Stendhal
Armance
Stendhal

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Sein grausamstes Ungemach bereitete er sich selbst.
        Balzac

 

Armance wäre vielleicht durch das höfliche Entgegenkommen des Komturs getäuscht worden, aber ihre Gedanken beschäftigten sich nicht mehr mit ihm; sie hatte andre Anlässe zu Sorgen.

Seit ihrer Heirat nichts mehr im Wege stand, hatte Octave Anfälle von düsterer Laune, die er kaum verbergen konnte. Er schützte heftige Kopfschmerzen vor und unternahm einsame Ritte in die Wälder von Ecouen und Senlis. Bisweilen legte er sieben bis acht Wegstunden im Galopp zurück. Diese Symptome erschienen Armance unheilvoll; sie bemerkte, daß er sie manchmal mit Augen ansah, aus denen mehr Argwohn als Liebe sprach.

Allerdings endigten diese Anfälle düsterer Laune häufig mit Liebesüberschwang und leidenschaftlicher Hingebung, wie sie sie zur Zeit ihres Glücks nie gekannt hatte. So nämlich begann sie in ihren Briefen an ihre Freundin Méry von Tersan die Zeit zu nennen, die zwischen Octaves Verwundung und ihrer schicksalsvollen Unvorsichtigkeit lag, sich in dem Kämmerchen neben dem Zimmer des Komturs zu verstecken.

Seit der Bekanntgabe ihrer Heirat hatte Armance den Trost, ihr Herz ihrer Busenfreundin ausschütten zu können. Méry war in einer sehr uneinigen und stets durch neue Intrigen erregten Familie groß geworden und daher wohl imstande, ihr verständige Ratschläge zu geben.

Bei einem der langen Spaziergänge, die sie mit Octave im Schloßgarten unter Frau von Maliverts Fenstern machte, hatte Armance eines Tages zu ihm gesagt: »Ihre Traurigkeit hat etwas so Außergewöhnliches, daß ich, die Sie einzig auf Erden liebt, das Bedürfnis hatte, eine Freundin um Rat zu fragen, bevor ich mit Ihnen zu sprechen wagte, wie ich es jetzt tue. Sie waren glücklicher vor jener grausamen Nacht, wo ich so unvorsichtig war, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß all mein Glück noch viel schneller verschwunden ist als das Ihre. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen: kehren wir zu dem völlig glücklichen Zustand zurück, zu jener holden Vertrautheit, die den Reiz meines Lebens ausmachte, seit der Zeit, wo ich wußte, daß Sie mich liebten, bis zu jenem verhängnisvollen Heiratsplan. Ich will die ganze Wunderlichkeit der Entlobung auf mich nehmen. Ich werde den Leuten sagen, ich hätte gelobt, nie zu heiraten. Man wird diesen Gedanken tadeln; er wird der guten Meinung, die einige Freunde von mir haben, schaden – was liegt daran? Schließlich ist die Meinung der Menschen für ein wohlhabendes Mädchen nur so lange wichtig, als sie ans Heiraten denkt; ich aber werde sicherlich nie heiraten.« Statt jeder Antwort ergriff Octave ihre Hand, und Tränen entströmten seinen Augen. »Teurer Engel!« sagte er, »wie hoch stehen Sie über mir!« Der Anblick dieser Tränen bei einem Manne, der solcher Schwäche wenig unterworfen war, und seine schlichten Worte brachten Armances Entschluß vollends ins Wanken.

Schließlich stieß sie mühsam hervor: »Antworten Sie mir, mein Freund. Nehmen Sie einen Vorschlag an, der mir mein Glück wiedergibt! Wir werden trotzdem unser Leben gemeinsam verbringen.« Sie sah einen Diener kommen. »Es wird gleich zum Frühstück läuten«, sagte sie. »Ihr Herr Vater wird aus Paris kommen, dann kann ich nicht mehr mit Ihnen reden, und kann ich das nicht, so werde ich den ganzen Tag lang unglücklich und erregt sein, denn ich muß etwas an Ihnen zweifeln.« – »Sie an mir zweifeln?« sagte Octave mit einem Blick, der für den Augenblick alle Befürchtungen Armances zerstreute.

