Stendhal
Armance
Stendhal

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Siebentes Kapitel

But passion most dissembles yet betrays
Even by its darkness; as the blackest sky
Foretells the heaviest tempest, it displays
Its workings through the vainly guarded eye,
And in whatever aspect it arrays
Itself, 'tis the same hypocrisy;
Coldness or anger, even disdain or hate,
Are masks it often wears, and still too late.
        Don Juan, Cant. I

 

Octave blieb regungslos stehen, die Augen voller Tränen und ohne zu wissen, ob er sich freuen oder traurig sein sollte. Nach so langem Harren hatte er endlich diese so ersehnte Schlacht liefern können, aber hatte er sie verloren oder gewonnen? »Ist sie verloren«, sagte er sich, »so ist für mich alles zu Ende. Armance hält mich für so schuldig, daß sie so tut, als sei sie mit meiner ersten Entschuldigung zufrieden, und erspart sich jede Aussprache mit einem Menschen, der ihre Freundschaft so wenig verdient. ›Sie besitzen meine volle Achtung.‹ Was wollen diese paar Worte besagen? Gibt es etwas Kälteres? Ist es die völlige Rückkehr zur alten Vertrautheit? Oder eine höfliche Art, eine peinliche Auseinandersetzung abzuschneiden?« Armances plötzliches Fortgehen schien ihm ein besonders schlechtes Zeichen.

Während der tief erstaunte Octave sich des Vorgangs genau zu erinnern suchte, Schlüsse daraus zog und in seinem Ringen um ein richtiges Urteil plötzlich eine entscheidende Entdeckung zu machen fürchtete, die jede Ungewißheit mit dem Beweise endigte, daß seine Kusine ihn ihrer Achtung unwürdig fand, war Armance dem heftigsten Schmerz verfallen. Ihre Tränen erstickten sie, aber Tränen der Scham und nicht des Glückes.

Sie schloß sich schleunigst in ihr Zimmer ein. »Großer Gott«, sagte sie sich im Übermaß ihrer Verwirrung, »was wird Octave von dem Zustand denken, in dem er mich sah? Hat er meine Tränen verstanden? Ach! kann ich daran zweifeln? Seit wann vergießt ein Mädchen in meinen Jahren Tränen bei einer bloßen freundschaftlichen Anvertrauung? O Gott! wie kann ich mich nach solcher Beschämung noch vor ihm blicken lassen? Um meine Lage vollends schrecklich zu machen, fehlte nur noch, daß ich seine Verachtung verdiene. Aber«, sagte sie sich, »das war auch keine einfache Anvertrauung. Seit drei Monaten wich ich ihm aus; es ist wie eine Versöhnung zwischen lange entzweiten Freunden, und bei solchen Versöhnungen soll man ja weinen. – Ja, aber man läuft nicht davon, man gerät nicht in die größte Verwirrung. Statt mich einzuschließen und in Tränen zu zerfließen, hätte ich im Garten bleiben und weiter mit ihm sprechen sollen, beglückt über das schlichte Glück der Freundschaft. Ja«, sagte sich Armance, »ich muß in den Garten zurück. Frau von Bonnivet ist vielleicht noch nicht wieder da.«

Als sie aber aufstand und in einen Spiegel sah, erkannte sie, daß sie in diesem Zustand nicht vor Octave erscheinen konnte. »Ach!« rief sie aus und warf sich verzweifelt in einen Sessel, »ich bin eine Unglückliche, die ihre Ehre verloren hat, verloren in wessen Augen? In Octaves Augen!« Ihr Schluchzen und ihre Verzweiflung ließen sie nicht weiter denken.

»Wie!« sagte sie sich nach einer Weile, »vor einer halben Stunde war ich trotz meinem verhängnisvollen Geheimnis so ruhig, ja so glücklich, und jetzt bin ich verloren, auf ewig, unrettbar! Ein so geistvoller Mann muß ja den ganzen Umfang meiner Schwäche erkannt haben, und diese Schwäche gehört zu denen, die seinen strengen Verstand am meisten verletzen müssen.« Tränen erstickten Armance. Dieser gewaltsame Zustand hielt mehrere Stunden an. Armance bekam leichtes Fieber, so daß sie den Abend auf ihrem Zimmer bleiben durfte.

