Stendhal
Armance
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

As the most forward bud
Is eaten by the canker ere it blow,
Even so by love the young and tender wit
Is turn'd to folly . . .
. . . So eating love
Inhabits in the finest wits of all.
        Two Gentlemen of Verona, Act I

 

Nicht nur bei Nacht und wenn er allein war wurde Octave von solchen Anfällen von Verzweiflung ergriffen. Alles, was er tat, war dann äußerst heftig und boshaft, und gewiß hätte man ihn als wahnsinnig eingesperrt, wäre er nur ein armer Student der Rechte ohne Eltern und Protektion gewesen. Aber in dieser gesellschaftlichen Stellung hätte er auch keine Gelegenheit gehabt, sich das elegante Benehmen anzueignen, das seinen seltsamen Charakter glättete und aus ihm einen Sonderling selbst in der Hofgesellschaft machte. Diese äußerste Vornehmheit verdankte Octave zum Teil seinem Gesichtsausdruck, der Kraft und Sanftmut verriet, nicht aber Kraft und Schroffheit, wie dies bei Durchschnittsmenschen der Fall ist, die ihrer Schönheit wegen beachtet werden. Er besaß von Natur die schwierige Kunst, seine Gedanken mitzuteilen, ohne jemanden zu kränken oder unnötig zu verletzen, und dank diesem Maßhalten in den gewöhnlichen Lebensbeziehungen kam man nicht auf den Gedanken, daß er wahnsinnig sei.

Es war noch kein Jahr her, daß ein junger Lakai, entsetzt über Octaves Miene, ihm anscheinend den Weg vertreten wollte, als er aus dem Salon seiner Mutter herausstürzte. Da rief Octave wutschnaubend: »Wer bist du, daß du es wagst, mir entgegenzutreten? Bist du stark, so beweise deine Kraft!« Bei diesen Worten hatte er ihn mitten um den Leib gefaßt und ihn zum Fenster hinausgeworfen. Der Lakai fiel in einen Oleanderkübel im Garten und tat sich nur wenig Schaden. Zwei Monate lang spielte Octave den Diener des Verletzten, versah ihn überreichlich mit Geld und verbrachte täglich mehrere Stunden mit seiner Erziehung. Da die ganze Familie wünschte, daß der Mann den Mund hielt, bekam er Geschenke und wurde derart verwöhnt, daß er zum Taugenichts ward und mit einer Pension in seine Heimat entlassen werden mußte. Jetzt wird man Frau von Maliverts Besorgnisse voll verstehen.

Was sie bei diesem verhängnisvollen Ereignis besonders erschreckt hatte, war, daß Octaves Reue, obwohl übertrieben, erst am nächsten Tage zum Ausbruch kam. Als er des Nachts heimkehrte und man ihn zufällig auf die Gefahr hinwies, der dieser Mann ausgesetzt war, hatte er gesagt: »Er ist jung. Warum hat er sich nicht zur Wehr gesetzt? Als er mir den Weg vertreten wollte, habe ich ihm ja gesagt: ›Wehr' dich‹« Frau von Malivert glaubte beobachtet zu haben, daß ihr Sohn solche Wutanfälle immer dann bekam, wenn er die düstere Träumerei, die sie stets in seinen Zügen las, fast ganz vergessen zu haben schien. So geschah es z. B. bei der Lösung eines Silbenrätsels, als er mit ein paar jungen Leuten und fünf bis sechs intimen Bekannten eine Stunde lang vergnügt gespielt hatte, daß er aus dem Salon stürzte und den Diener zum Fenster hinauswarf.

