: »Lieber Martigny, halten Sie es für möglich, daß es Ultras gibt, die so blöde, so platt, so stumpfsinnig sind, zu behaupten . . .« Und dann wiederholt der biedre Fabrikant Wort für Wort das Stückchen Meinung, das ich eben in aller Bescheidenheit ausgesprochen habe. Was tun?«

»Nicht hinhören.«

»Das wäre auch mein Geschmack. Ich bin nicht auf der Welt, um ungeschliffene Menschen und Querköpfe zu bessern. Noch weniger will ich diesen Menschen dadurch, daß ich mit ihnen spreche, das Recht geben, mir auf der Straße die Hand zu drücken. Aber in diesem Salon bin ich leider nicht der gleiche wie ein anderer. Wollte Gott, daß ich dort die Gleichheit fände, von der diese Herren so viel Aufhebens machen! Wie soll ich es zum Beispiel mit meinem Titel halten, wenn ich mich bei Herrn Martigny anmelden lasse?«

»Aber Sie haben doch die Absicht, diesen Titel abzulegen, wenn Sie es können, ohne Ihren Herrn Vater zu kränken.«

»Gewiß, aber wird es nicht feige erscheinen, wenn ich dem Diener des Herrn Martigny meinen Namen nenne und den Titel weglasse? Das wäre ja wie Rousseau, der seinen Hund Turc statt Duc rief, weil ein Herzog im Zimmer warWie Rousseau, kämpfte auch der arme Octave mit Hirngespinsten. Er wäre trotz seines Titels in allen Pariser Salons unbemerkt geblieben. Zudem herrscht in seiner Schilderung jener Gesellschaft, die er nie gesehen hat, ein Ton lächerlicher Gehässigkeit, den er sich noch abgewöhnen wird. Dummköpfe gibt es in allen Gesellschaftsklassen. Gäbe es eine, die man mit Recht oder Unrecht als ungeschliffen bezichtigte, so würde sie sich bald durch große Zimperlichkeit und feierliches Benehmen hervortun.

»Aber bei den liberalen Bankiers haßt man die Titel gar nicht so«, versetzte Armance. »Neulich war Frau von Claix, die überall verkehrt, auf dem Balle bei Herrn Montange, und Sie erinnern sich wohl, wie sie uns an jenem Abend zum Lachen gebracht hat, als sie behauptete, diese Leute hingen derart an Titeln, daß sie gehört hätte, wie eine Dame als ›Frau Oberst‹ gemeldet wurde.«

»Seit die Dampfmaschine die Welt beherrscht, ist ein Titel etwas Abgeschmacktes, aber schließlich bin ich doch damit ausstaffiert. Diese Abgeschmacktheit wird mich zu Falle bringen, wenn ich sie nicht hochhalte. Dieser Titel lenkt die Aufmerksamkeit auf mich. Wenn die Donnerstimme jenes Fabrikanten schon in der Tür brüllt, meine eben gemachte Bemerkung sei eine Eselei, wird man mich dann nicht mit den Blicken suchen? Das ist die schwache Seite meines Charakters. Ich kann nicht den Kopf schütteln und mich über alles lustig machen, wie Frau d'Aumale will. Bemerke ich aber solche Blicke, so flieht mich für den Rest des Abends jedes Vergnügen. Ich halte dann ein Zwiegespräch mit mir selbst, ob man mich kränken wollte, und das kann mir für drei Tage die Seelenruhe rauben.«

»Aber sind Sie denn jener angeblichen Ungeschliffenheit ganz sicher, mit der Sie die Gegenpartei so freigebig ausstatten?« fragte Armance. »Haben Sie nicht neulich gesehen, daß die Kinder des Schauspielers Talma und die Söhne eines Herzogs im gleichen Pensionat erzogen werden?«

»In den Salons führen Leute von fünfundvierzig Jahren das Wort, die in der Revolution reich geworden sind, nicht die Kameraden der Kinder Talmas.«

»Ich möchte wetten, sie haben mehr Geist als viele der Unsrigen. Wer glänzt denn im Oberhaus? Neulich haben Sie selbst diese traurige Beobachtung gemacht.«

»Ach, wenn ich meiner hübschen Kusine noch Unterricht in der Logik gäbe, wie machte ich mich dann über sie lustig! Was liegt mir am Geist eines Menschen? Sein Benehmen ist es, was mich traurig stimmen kann. Der dümmste Mann unter uns, etwa Herr von . . ., kann sehr lächerlich sein, aber er ist nie beleidigend. Neulich erzählte ich bei den Aumales von meinem Ausflug nach Liancourt und sprach von den letzten Maschinen, die der Herzog aus Manchester hat kommen lassen. Einer der Anwesenden sagte plötzlich: ›Das stimmt nicht, das ist nicht wahr.‹ Ich vergewisserte mich, daß er mich Lügen strafen wollte, aber diese Flegelei ließ mich für eine Stunde verstummen.«

