Stendhal
Armance
Stendhal

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Siebzehntes Kapitel

. . . What is a man,
If his chief good, and market of his time,
Be but to sleep, and feed: a beast, no more.
 . . .Rightly to be great
Is, not to stir without great argument;
But greatly to find quarrel in a straw,
When honour 's at the stake.
        Hamlet, Act IV

 

Also war er doch so schwach gewesen, alle Eide zu brechen, die er sich so oft geschworen! Ein Augenblick hatte das Werk seines Lebens vernichtet. Er verlor alles Anrecht auf Selbstachtung. Fortan war die Welt für ihn verschlossen; er besaß nicht Mannheit genug, um in ihr zu leben. Ihm blieb nichts als Einsamkeit und das Wohnen in den Tiefen einer Wüste. Das Übermaß und die Plötzlichkeit des Schmerzes hätte auch die standhafteste Seele verwirren können. Zum Glück erkannte Octave sofort, daß Armances Ruf bedroht war, wenn er Frau d'Aumale nicht sofort und mit der ruhigsten Miene antwortete. Verbrachte er doch seine Tage bei Armance, und Frau d'Aumales Bemerkung war von zwei bis drei Personen gehört worden, die ihn und Armance verabscheuten.

»Ich lieben!« sagte er zu Frau d'Aumale. »Ach, diesen Vorzug hat der Himmel mir offenbar versagt. Das hab' ich nie stärker empfunden noch lebhafter bedauert. Täglich und doch nicht so häufig, wie ich möchte, sehe ich die verführerischste Frau von Paris. Ihr zu gefallen, ist zweifellos der schönste Plan, den ein junger Mann in meinen Jahren fassen kann. Gewiß hätte sie meine Huldigungen nicht angenommen, aber schließlich habe ich auch nie jenen Wahnsinn empfunden, der mich würdig gemacht hätte, sie ihr darzubringen. Nie habe ich in ihrer Gegenwart die schönste Kaltblütigkeit verloren. Bei einem solchen Zuge von Menschenscheu und Fühllosigkeit gebe ich die Hoffnung auf, je bei einer Frau den Verstand zu verlieren.«

Noch nie hatte Octave eine solche Sprache geführt. Diese fast parlamentarische Erklärung zog er geschickt in die Länge, und man hörte begierig zu. Zwei oder drei der anwesenden Herren, wie geschaffen zu gefallen, glaubten oft, in Octave einen glücklichen Nebenbuhler zu sehen. Er hatte das Glück, ein paar Sticheleien aufzufangen. Er sprach viel, beunruhigte die Eigenliebe der andern weiter und konnte schließlich mit gutem Grund hoffen, daß niemand mehr an das nur allzu wahre Wort dachte, das Frau d'Aumale soeben entschlüpft war.

Sie hatte es sehr gefühlvoll gesagt. Octave kam auf den Gedanken, sie stark mit ihrer eignen Person zu beschäftigen. Nachdem er ihr bewiesen, daß er nicht lieben könne, erlaubte er sich zum ersten Male in seinem Leben fast zärtliche Andeutungen bei Frau d'Aumale; sie war darob erfreut. Gegen Ende des Abends war Octave so sicher, jeden Argwohn zerstreut zu haben, daß er wieder Zeit fand, an sich selbst zu denken. Er fürchtete sich vor dem Augenblick des Auseinandergehens, wo er seinem Unglück ungestört ins Gesicht blicken konnte. Er begann die Stunden zu zählen, die die Schloßuhr schlug. Schon lange hatte sie Mitternacht geschlagen, doch der Abend war so schön, daß man ihn gern hinauszog. Als es ein Uhr schlug, verabschiedete Frau d'Aumale ihre Freunde.

Noch hatte Octave eine kurze Frist. Er mußte den Kammerdiener seiner Mutter suchen, um ihm zu sagen, daß er in Paris übernachte. Als er diese Pflicht erfüllt hatte, kehrte er in den Wald zurück. Und hier fehlen mir die Worte, um einen Begriff von dem Schmerze zu geben, der den Unglücklichen packte. »Ich liebe!« sagte er sich mit erstickter Stimme. »Ich und lieben! Großer Gott!« Mit stockendem Herzen und zugeschnürter Kehle, die Augen starr gen Himmel gerichtet, blieb er, wie vor Entsetzen erstarrt, regungslos stehen; dann lief er hastig drauflos. Aber seine Beine trugen ihn nicht; er ließ sich auf einen alten Baumstamm fallen, der den Weg versperrte. In diesem Augenblicke glaubte er das ganze Maß seines Unglücks noch deutlicher zu erkennen.