Das Fieber stieg; alsbald tauchte ein neuer Gedanke auf: »Ich bin nur halb zu verachten, denn schließlich habe ich meine unselige Liebe nicht mit eignen Worten gestanden. Aber nach dem, was geschehen ist, kann ich für nichts einstehen. Ich muß eine ewige Schranke zwischen Octave und mir errichten. Ich muß Nonne werden. Ich werde mir einen Orden aussuchen, der die größte Einsamkeit gewährt, ein Kloster mitten im Gebirge mit malerischer Aussicht. Dort werde ich nie von ihm reden hören. Dieser Gedanke ist Pflicht«, sagte sich die unglückliche Armance. Damit war das Opfer vollbracht. Sie fühlte, ohne es sich zu sagen (es im einzelnen auszusprechen, wäre gleichsam ein Zweifeln gewesen), fühlte diese Wahrheit: »Folge ich der Pflicht nicht in dem Augenblick, wo ich sie erkannt habe, unverzüglich, blindlings, ohne Widerrede, so handle ich wie eine gewöhnliche Seele und bin Octaves unwert. Wie oft hat er mir nicht gesagt, dies sei das geheime Zeichen, an dem man die edlen Seelen erkennt! Ach, ich werde mich deinem Urteil beugen, mein edler Freund, geliebter Octave!« Das Fieber gab ihr den Mut, seinen Namen halblaut zu sprechen, und sie fühlte sich glücklich, ihn zu wiederholen.

Alsbald sah Armance sich als Nonne. Manchmal verwunderte sie der weltliche Schmuck ihres Stübchens. »Den schönen Stich der Sixtinischen Madonna, den mir Frau von Malivert geschenkt hat, muß ich nun weiter verschenken«, sagte sie sich. »Octave hat ihn ausgesucht; er hat ihn der Vermählung der Jungfrau vorgezogen, dem ersten Bilde von Raffael. Schon damals – ich entsinne mich – stritt ich mit ihm über seine Wahl, lediglich um das Vergnügen zu haben, daß er sie verteidigte. Liebte ich ihn denn schon, ohne es zu wissen? Habe ich ihn stets geliebt? Ach, ich muß diese schreckliche Leidenschaft aus meinem Herzen reißen.«

Und die unglückliche Armance, die ihren Vetter zu vergessen suchte, fand die Erinnerung an ihn mit allem, selbst mit den gleichgültigsten Handlungen ihres Lebens verknüpft. Sie war allein; sie hatte ihre Zofe fortgeschickt, um ungestört zu weinen. Sie schellte und ließ ihre Stiche ins Nebenzimmer bringen. Bald war ihr Schlafzimmer kahl und nur noch mit der schönen lasurblauen Tapete geschmückt. »Darf eine Nonne eine tapezierte Zelle haben?« fragte sie sich. Lange sann sie über diese Schwierigkeit nach. Ihre Seele hatte das Bedürfnis, sich genau den Zustand vorzustellen, in dem sie in ihrer Zelle leben würde. Die Ungewißheit darüber war der Übel schlimmstes, denn ihre Phantasie war bestrebt, sich alle auszumalen. »Nein«, sagte sie sich schließlich, »Tapeten können nicht erlaubt sein, denn zur Zeit der Gründung der Orden waren sie noch nicht erfunden. Diese Orden stammen aus Italien; der Fürst Trubetzkoi hat uns erzählt, daß eine alljährlich getünchte Wand der einzige Schmuck so vieler schöner Klöster ist. Ach!« fuhr sie in ihrem Delirium fort, »vielleicht sollte ich in Italien den Schleier nehmen. Den Vorwand böte meine Kränklichkeit – doch nein! Ich will wenigstens Octaves Vaterland nicht verlassen, stets seine Sprache sprechen hören.«

In diesem Augenblick trat Méry de Tersan in ihr Zimmer. Die kahlen Wände bestürzten das junge Mädchen; sie erbleichte, als sie an Armances Bett trat. Die wollte sich in ihrem Fieberdelirium und in einer Tugendekstase, die noch eine Art ihrer Liebe zu Octave war, durch eine Anvertrauung binden. »Ich will Nonne werden«, sagte sie zu Méry.