Ein paar Monate vor dem Zwei-Millionen-Abend hatte Octave fast ebenso jählings einen Ball verlassen, den Frau von Bonnivet gab. Er hatte gerade besonders anmutig ein paar Kontertänze und Walzer getanzt. Seine Mutter war ob seines Erfolges entzückt, und ihm selbst konnte er nicht unbekannt bleiben: mehrere Damen, die durch ihre Schönheit in der Gesellschaft berühmt waren, hatten ihn auf das schmeichelhafteste angesprochen. Seine herrlich blonden Haare, die in dichten Locken auf seine edle Stirn fielen, hatten es besonders der berühmten Frau von Claix angetan. Und nach Art der jungen Leute von Neapel, woher sie gerade kam, hatte sie ihm ein sehr lebhaftes Kompliment gemacht, als plötzlich Octaves Züge feuerrot wurden und er den Ballsaal mit eiligen Schritten verließ, deren Hast er umsonst zu verbergen trachtete. Bestürzt folgte ihm seine Mutter und fand ihn nicht mehr. Umsonst wartete sie die ganze Nacht auf ihn; er erschien erst am nächsten Tage wieder und in eigenartigem Zustand; er hatte drei freilich ungefährliche Degenstiche erhalten. Die Ärzte hielten diese Monomanie für rein geistig, wie sie sagten, und nicht von einer physischen Ursache herrührend, sondern lediglich von dem Einfluß irgendeiner sonderbaren Idee. Keinerlei Anzeichen deuteten auf die Migräne des Herrn Vicomte Octave hin, wie die Leute ihn nannten. Gehäuft hatten sich diese Anfälle im ersten Jahr seines Aufenthalts auf der Polytechnischen Hochschule und bevor er den Gedanken selbst hatte, Priester zu werden. Seine Kameraden, mit denen er häufig Streit hatte, hielten ihn damals für völlig wahnsinnig, und diese Annahme schützte ihn vor Degenstichen.

Als er infolge der obengenannten leichten Verwundungen das Bett hüten mußte, hatte er einfach, wie stets, zu seiner Mutter gesagt: »Ich war wütend. Ich suchte Streit mit Soldaten, die mich lachend anblickten. Ich habe mich geschlagen und nur den verdienten Lohn erhalten.« Dann sprach er von andern Dingen. Gegenüber seiner Kusine Armance von Zohiloff war er auf Einzelheiten eingegangen. Eines Abends sagte er zu ihr: »Ich habe unselige Wutanfälle, die nicht vom Wahnsinn kommen, derentwegen ich aber in der Welt wie früher in der Technischen Hochschule als wahnsinnig gelten werde. Das ist ein Unglück wie andre mehr; was aber meinen Mut übersteigt, ist die Furcht, plötzlich Anlaß zu ewigen Gewissensbissen zu haben. So geschah es mir beinahe bei dem Unglücksfall des armen Pierre.«

»Den haben Sie vornehm wieder gutgemacht. Sie haben ihm nicht nur Ihre Zulage gegeben, sondern ihm auch Ihre Zeit gewidmet, und hätte er die geringsten Anstandsbegriffe gehabt, so hätten Sie sein Glück gemacht. Was konnten Sie mehr tun?«

»Gewiß nichts, nachdem die Sache geschehen war, aber hätte ich das nicht getan, so wäre ich ein Scheusal. Doch das ist nicht alles. Diese unseligen Anfälle, die in aller Augen als Wahnsinn gelten, scheinen mich zum Sonderling zu machen. Ich sehe, daß die ärmsten, beschränktesten, anscheinend unglücklichsten Altersgenossen ein bis zwei Jugendfreunde haben, die ihre Freuden und Leiden teilen. Abends sehe ich sie zusammen spazierengehen und sich alles erzählen, was sie berührt. Nur ich bin einsam auf der Welt. Ich habe keinen Menschen und werde nie einen haben, dem ich frei anvertrauen kann, was ich denke. Wie wäre es erst bei Gefühlen, die mir das Herz zuschnüren! Bin ich denn dazu bestimmt, stets ohne Freunde zu leben und kaum Bekannte zu haben? Bin ich denn ein schlechter Mensch?« setzte er seufzend hinzu.