»Und das war ein Bankier?«

»Er gehörte nicht zu den Unsern. Und das Spaßhafte ist, daß ich an den Werkmeister der Wollkratzerei in Liancourt geschrieben habe und daß der Mann, der mich Lügen strafen wollte, nicht mal recht hat.«

»Ich finde durchaus nicht, daß der junge Bankier Montange, der bei Frau von Claix verkehrt, ungeschliffen ist.«

»Er hat ein süßliches Benehmen, das ist eine Metamorphose der schlechten Manieren, wenn die Angst dahinter steckt.«

»Die Damen scheinen doch recht hübsch zu sein«, versetzte Armance. »Ich möchte wissen, ob ihre Unterhaltung durch jenen Anflug von Haß oder Dünkel beeinträchtigt wird, der aus der Furcht entspringt, verletzt zu werden und den man bei uns findet. Ach, wie gern hörte ich von einem guten Beurteiler, wie mein Vetter es ist, wie es in jenen Salons hergeht! Sehe ich die Bankiersdamen in ihren Logen im Italienischen Theater, so möchte ich um mein Leben gern wissen, was sie sich sagen, und mich an ihrer Unterhaltung beteiligen. Sehe ich eine, die hübsch ist – und es gibt reizende darunter –, so komme ich um vor Verlangen, ihr um den Hals zu fallen. Das alles wird Ihnen kindisch erscheinen, aber Ihnen, Herr Philosoph, der Sie so stark in der Logik sind, sage ich: wie kann man die Menschen kennenlernen, wenn man nur eine Klasse sieht? Noch dazu die energieloseste, die den tatsächlichen Nöten am fernsten steht.«

»Und bei der die größte Geziertheit herrscht, weil sie sich beobachtet glaubt. Gestehen Sie, daß es für einen Philosophen schön ist, seinem Gegner Argumente zu liefern«, lachte Octave. »Was glauben Sie wohl? Der Marquis von . . . hielt sich hier neulich so sehr über die kleinen Zeitungen auf, die er angeblich kaum dem Namen nach kannte. Und doch war er gestern bei Saint-Ismiers im siebten Himmel, weil die ›Aurore‹ einen schmutzigen Witz über seinen Feind, den Grafen von . . . bringt, der grade Staatsrat geworden ist. Er hatte die Nummer in der Tasche. Das ist das Schlimme an unserer Lage, daß wir hören, wie Dummköpfe die lächerlichsten Lügen vorbringen, und daß wir ihnen nicht zu sagen wagen: ›Schöne Maske, ich kenne dich!‹ Wir müssen uns die lustigsten Scherze versagen, weil die Gegenpartei darüber lachen könnte, wenn sie sie hörte.«

»Ich kenne die Bankiers nur durch den süßlichen Montange und durch die reizende Komödie ›Der Roman‹«, versetzte Armance, »aber ich bezweifle, daß sie betreffs der Geldanbetung mehr leisten als manche der Unsren. Wissen Sie, daß es ein schwieriges Unterfangen ist, eine ganze Klasse zu bessern? Ich will Ihnen nichts mehr davon erzählen, wie gern ich Näheres über jene Damen erführe. Aber wie sagte doch der alte Herzog von . . . in Petersburg, als der das ›Journal de l'Empire‹ mit großen Kosten und auf die Gefahr hin kommen ließ, den Zaren Alexander zu verstimmen? ›Muß man nicht auch die Klageschrift der Gegenpartei lesen?‹«

»Ich will Ihnen ganz im Vertrauen noch weiter gestehen, wie Talma im ›Polyeucte‹ so schön sagt: ›Im Grunde wollen wir, Sie und ich, ganz gewiß nicht mit jenen Leuten leben, aber über vieles denken wir wie sie.‹«

»Und in unsern Jahren«, versetzte Armance, »ist es traurig, wenn man sich entschließt, zeitlebens der geschlagenen Partei anzugehören. Wir sind wie die heidnischen Götzenpriester in dem Augenblick, wo das Christentum die Oberhand gewann. Heute sind wir noch die Verfolger, heute haben wir noch die Polizei und das Budget für uns, aber vielleicht schon morgen werden wir von der öffentlichen Meinung verfolgt werden.«