Nachdem sie ein paar Minuten schweigend gegangen waren, fuhr Armance fort: »Nein, Octave, ich zweifle nicht an Ihnen. Wenn ich an Ihrer Liebe zweifelte, so hoffe ich, würde Gott mir die Gnade erweisen, mich sterben zu lassen. Aber schließlich sind Sie weniger glücklich, seit Ihre Heirat beschlossen ist.« – »Ich will mit Ihnen sprechen wie mit mir selbst«, entgegnete Octave ungestüm. »Es gibt Augenblicke, wo ich viel glücklicher bin, denn schließlich habe ich die Gewißheit, daß nichts auf der Welt mich von Ihnen trennen kann. Ich kann Sie zu jeder Stunde sehen und mit Ihnen sprechen. Aber . . .«, setzte er hinzu und versank in eine jener Anwandlungen düsteren Schweigens, die Armance zur Verzweiflung brachten.

Die Angst vor der Frühstücksglocke, die sie vielleicht für den ganzen Tag trennte, gab ihr nochmals den Mut, Octave in seiner Verträumtheit zu stören. »Aber was denn, lieber Freund«, versetzte sie. »Sagen Sie mir alles. Dieses schreckliche Aber macht mich hundertmal unglücklicher als alles, was Sie hinzusetzen könnten.«

»Wohlan«, sagte Octave stehenbleibend. Er wandte sich zu ihr und blickte sie starr an, nicht mehr als Liebender, sondern wie um ihre Gedanken zu erraten. »Sie sollen alles erfahren! Der Tod wäre mir weniger qualvoll als das, was ich Ihnen zu sagen habe, aber ich liebe Sie auch mehr als das Leben. Brauche ich Ihnen zu schwören, nicht mehr als Ihr Liebhaber« (und wirklich, seine Blicke waren jetzt nicht die eines Liebhabers), »sondern als Ehrenmann, und wie ich es Ihrem Herrn Vater schwören würde, hätte der Himmel ihn uns erhalten – brauche ich Ihnen zu schwören, daß ich Sie einzig auf Erden liebe, wie ich nie geliebt habe noch lieben werde? Von Ihnen getrennt zu sein, wäre für mich Tod und hundertmal schlimmer als Tod, aber ich habe ein furchtbares Geheimnis, das ich nie einem Menschen anvertraut habe. Dies Geheimnis wird Ihnen meine unseligen Wunderlichkeiten erklären.«

Während Octave diese Worte hervorstieß, verzerrten sich seine Züge, und seine Blicke waren irr. Es war, als hätte er Armance nicht mehr gesehen; seine Lippen bewegten sich krampfhaft. Noch unglücklicher als er, stützte sich Armance auf den Kübel eines Orangenbaumes; sie fuhr hoch, als sie den verhängnisvollen Baum erkannte, wo sie in Ohnmacht gesunken war, als Octave nach der Nacht im Walde so hart mit ihr sprach. Octave stand aufrecht vor ihr, wie vor Schrecken erstarrt, und wagte nicht fortzufahren. Seine entsetzten Augen starrten vor sich hin, als sähe er ein Ungeheuer.

»Lieber Freund«, sagte Armance, »ich war unglücklicher, als Sie vor Monaten an diesem selben Orangenbaum so grausam mit mir sprachen; damals zweifelte ich an Ihrer Liebe. Was sage ich?« fuhr sie leidenschaftlich fort. »An jenem Schicksalstage hatte ich die Gewißheit, daß Sie mich nicht liebten. Ach, mein Freund, wieviel glücklicher bin ich heute!«

Der aufrichtige Ton, mit dem Armance die letzten Worte sprach, schien den bittern, bösen Schmerz zu lindern, der Octave quälte. Armance vergaß ihre gewohnte Zurückhaltung, drückte ihm leidenschaftlich die Hand und drängte ihn zum Sprechen. Ihr Gesicht war dem seinen einen Augenblick so nahe, daß er die Wärme ihres Atems spürte. Diese Empfindung machte ihn weich; das Sprechen wurde ihm leicht.