»Gewiß nicht, aber Sie liefern denen, die Sie nicht lieben, Vorwände dazu«, entgegnete Armance im strengen Ton der Freundschaft und versuchte das ehrliche Mitleid zu verbergen, das sein Kummer ihr einflößte. »Zum Beispiel, warum sind Sie bei Ihrer tadellosen Höflichkeit gegen jedermann vorgestern nicht auf dem Ball bei Frau von Claix erschienen?«

»Weil die törichten Komplimente auf dem Balle vor sechs Monaten mir die Beschämung eingebracht haben, mich vor Landjunkern, die einen Degen trugen, ins Unrecht zu setzen.«

»Schön«, entgegnete Fräulein von Zohiloff, »aber bedenken Sie, daß Sie stets Gründe finden werden, um nicht in Gesellschaft zu gehen. Somit dürfen Sie sich nicht über die Einsamkeit beklagen, in der Sie leben.«

»Ach, ich brauche Freunde und keine Geselligkeit. Werde ich denn in den Salons einen Freund finden?«

»Ja, da Sie es nicht verstanden haben, ihn auf der Technischen Hochschule zu finden.«

»Sie haben recht«, versetzte Octave nach langem Schweigen. »In diesem Augenblick teile ich Ihre Ansicht, aber morgen, wenn es zu handeln gilt, werde ich das Gegenteil von dem tun, was mir heute vernünftig erscheint, und das alles aus Stolz! Ach, hätte der Himmel mich doch zum Sohn eines Tuchfabrikanten gemacht, dann hätte ich seit dem sechzehnten Jahr im Kontor gearbeitet, wohingegen alle meine Beschäftigungen nur Luxus waren. Ich wäre weniger stolz und glücklicher gewesen . . . Ach, wie mißfalle ich mir selbst! . . .«

Diese Klagen fesselten Armance, obgleich sie anscheinend selbstsüchtig waren; in Octaves Augen lag soviel Liebesbedürfnis und bisweilen blickten sie so zärtlich!

Ohne sich recht klar darüber zu werden, fühlte sie, daß er ein Opfer jener übergroßen Empfindsamkeit war, die die Menschen unglücklich und liebenswert macht. In seiner leidenschaftlichen Einbildungskraft übertrieb er sich das Glück, das er nicht genießen konnte. Hätte der Himmel ihm ein nüchternes, kaltes, vernünftiges Herz verliehen, er hätte bei all den andern Vorzügen, die er in sich vereinigte, sehr glücklich sein können. Ihm fehlte nichts als eine gewöhnliche Seele.

Nur in Gegenwart seiner Kusine wagte Octave bisweilen laut zu denken. Man versteht, warum er so peinlich berührt war, als er fand, daß die Gefühle dieser liebenswürdigen Kusine sich mit seinem Vermögen änderten.

Am Morgen nach dem Tage, wo Octave sich den Tod gewünscht hatte, wurde er schon um sieben Uhr früh von seinem Onkel, dem Komtur, jählings geweckt. Der betrat sein Zimmer mit einem gewollten Heidenlärm; war er doch nie ungekünstelt. Octaves Zorn über dieses Getöse währte keine drei Sekunden. Der Gedanke der Pflicht stellte sich ein, und er begrüßte Herrn von Soubirane in dem leichten scherzenden Ton, der für ihn paßte.

Diese gewöhnliche Seele, die vor oder nach der Herkunft nichts in der Welt achtete als das Geld, erklärte dem vornehmen Octave lang und breit, daß man nicht toll vor Glück werden dürfe, wenn man statt einer Rente von 25 000 Franken die Aussicht auf eine solche von 100 000 hätte. Diese philosophische und fast christliche Rede schloß mit dem Rate, an der Börse zu spielen, wenn man ein Zwanzigstel der zwei Millionen erhalten hätte. Der Marquis würde Octave sicherlich einen Teil dieses Vermögenszuwachses zur Verfügung stellen, aber er dürfe sein Glück an der Börse nur nach den Ratschlägen des Komturs probieren; er kenne die Gräfin von . . . und man könne »mit Sicherheit« auf Staatspapiere spekulieren. Bei dem Worte »mit Sicherheit« fuhr Octave hoch. »Ja, mein Lieber«, sagte der Komtur, der diese Bewegung für ein Zeichen des Zweifels hielt, »mit Sicherheit. Ich habe die Gräfin . . . seit ihrem lächerlichen Benehmen beim Fürsten von S . . . etwas vernachlässigt, aber schließlich sind wir weitläufig verwandt, und ich verlasse dich jetzt, um unsern gemeinsamen Freund, den Herzog von . . ., aufzusuchen, der uns wieder aussöhnen wird.«

 


 << zurück weiter >>