»Zuviel Ehre für uns, wenn Sie uns mit den biederen heidnischen Priestern vergleichen. Ich sehe in unserer Stellung etwas noch weit Schieferes für uns, für Sie wie für mich. Wir gehören dieser Partei nur an, um ihr Unglück zu teilen. Das trifft nur zu sehr zu. Wir sehen ihre Lächerlichkeiten und wagen doch nicht, darüber zu lachen, und ihre Vorteile bedrücken uns. Was liegt mir an meinem alten Namen? Ich müßte mich schämen, wollte ich diesen Vorteil ausnutzen.«

»Die Gespräche der jungen Leute Ihres Schlages reizen Sie bisweilen, die Achseln zu zucken, und um dieser Versuchung nicht zu erliegen, sprechen Sie schleunigst von dem schönen Album des Fräuleins von Claix oder vom Gesang der Frau Pasta. Andrerseits machen Ihnen Ihr Titel und die vielleicht etwas ungehobelten Manieren der Leute, die über drei Viertel der Fragen ebenso denken wie Sie, den Verkehr mit ihnen unmöglich.«

»Ach, wie wollte ich eine Kanone oder eine Dampfmaschine befehligen! Wie glücklich wäre ich als Chemiker in einer Fabrik, denn aus den groben Manieren mache ich mir wenig, daran gewöhnt man sich in acht Tagen.«

»Zudem sind Sie der Ungeschliffenheit gar nicht so sicher«, sagte Armance.

»Und wären sie noch zehnmal gröber«, entgegnete Octave, »es ist reizvoll, eine fremde Sprache nachzumachen. Aber dazu müßte man Herr Martin oder Herr Schwarz heißen.«

»Könnten Sie keinen verständigen Mann finden, der schon einen Entdeckungsfeldzug in die liberalen Salons gemacht hat?«

»Mehrere meiner Freunde tanzen dort. Sie sagen, das Eis sei vorzüglich. Das ist aber auch alles. Eines schönen Tages will ich mich selbst hinwagen, denn nichts ist so töricht, als ein Jahr lang an eine Gefahr zu glauben, die vielleicht gar nicht besteht.«

Armance erhielt schließlich das Geständnis, er habe an ein Mittel gedacht, in den Kreisen zu verkehren, wo Reichtum und nicht Geburt den Ton angibt. »Nun ja, ich habe es gefunden«, sagte Octave. »Aber das Heilmittel wäre schlimmer als die Krankheit, denn ich müßte mehrere Monate meines Lebens fern von Paris zubringen.«

»Und was ist das für ein Mittel?« fragte Armance, plötzlich sehr ernst werdend.

»Ich ginge nach London und würde dort natürlich alle Spitzen der vornehmen Gesellschaft sehen. Wie kann man England besuchen, ohne sich dem Marquis von Landsdone, Herrn Brougham und Lord Holland vorstellen zu lassen? Diese Herren werden mit mir über unsre französischen Berühmtheiten sprechen und sehr erstaunt sein, daß ich sie nicht kenne. Ich werde lebhaftes Bedauern zeigen und mich bei meiner Rückkehr allem vorstellen lassen, was in Frankreich populär ist. Beehrt man mich bei der Herzogin d'Ancre damit, von meinem Schritt zu reden, so sieht es nicht so aus, als wäre ich den Ideen untreu geworden, die man für untrennbar von meinem Namen halten kann. Es wird einfach der ganz natürliche Wunsch sein, die hervorragenden Leute meiner Zeit kennenzulernen. Ich werde es mir nie verzeihen, den General Foy nicht gesehen zu haben.« Armance schwieg.

»Ist es nicht demütigend«, fuhr Octave fort, »daß alle unsere Stützen bis zu den monarchischen Schriftstellern, die jeden Morgen in der Zeitung die Vorteile der Geburt und der Religion preisen müssen, uns von der Klasse geliefert werden, die alle Vorteile besitzt, außer der Geburt.«

»Oh! wenn Herr von Soubirane Sie hörte!«

»Rühren Sie nicht an mein schlimmstes Unglück, den täglichen Zwang, zu lügen . . .«

Der Ton völliger Vertrautheit duldet endlose Abschweifungen, die nicht mißfallen können, weil sie schrankenloses Vertrauen beweisen, aber sie können einen Dritten sehr wohl langweilen. Es genügt uns, gezeigt zu haben, daß die glänzende Stellung des Vicomte von Malivert für ihn durchaus keine Quelle ungetrübter Freude war.

Und es ist nicht ungefährlich für uns, treue Geschichtschreiber zu sein. Mischt sich die Politik in eine so schlichte Erzählung, so kann sie wie ein Pistolenschuß im Konzertsaal wirken. Zudem ist Octave kein Philosoph und hat die beiden gesellschaftlichen Gegensätze seiner Zeit sehr ungerecht gekennzeichnet. Welch ein Skandal, daß Octave nicht wie ein fünfzigjähriger Weiser urteilt!

 


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