»Ich besaß nichts als meine Selbstachtung«, sagte er sich; »ich habe sie verloren.« Und auf das unumwundene Geständnis seiner Liebe, denn er fand kein Mittel, sie abzuleugnen, folgten Wutausbrüche und wilde Schreie der Raserei. Weiter kann seelischer Schmerz nicht gehen. Dann stellte sich sehr bald ein Gedanke ein, der für Unglückliche, die beherzt sind, der gewöhnliche Ausweg ist. Aber er sagte sich: »Wenn ich mich töte, ist Armance bloßgestellt. Acht Tage lang wird die ganze Gesellschaft neugierig in den kleinsten Umständen dieses Abends wühlen, und jeder der anwesenden Herren wird das Recht haben, eine andere Darstellung zu geben.«

Nichts Selbstsüchtiges, nichts, was den niedrigen Interessen des Lebens anhaftet, fand in dieser edlen Seele Raum, noch hätte es den Ausbrüchen des furchtbaren Schmerzes, der sie zerriß, Widerpart halten können. Dieses Fehlen jedes gemeinen Interesses, das in solchen Augenblicken eine Ablenkung gewesen wäre ist eine der Strafen, die der Himmel den hohen Seelen anscheinend gern auferlegt.

Die Stunden flossen rasch dahin, ohne Octaves Verzweiflung zu lindern. Bisweilen stand er minutenlang starr da und fühlte jenen furchtbaren Schmerz, der auch die Qual der größten Verbrecher noch erhöht: er verachtete sich selbst über alle Maßen.

Er konnte nicht weinen. Die Schande, die er reichlich zu verdienen glaubte, ließ kein Mitleid mit ihm selbst aufkommen und versagte ihm die Tränen. »Ach!« rief er in einem jener grausamen Augenblicke, »könnt' ich doch ein Ende machen!« Und in Gedanken gewährte er sich den Genuß des Glückes, daß er nichts mehr fühlte. Mit welcher Wonne hätte er sich den Tod gegeben, um sich für seine Schwäche zu strafen und gleichsam seine Ehre wiederherzustellen! »Ja«, sagte er sich, »mein Herz ist verächtlich, weil es eine Handlung begangen hat, die ich mir bei Todesstrafe verboten hatte, und mein Geist ist noch verächtlicher, wenn das möglich ist. Ich habe etwas Sonnenklares nicht gesehen: Ich liebe Armance, liebe sie, seit ich Frau von Bonnivets Erörterungen über die deutsche Philosophie über mich ergehen ließ. Ich war so töricht, mich für einen Philosophen zu halten. In meinem albernen Dünkel hielt ich mich über Frau von Bonnivets leeres Gerede für unendlich erhaben, aber ich habe in meinem Herzen nicht das lesen können, was die schwächste Frau in dem ihren gelesen hätte: eine mächtige, offenbare Leidenschaft, die seit lange jedes Interesse erstickt hat, das ich sonst an den Dingen des Lebens nahm. Alles, was mir nichts von Armance erzählt, ist für mich so gut wie nicht vorhanden. Immerfort habe ich nur mich selbst beurteilt und das alles nicht gesehen. Ach, wie bin ich verächtlich!«

Die Stimme der Pflicht, die sich nach und nach wieder vernehmen ließ, gebot Octave, Fräulein von Zohiloff augenblicks zu fliehen, aber fern von ihr konnte er sich keine Tätigkeit denken, die das Leben lebenswert machte. Nichts schien ihm des geringsten Interesses wert, alles gleich schal, die edelste Handlung wie die gewöhnlichste nützliche Beschäftigung, die Teilnahme an der Befreiung Griechenlands und der Tod an Fabviers Seite so gut wie eine obskure landwirtschaftliche Betätigung fern in der Provinz.

Seine Phantasie durcheilte rasch die ganze Stufenleiter der möglichen Beschäftigungen, um dann wieder desto schmerzlicher in die tiefste, hoffnungsloseste, ausgesprochenste Verzweiflung hinabzusinken. Wie hold wäre ihm in diesem Augenblick der Tod gewesen!