»Ja, liebe Freundin«, sagte er, sie endlich anblickend, »ich bete dich an. Du zweifelst nicht an meiner Liebe. Aber wer ist der Mann, der dich anbetet? Ein Ungeheuer!«

Bei diesen Worten schien Octaves Rührung zu weichen. Er wurde plötzlich wie rasend, riß sich von Armances Armen los, die ihn vergebens zurückzuhalten suchte, und ergriff die Flucht. Armance blieb starr stehen. Im selben Augenblick läutete es zum Frühstück. Mehr tot als lebendig, brauchte sie nur vor Frau von Malivert zu treten, um die Erlaubnis zu erhalten, nicht bei Tisch zu erscheinen. Kurz danach kam Octaves Diener und meldete, sein Herr hätte soeben in einer eiligen Sache im Galopp nach Paris reiten müssen.

Das Frühstück war schweigsam und frostig; der einzige Glückliche war der Komtur. Die gleichzeitige Abwesenheit der jungen Leute fiel ihm auf, und in den Augen seiner Schwester sah er bange Tränen; er hatte einen Augenblick der Freude. Wie ihm schien, wollte die Heiratsangelegenheit nicht recht vorwärts kommen. Man bringt auch weiter gediehene zum Scheitern, dachte er, und er war mit seinen Gedanken so beschäftigt, daß er es an Aufmerksamkeit für die Damen d'Aumale und von Bonnivet fehlen ließ. Die Freude des Komturs nahm noch zu, als der Marquis trotz der Nachwehen eines Gichtanfalls aus Paris ankam und höchst verstimmt war, Octave nicht zu sehen, den er von seiner Ankunft benachrichtigt hatte. »Die Gelegenheit ist günstig«, dachte der Komtur, »um die Vernunft zu Worte kommen zu lassen.« Kaum war das Frühstück beendet, so zogen sich Frau d'Aumale und Frau von Bonnivet zurück, Frau von Malivert ging zu Armance, und der Komtur konnte, angeregt und glücklich, fünf Viertelstunden lang seinen Schwager in seinem Entschluß bezüglich Octaves Heirat wankend machen.

Es lag viel Rechtschaffenheit in allem, was der alte Marquis entgegnete. »Die Entschädigung gehört deiner Schwester, nicht mir«, sagte er. »Ich bin ein Bettler. Diese Entschädigung setzt uns in den Stand, an Octaves Verheiratung zu denken. Deine Schwester wünscht die Heirat mit Armance, die übrigens nicht vermögenslos ist, anscheinend noch mehr als er. Bei alledem kann ich als Ehrenmann nur raten; meine Autorität könnte ich hier nicht geltend machen. Das sähe ja so aus, als wollte ich meiner Frau die Freude rauben, ihr Leben mit ihrer vertrautesten Freundin zu verbringen.«

Frau von Malivert hatte Armance stark erregt, aber wenig mitteilsam gefunden. Durch ihren freundschaftlichen Zuspruch gedrängt, sprach Armance ziemlich unbestimmt von einem kleinen Zank, wie er unter Liebesleuten manchmal vorkommt. »Ich bin sicher, Octave hat unrecht«, sagte Frau von Malivert und stand auf. »Sonst würdest du mir alles sagen.« Und sie ließ Armance allein. Damit tat sie ihr einen großen Gefallen. Es wurde Armance bald klar, daß Octave ein großes Verbrechen begangen hätte, dessen verhängnisvolle Folgen er sich zwar übertrieb, aber daß er als Ehrenmann nicht wollte, daß sie ihr Schicksal an das eines Missetäters, womöglich eines Mörders, knüpfte, bevor er ihr die volle Wahrheit gestanden hatte.