»Wie! Sollte die Herzenshärte einer gewissen Person so weit gegangen sein, dein Zartgefühl zu verletzen?«

»Bei Gott, nein, ich habe Frau von Bonnivet nichts vorzuwerfen. Sie ist so gut zu mir, wie man zu einem armen Mädchen sein kann, das nichts auf der Welt vorstellt. Wenn sie Kummer hat, liebt sie mich sogar zärtlich; sie könnte gegen niemanden besser sein als gegen mich. Es wäre unrecht von mir, ihr den geringsten Vorwurf zu machen; meine Seele stünde dann auf gleicher Stufe mit meiner Stellung im Hause.«

Bei diesen letzten Worten brach Méry in Tränen aus. Sie war reich, besaß aber die edle Gesinnung, die den Ruhm ihrer erlauchten Familie bildet. Beide Freundinnen verbrachten einen großen Teil des Abends ohne andre Zwiesprache als Tränen und Händedrücke. Schließlich führte Armance ihrer Freundin alle Gründe an, weshalb sie ins Kloster gehen wollte, nur den einen nicht: was konnte aus einem armen Mädchen werden, das man doch schließlich nicht mit dem Krämer an der Straßenecke verheiraten konnte? Welches Los harrte ihrer? Im Kloster hängt man nur von der Ordensregel ab. Man hat dort zwar weder Zerstreuungen durch die Kunst noch die geistvolle Unterhaltung der Weltkinder, die sie bei Frau von Bonnivet genoß, aber doch auch nicht den gebieterischen Zwang, einem einzigen Menschen zu gefallen, und keine Demütigung, wenn das nicht gelingt. Armance wäre vor Scham gestorben, hätte sie Octaves Namen aussprechen müssen. »Das ist der Gipfel meines Unglücks«, dachte sie, während sie sich weinend in Mérys Arme warf, »ich darf nicht einmal die hingebendste und tugendhafteste Freundschaft um Rat fragen.«

Während Armance in ihrem Zimmer weinte, wußte Octave durch eine, trotz all seiner Philosophie unerklärliche Ahnung, daß er Fräulein von Zohiloff an jenem Abend nicht mehr sehen würde. So wandte er sich denn den Damen zu, die er sonst vernachlässigt hatte, um Frau von Bonnivets religiösen Darlegungen zu lauschen. Schon seit Monaten sah er sich mit Annäherungsversuchen verfolgt, die zwar sehr höflich, ihm aber nur um so lästiger waren. Er war misanthropisch und verdrießlich geworden, verdrießlich wie Molières Alceste über das Thema der heiratsfähigen Töchter. Sobald man ihm von einer Dame der Gesellschaft erzählte, war seine erste Frage: »Hat sie eine heiratsfähige Tochter?« Seit kurzem war er sogar so schlau geworden, sich nicht mit einem ersten Nein zu begnügen. »Frau Soundso hat keine heiratsfähige Tochter«, sagte er, »aber sollte sie nicht irgendeine Nichte haben?« Während Armance in einer Art Delirium war, suchte Octave die Ungewißheit zu betäuben, in die das Ereignis des Morgens ihn versetzt hatte, und er sprach nicht nur mit allen Damen, die Nichten hatten, sondern auch mit einigen der fruchtbaren Mütter, die bis zu drei Töchter besaßen. Vielleicht brachte er soviel Mut angesichts des kleinen Stuhles auf, der neben Frau von Bonnivets Fauteuil stand, und auf dem Armance sonst zu sitzen pflegte. Jetzt setzte sich eine der Fräuleins von Claix darauf, deren schöne deutsche Schultern dank der geringen Höhe von Armances Stuhl ihre ganze Frische zeigten. »Welch ein Unterschied!« dachte oder vielmehr fühlte Octave. »Wie würde meine Kusine sich durch das gedemütigt fühlen, was den Triumph von Fräulein von Claix ausmacht! Für diese ist es nur erlaubte Gefallsucht, nicht mal ein Verstoß. Da kann man wieder sagen: Adel verpflichtet!«