Octave sprach mit lauter Stimme törichte und geschmacklose Dinge, deren Geschmacklosigkeit und Torheit er neugierig beobachtete. »Wozu mir noch was vormachen«, rief er plötzlich aus, als er sich selbst einen Ansiedlungsplan für Brasilien zurechtlegte. »Warum so feig sein und mir noch etwas vormachen? Das Allerschmerzlichste ist, daß Armance Liebe für mich empfindet, und meine Pflichten werden dadurch nur um so strenger. Wie! Wäre Armance verlobt, hätte dann ihr Zukünftiger geduldet, daß sie ihr Leben einzig mit mir verbringt? Und ihre anscheinend so stille, aber so wahre und tiefe Freude, als ich ihr gestern anvertraute, welches meine Absicht bei meinem Benehmen gegen Frau d'Aumale war – wie soll ich das auffassen? Ist dieser Beweis nicht sonnenklar? Und ich konnte mich täuschen? Also war ich unehrlich gegen mich selbst? Also war ich auf dem Wege, der zu den schlimmsten Verbrechen führt? Wie? Gestern um zehn Uhr abends habe ich etwas nicht bemerkt, was mir nach ein paar Stunden völlig klar erscheint? Ach, wie schwach bin ich und wie verächtlich! In kindischem Hochmut habe ich mich zeitlebens zu keiner männlichen Handlung aufgerafft und nicht nur mein eigenes Unglück besiegelt, sondern auch noch das Wesen, das mir auf Erden das liebste ist, mit in den Abgrund gerissen! O Himmel, wie könnte man sich noch erbärmlicher benehmen!« Dieser Augenblick grenzte an Wahnsinn. Octaves Hirn war durch eine brennende Glut wie zerrüttet. Bei jedem Schritt, den sein Geist machte, entdeckte er eine neue Abart seines Unglücks, einen neuen Grund, sich zu verachten.

Der Selbsterhaltungstrieb, der im Menschen stets rege ist, auch in den grausamsten Augenblicken, auch am Fuße des Schafotts, ließ Octave sich gleichsam selbst das Denken verbieten. Er preßte den Kopf in beide Hände, machte fast körperliche Anstrengungen, um nicht zu denken.

Nach und nach ward ihm alles gleich, außer der Erinnerung an Armance, die er doch für immer fliehen und unter keinem Vorwand je wiedersehen wollte. Selbst die Sohnesliebe, so tief sie in seinem Herzen wurzelte, war ausgelöscht.

Er hatte nur noch zwei Gedanken: Armance zu verlassen und sich zu versagen, sie je wiederzusehen; das Leben so ein bis zwei Jahre zu ertragen, bis sie verheiratet war oder bis die Gesellschaft ihn vergessen hatte. Dann, wenn man nicht mehr an ihn dachte, stand es ihm frei, ein Ende zu machen. Das war die letzte Empfindung dieser leiderschöpften Seele. Octave lehnte sich an einen Baum und fiel ohnmächtig zu Boden.

Als er wieder zu sich kam, hatte er ein Gefühl äußerster Kälte. Er schlug die Augen auf: der Morgen graute. Er sah sich in der Pflege eines Bauern, der ihn wieder zu sich zu bringen versuchte, indem er ihn mit kaltem Wasser besprengte, das er in seinem Hut aus einer nahen Quelle geholt hatte. Octave war einen Augenblick verwirrt, seine Gedanken waren nicht klar. Er lag an einem Grabenrand mitten in einer Waldlichtung; dichte Nebelmassen eilten an ihm vorbei. Er erkannte den Ort nicht, wo er sich befand.

Plötzlich fiel ihm all sein Unglück wieder ein. Man stirbt nicht vor Schmerz, sonst wäre er in diesem Augenblick gestorben. Er stieß ein paar Schreie aus, die den Bauern erschreckten. Das Entsetzen dieses Mannes rief Octave zu seiner Pflicht zurück. Der Bauer durfte nicht sprechen! Octave zog seine Börse, um ihm etwas Geld zu geben. Er erzählte dem Manne, der mit seinem Zustand Mitleid zu haben schien, daß er sich infolge einer unklugen Wette zu dieser Stunde im Walde befände und daß ihm sehr viel daran läge, daß niemand erführe, wie schlecht die Nachtkühle ihm bekommen sei.

Der Bauer schien zu verstehen. »Wenn man erfährt, daß ich ohnmächtig geworden bin«, fuhr Octave fort, »so wird man mich auslachen.« – »Ach, ich verstehe«, nickte der Bauer. »Sie können sicher sein, daß ich keinen Ton rede. Man soll nicht sagen, Sie hätten Ihre Wette durch mich verloren. Trotzdem war es ein Glück, daß ich vorbeikam, denn weiß Gott, Sie lagen wie ein Toter da.«

Anstatt zuzuhören, blickte Octave seine Börse an. Das war ein neuer Schmerz: sie war ein Geschenk Armances. Mit Lust fühlte er zwischen seinen Fingern jede der kleinen Stahlperlen, die auf das dunkle Gewebe aufgenäht waren.

Sobald der Bauer fort war, brach Octave einen jungen Kastanienzweig ab und grub damit ein Loch in den Boden. Dann drückte er einen Kuß auf die Börse, Armances Geschenk, und begrub sie an der Stelle, wo er ohnmächtig geworden war. »Das ist meine erste mannhafte Handlung«, sagte er sich. »Leb wohl, leb wohl für ewig, liebe Armance! Gott weiß, wie lieb ich dich habe!«

 


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