Dürfen wir zu sagen wagen, daß diese Erklärung für Octaves Wunderlichkeit seine Kusine gewissermaßen beruhigte? Sie ging in den Garten, in der leisen Hoffnung, ihn zu treffen. Jetzt fühlte sie sich völlig geheilt von ihrer großen Eifersucht auf Frau d'Aumale. Allerdings gestand sie sich diese Ursache ihres zärtlichen, glücklichen Zustands nicht ein. Sie fühlte sich vom zärtlichsten, hochherzigsten Mitleid hingerissen. »Müßte er Frankreich verlassen«, sagte sie sich, »und in die Fremde ziehen, selbst nach Amerika, so würden wir halt abreisen«, sagte sie sich voller Freude, »und je eher, desto lieber.« Ihre Phantasie verirrte sich in Vorstellungen von völliger Einsamkeit und einem Leben auf einer öden Insel, die zu romantisch und vor allem durch die Romane zu geläufig sind, um darauf einzugehen.

Weder an diesem noch am folgenden Tage kam Octave zurück. Erst am zweiten Tage abends erhielt Armance einen Brief aus Paris. Nie war sie glücklicher gewesen. Dieser Brief atmete die lebendigste, hingehendste Leidenschaft. »Ach!« sagte sie sich, »wäre er beim Schreiben dieses Briefes hier gewesen, er hätte mir alles gestanden.« Octave gab ihr zu verstehen, daß die Scham, ihr sein Geheimnis zu sagen, ihn in Paris zurückhalte. »Nicht immer«, fuhr er fort, »werde ich den Mut finden, dies Schicksalswort auszusprechen, selbst vor Ihnen nicht, denn es kann die Gefühle herabmindern, die Sie in Ihrer Güte für mich hegen und die mein ein und alles sind. Drängen Sie mich deshalb nicht, liebe Freundin.« Armance sandte ihm schleunigst die Antwort durch den Diener, der darauf wartete. »Ihr größtes Verbrechen«, schrieb sie ihm, »ist, daß Sie sich von uns fern halten.« Ihre Überraschung war ebenso groß wie ihre Freude, als sie Octave eine halbe Stunde darauf erscheinen sah; er hatte die Antwort in Labarre bei Andilly erwartet.

Die folgenden Tage waren restlos glücklich. Die Illusionen der Leidenschaft, die Armance erfüllte, waren so eigenartig, daß sie sich bald daran gewöhnt hatte, einen Mörder zu lieben. Ihr Vetter sprach zu gut, um seine Gedanken zu übertreiben, und er hatte die Worte gebraucht: »Ich bin ein Ungeheuer

In dem ersten Liebesbrief ihres Lebens hatte sie ihm gelobt, ihm keine Fragen zu stellen; dieser Schwur war ihr heilig. Octaves Antwortbrief war ihr ein Schatz. Zwanzigmal las sie ihn wieder. Sie nahm die Gewohnheit an, dem Manne, dem sie angehören sollte, allabendlich zu schreiben, und da sie sich etwas geschämt hätte, seinen Namen vor ihrer Zofe auszusprechen, versteckte sie ihren ersten Brief in dem Orangenbaumkübel, den Octave so gut kennen mußte.

Das sagte sie ihm eines Morgens kurz, als man sich an den Frühstückstisch setzte. Octave verschwand unter dem Vorwand, etwas bestellen zu müssen, und als er eine Viertelstunde später zurückkam, hatte sie das unaussprechliche Vergnügen, in seinen Augen strahlendes Glück und zärtlichste Dankbarkeit zu lesen.