Octave begann Fräulein von Claix den Hof zu machen. Nur wer sich bemüht hätte, ihn zu durchschauen, oder wer die gewohnte Schlichtheit seines Ausdrucks besser kannte, hätte all die Bitterkeit und Verachtung bemerkt, die in seiner gespielten Lustigkeit lag. Seine Worte wurden ziemlich geistreich befunden, aber die, welche den meisten Beifall erhielten, erschienen ihm selbst recht gewöhnlich und bisweilen sogar plump. Da er sich an diesem Abend gar nicht um Frau von Bonnivet gekümmert hatte, schalt sie ihn im Vorbeigehen leise aus, und Octave rechtfertigte seine Fahnenflucht durch Worte, die der Marquise reizend schienen. Sie war höchst zufrieden mit dem Geist ihres künftigen Proselyten und mit der Sicherheit, womit er in der Gesellschaft auftrat.

Sie lobte ihn mit der Harmlosigkeit der Unschuld, wenn das Wort Harmlosigkeit sich nicht schämte, auf eine Frau angewandt zu werden, die in ihrem Lehnstuhl so schön posierte und mit so malerischem Augenaufschlag gen Himmel blickte. Allerdings, wenn ihr Blick auf einem goldnen Zierat an der Decke ihres Salons ruhte, kam sie bisweilen auf den Gedanken: »Dort oben in diesem leeren Raum, in dieser Luft lebt ein Geist, der mir zuhört, meine Seele magnetisiert und mir die seltsamen, mir selbst wirklich unerwarteten Gefühle eingibt, die ich manchmal so beredet äußere.« An jenem Abend sagte Frau von Bonnivet zu Frau von Claix, höchst zufrieden mit Octave und der Rolle, zu der ihr Schüler sich eines Tages erheben könnte: »Dem jungen Vicomte fehlte tatsächlich weiter nichts als die Sicherheit, die der Reichtum verleiht. Liebte ich das Entschädigungsgesetz nicht schon, weil es unsern armen Emigranten ihr Recht verschafft, so liebte ich es wegen der neuen Seele, die es meinem Vetter gibt.« Die Herzogin d'Ancre blickte Frau von Claix und die Gräfin de la Ronce an, und da Frau von Bonnivet die Damen verließ, um eine junge Herzogin zu bewillkommnen, sagte die Herzogin zu Frau von Claix: »Das alles scheint mir ganz klar.« – »Zu klar«, antwortete diese. »Wir werden einen Skandal erleben. Noch etwas mehr Liebenswürdigkeit von Seiten des erstaunlichen Octave, und unsre liebe Marquise wird nicht umhin können, uns ins Vertrauen zu ziehen.« – »So«, entgegnete die Herzogin, »habe ich stets diese großen Tugenden enden sehen, die sich beikommen lassen, über Religion zu dogmatisieren. Ach, schöne Marquise, glücklich die Frau, die ganz einfältig den Pfarrer ihrer Gemeinde hört und zum Abendmahl geht!« – »Das ist sicherlich besser, als Bibeln von Thouvenin einbinden zu lassen«, versetzte Frau von Claix.

Doch Octaves ganze angebliche Liebenswürdigkeit war im Nu verschwunden. Er hatte soeben Méry erblickt, die aus Armances Zimmer kam, weil ihre Mutter den Wagen bestellt hatte, und Méry hatte eine verstörte Miene. Sie brach so schnell auf, daß Octave nicht mit ihr sprechen konnte. Auch er ging alsbald. Es wäre ihm unmöglich gewesen, noch ein Wort mit irgendwem zu sprechen. Fräulein von Tersans betrübte Miene verriet ihm, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorging; vielleicht wollte Fräulein von Zohiloff Paris verlassen, um ihn zu meiden. Wunderbarerweise kam er nicht darauf, daß er Armance liebte. Gegen diese Leidenschaft hatte er sich mit den stärksten Eiden verschworen, und da es ihm an Scharfblick, aber nicht an Charakter fehlte, hätte er seine Schwüre wahrscheinlich gehalten.

 


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