Ein paar Tage darauf wagte sie ihm zu schreiben: »Ich halte Sie irgendeines großen Verbrechens für schuldig. Es wird unsre Lebensaufgabe sein, es zu sühnen, wenn es sühnbar ist. Aber seltsam: seit dieser Anvertrauung bin ich Ihnen vielleicht noch zärtlicher zugetan als vorher. Ich fühle, wie schwer Ihnen dies Geständnis hat fallen müssen. Es ist das erste große Opfer, das Sie mir je brachten, und – darf ich sagen? – erst seitdem bin ich von einem häßlichen Gefühl geheilt, das ich Ihnen meinerseits fast nicht zu gestehen wagte. Ich stelle mir das Schlimmste vor, was es gibt. So scheint es mir, daß Sie mir vor der bewußten Zeremonie kein eingehenderes Geständnis abzulegen haben. Sie haben mich dann nicht betrogen, das erkläre ich Ihnen. Gott verzeiht dem Reuigen, und ich bin sicher, Sie übertreiben Ihr Vergehen. So schwer es auch sein mag, ich, die Ihre Herzensangst gesehen habe, verzeihe es Ihnen. Sie werden mir in Jahresfrist ein völliges Geständnis ablegen; vielleicht flöße ich Ihnen dann weniger Furcht ein . . . Indes kann ich Ihnen nicht versprechen, Sie heißer zu lieben.«

Mehrere in diesem Ton engelhafter Güte geschriebene Briefe hatten Octave fast bestimmt, seiner Freundin schließlich das Geständnis zu machen, das er ihr schuldete, aber die Scham und Verlegenheit, einen solchen Brief zu schreiben, hielten ihn noch zurück.

Er fragte in Paris Herrn Dolier um Rat, jenen Verwandten, der sein Sekundant gewesen war. Wie er wußte, besaß Herr Dolier viel Ehre, aufrechten Sinn und nicht Geist genug, um Kompromisse mit der Pflicht zu schließen oder sich Illusionen zu machen. Octave fragte ihn, ob er unbedingt Fräulein von Zohiloff ein peinliches Geständnis machen müsse, das er ihrem Vater oder Vormund ohne Zaudern vor der Ehe gemacht hätte. Er ging sogar so weit, Herrn Dolier die oben angeführte Stelle aus Armances Brief zu zeigen.

»Sie können nicht umhin, es zu sagen«, entgegnete der brave Offizier. »Das ist strenge Pflicht. Sie können sich Fräulein von Zohiloffs Hochherzigkeit nicht zunutze machen. Es wäre des edlen Octave unwürdig, irgendwen zu hintergehen, wieviel mehr also eine arme Waise, die unter allen Männern der Familie vielleicht keinen Freund hat als Sie.«

Octave hatte sich das alles tausendmal gesagt, aber im Munde eines Mannes von Ehre und Charakter gewann es neue Macht. Octave glaubte die Stimme des Schicksals zu hören.

Er verabschiedete sich von Herrn Dolier und gelobte sich, den Schicksalsbrief in dem ersten Café rechter Hand zu schreiben, an dem er vorbeikäme. Und er hielt Wort. Er schrieb einen Brief von zehn Zeilen und adressierte ihn an Fräulein von Zohiloff in Schloß Andilly.

Als er das Café verließ, blickte er nach einem Briefkasten aus; der Zufall wollte, daß er keinen sah. Ein Rest des peinlichen Gefühls, das ihn bestimmt hatte, ein solches Geständnis möglichst hinauszuschieben, überzeugte ihn alsbald, daß er einen so wichtigen Brief nicht der Post anvertrauen dürfe und daß es besser sei, wenn er ihn selbst in den Orangenkübel im Schloßgarten von Andilly steckte. Octave besaß nicht Geist genug, in dem Gedanken an diesen Aufschub die letzte Regung einer kaum bezwungenen Leidenschaft zu sehen.

In seiner Lage war die Hauptsache, mit keinem Schritt dem Widerstreben nachzugeben, das er mit Hilfe der strengen Ratschläge Doliers überwunden hatte. Er stieg zu Pferde, um seinen Brief nach Andilly zu bringen.

Seit dem Morgen, wo der Komtur den Verdacht einer Mißhelligkeit zwischen den Liebenden gefaßt hatte, war die angeborene Leichtfertigkeit seines Charakters einem ziemlich beharrlichen Wunsch, ihnen zu schaden, gewichen. Er hatte den Chevalier von Bonnivet ins Vertrauen gezogen. Die ganze Zeit, die der Komtur sonst mit Träumen über Börsenspekulationen und mit dem Eintragen von Zahlen in ein Notizbuch verbracht hatte, benutzte er nun zum Ausfindigmachen von Mitteln, wie er die Heirat seines Neffen hintertreiben könnte.

Zuerst waren seine Pläne nicht sehr gescheit; der Chevalier von Bonnivet brachte erst Ordnung in seine Angriffsmittel. Er flüsterte ihm ein, Armance beobachten zu lassen, und mit Hilfe einiger Goldstücke machte der Komtur alle Dienstboten des Hauses zu Spionen. Er erfuhr, daß Octave und Armance sich schrieben und ihre Briefe in dem Orangenkübel Nummer soundso versteckten.

Eine solche Unvorsichtigkeit schien dem Chevalier von Bonnivet unglaublich; er ließ den Komtur darüber nachgrübeln. Als er sah, daß dieser in acht Tagen auf nichts andres verfallen war als auf den alltäglichen Gedanken, die Beteuerungen eines Liebespaares zu lesen, erinnerte er ihn geschickt daran, daß er unter zwanzig verschiedenen Liebhabereien ein halbes Jahr lang auch die für Autographen gehabt hätte. Der Komtur beschäftigte damals einen sehr geschickten Durchzeichner. Dieser Gedanke tauchte also in seinem Kopf auf, führte aber zu nichts. Immerhin wohnte er dort neben einem sehr lebhaften Hause.

Der Chevalier zögerte sehr, sich mit einem solchen Menschen einzulassen. Die Geistesarmut seines Verbündeten entmutigte ihn. Zudem konnte er beim geringsten Fehlschlag alles gestehen. Zum Glück entsann sich der Chevalier eines Schmökers, in dem der Bösewicht die Handschrift des Liebespaares nachahmen läßt und falsche Briefe fabriziert. Der Komtur las gar nichts, schwärmte aber für schöne Einbände. Der Chevalier entschloß sich nun zu einem letzten Versuch; mißlang der, so überließ er ihn seiner eigenen Hilflosigkeit. Ein hochbezahlter Arbeiter Thouvenins arbeitete Tag und Nacht, um den Roman, in dem der Kunstgriff der Brieffälschung vorkam, prächtig einzubinden. Der Chevalier nahm dies Buch mit, brachte es nach Andilly und machte einen Kaffeefleck auf die Seite, wo die Unterschiebung der Briefe vorkam.

»Ich bin trostlos«, sagte er eines Morgens zum Komtur, als er in sein Zimmer ging. »Frau von . . ., die, wie Sie wissen, eine Büchernärrin ist, hat diesen elenden Schmöker prachtvoll einbinden lassen. Ich war so dumm, ihn mitzunehmen, und ich habe eine Seite verkleckst. Sie haben doch erstaunliche Geheimmittel für alles gesammelt oder erfunden; könnten Sie mir nicht sagen, wie man eine neue Seite herstellt?« Nachdem der Chevalier noch viel geredet und dabei Worte gebraucht hatte, die dem Gedanken, den er dem Komtur beibringen wollte, sehr nahe kamen, ließ er das Buch in dessen Zimmer liegen.

Wohl zehnmal sprach er noch mit ihm darüber, bevor Herr von Soubirane auf den Gedanken kam, das Liebespaar durch gefälschte Briefe zu entzweien.

Er war so stolz darauf, daß er die Bedeutung zuerst überschätzte. In diesem Sinne sprach er mit dem Chevalier, der ein so unsittliches Mittel verabscheute und am Abend nach Paris fuhr. Zwei Tage darauf kam der Komtur im Gespräch mit ihm auf diesen Gedanken zurück. »Eine Briefunterschiebung ist abscheulich«, rief der Chevalier aus. »Lieben Sie Ihren Neffen wirklich so sehr, daß der Zweck das Mittel heiligen könnte?«

Doch der Leser ist dieser traurigen Einzelheiten vielleicht ebenso müde wie wir – Einzelheiten, bei denen man die Verderbtheit der neuen Generation mit der Leichtfertigkeit der alten kämpfen sieht.

Der Komtur bemitleidete den Chevalier um seine Biederkeit und bewies ihm, daß in verzweifelten Fällen das sicherste Mittel zum Unterliegen darin bestände, daß man gar nichts täte.

Herr von Soubirane nahm ohne weiteres vom Kaminsims im Zimmer seiner Schwester ein paar Schriftproben von Armance, und sein Durchzeichner fertigte ihm mühelos Kopien an, die von den Originalen schwer zu unterscheiden waren. Bei der Hintertreibung von Octaves Heirat baute er schon mit den bestimmtesten Mutmaßungen auf die Intrigen des Winters, die Zerstreuungen der Bälle, die vorteilhaften Anerbietungen, die er der Familie machen lassen könnte. Der Chevalier von Bonnivet bewunderte diesen Charakter. »Wäre dieser Mann doch Minister«, dachte er. »Dann fielen mir die höchsten Würden zu. Aber bei dieser scheußlichen Verfassung, der Rede- und Pressefreiheit wird solch ein Mensch nie Minister, mag er sich noch so hoher Geburt rühmen können.«

Endlich, nach vierzehntägiger Geduldsprobe, kam der Komtur auf den Gedanken, einen Brief Armances an ihre Busenfreundin Méry de Tersan zu verfassen. Zum zweitenmal war der Chevalier nahe daran, alles im Stich zu lassen. Herr von Soubirane hatte zwei Tage gebraucht, um einen geistsprühenden und mit feinen Gedanken überladenen Brief zu entwerfen, eine Reminiszenz an seine eigenen Briefe von 1789.

»Unser Jahrhundert ist ernster«, sagte der Chevalier. »Seien Sie lieber pedantisch, ernst, langweilig . . . Ihr Brief ist reizend; der Chevalier von Laclos hätte ihn nicht verleugnet, aber heute wird er niemand mehr täuschen.« – »Immer heute, heute!« rief der Komtur aus. »Ihr Laclos war nur ein Geck. Ich weiß nicht, warum ihr jungen Leute euch den zum Muster nehmt. Seine Personen schreiben wie Perückenmacher.«

Über den Haß des Komturs auf Herrn von Laclos war der Chevalier entzückt. Er verteidigte den Verfasser der »Gefährlichen Liebschaften« energisch, wurde aber völlig geschlagen und erhielt endlich ein Briefmuster, das zwar nicht schwülstig und deutsch genug, aber doch leidlich vernünftig war. Diesen nach einer so stürmischen Auseinandersetzung festgesetzten Text gab der Komtur seinem Durchzeichner, der in der Annahme, es handle sich bloß um galante Redensarten, nur soviel Schwierigkeiten machte, um sich gut bezahlen zu lassen. Dann ahmte er Fräulein von Zohiloffs Schrift täuschend nach. Der falsche Brief war ein langes Schreiben Armances an ihre Freundin Méry de Tersan über ihre bevorstehende Heirat mit Octave.

Als dieser mit dem nach Herrn Doliers Rat geschriebenen Brief in Andilly ankam, hatte ihn unterwegs der Gedanke beherrscht, daß Armance seinen Brief erst am Abend nach ihrer Trennung lesen sollte. Am nächsten Morgen in aller Frühe wollte Octave wieder aufbrechen; er war sicher, daß Armance ihm antworten würde. Derart hoffte er die Verlegenheit der ersten Begegnung nach einem solchen Geständnis zu vermindern. Octave hatte sich nur deshalb hierzu entschlossen, weil er Armances Denkweise heroisch fand. Seit sehr langer Zeit hatte er keine Viertelstunde in ihrem Leben wahrgenommen, die nicht von dem Glück oder Leid beherrscht war, das aus ihrem gemeinsamen Gefühl entsprang. Octave zweifelte nicht an ihrer heftigen Leidenschaft für ihn. Bei der Ankunft in Andilly sprang er vom Pferde, eilte in den Garten und versteckte seinen Brief unter ein paar Blättern in der Ecke des Orangenkübels. Da fand er einen Brief von Armance.

 


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