Stendhal
Armance
Stendhal

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Tu sei un niente, o morte! Ma sarebbe mai dopo sceso il primo gradino della mia tomba, che mi verrebbe dato di veder la vita come ella è realmente?
        Guasco

 

Bisher hatte Armance ihren Vetter nur im Beisein seiner Mutter gesehen. An jenem Tage glaubte Frau von Malivert nach dem Fortgehen des Arztes in Octaves Augen ungewohnte Kraft und den Wunsch zu lesen, mit Fräulein von Zohiloff zu sprechen. Sie bat ihre junge Verwandte, sie für kurze Zeit bei ihrem Sohne zu vertreten, während sie im Nebenzimmer ein paar unaufschiebbare Zeilen schriebe.

Octave folgte seiner Mutter mit den Blicken. Sobald er sie nicht mehr sah, sagte er: »Liebe Armance, ich werde sterben. Dieser Augenblick hat einige Vorrechte, und Sie werden nicht durch das gekränkt sein, was ich Ihnen zum erstenmal im Leben sagen will. Ich sterbe, wie ich gelebt habe, in leidenschaftlicher Liebe zu Ihnen, und der Tod ist mir süß, weil er mir dies Geständnis erlaubt.«

Armance war zu ergriffen, um antworten zu können. Tränen entströmten ihren Augen, und seltsam, es waren Tränen des Glücks! »Die hingehendste und zärtlichste Freundschaft«, sagte sie endlich, »knüpft mein Schicksal an das Ihre.« – »Ich verstehe«, erwiderte Octave, »ich bin doppelt glücklich, zu sterben. Sie schenken mir Ihre Freundschaft, aber Ihr Herz gehört einem andern, dem Glücklichen, dem Ihre Hand versprochen ist.«

Octaves Stimmfall verriet zuviel Unglück; Armance fand nicht den Mut, ihn in der Todesstunde zu betrüben. »Nein, lieber Vetter«, sagte sie zu ihm, »ich kann nur Freundschaft für Sie hegen, aber kein Mensch auf Erden ist mir teurer als Sie.« – »Und die Heirat, von der Sie sprachen?« forschte Octave. – »Ich habe mir in meinem ganzen Leben nur diese einzige Lüge erlaubt und flehe Sie an, sie mir zu verzeihen. Ich sah kein anderes Mittel, um einem Plane Widerstand zu leisten, den Ihre Frau Mutter aus übermäßiger Voreingenommenheit für mich hegte. Nie werde ich ihre Tochter sein, aber auch nie einen Menschen mehr lieben als Sie. Es liegt bei Ihnen, lieber Vetter, ob Sie meine Freundschaft um diesen Preis wollen.« – »Wenn ich am Leben bliebe, wäre ich glücklich.« – »Ich habe noch eine Bedingung zu stellen«, setzte Armance hinzu. »Um zwanglos das Glück zu genießen, völlig aufrichtig gegen Sie zu sein, versprechen Sie mir, wenn der Himmel Sie genesen läßt, daß niemals von einer Ehe zwischen uns die Rede ist.« – »Welch seltsame Bedingung!« versetzte Octave. »Wollen Sie mir dann noch schwören, daß Sie für niemand Liebe empfinden?« – »Ich schwöre Ihnen«, erwiderte Armance mit Tränen in den Augen, »daß ich in meinem Leben nur Octave geliebt habe und daß er mir seit lange so lieb ist wie nichts auf der Welt. Aber ich kann nur Freundschaft für ihn hegen«, setzte sie hinzu und errötete stark über das Wort, das ihr entschlüpft war. »Aber ich werde ihm nie mein Vertrauen schenken können, wenn er mir nicht sein Ehrenwort gibt, nie im Leben, was auch kommen möge, einen unmittelbaren oder mittelbaren Schritt zu tun, um meine Hand zu erlangen.« – »Ich schwöre es Ihnen«, sagte Octave tief erstaunt. »Aber wird Armance mir gestatten, ihr von meiner Liebe zu sprechen?« – »Das wird der Name sein, den Sie unsrer Freundschaft geben«, sagte Armance mit bezauberndem Blick. »Erst seit ein paar Tagen«, fuhr Octave fort, »weiß ich, daß ich Sie liebe. Aber schon seit lange sind nie fünf Minuten verflossen, ohne daß der Gedanke an Armance darüber entschied, ob ich mich für glücklich oder unglücklich halten sollte. Doch ich war blind.

Gleich nach unserm Gespräch im Walde von Andilly bewies mir ein Scherz von Frau d'Aumale, daß ich Sie liebte. In jener Nacht empfand ich die grausamste Hoffnungslosigkeit. Ich glaubte, Sie fliehen zu müssen, und faßte den Entschluß, Sie zu vergessen und auf Reisen zu gehen. Am Morgen, als ich aus dem Walde kam, begegnete ich Ihnen im Schloßgarten und sprach harte Worte zu Ihnen, damit Ihre gerechte Entrüstung gegen ein so scheußliches Benehmen mir Kraft gegen das Gefühl gäbe, das mich an Frankreich fesselte. Hätten Sie mir nur eins jener sanften Worte gesagt, die Sie bisweilen sprachen, hätten Sie mich angeblickt, ich hätte nie wieder den Mut aufgebracht, der zur Trennung nötig war. Verzeihen Sie mir?«

»Sie haben mich sehr unglücklich gemacht, aber ich habe Ihnen schon vor dem Geständnis verziehen, das Sie mir jetzt machen.«

Schon seit einer Stunde genoß Octave zum erstenmal das Glück, mit der Geliebten von seiner Liebe zu sprechen. Ein Wort hatte beider Lage von Grund aus umgestaltet, und da das Denken aneinander seit lange alle Augenblicke ihres Daseins erfüllte, ließ ein zaubervolles Staunen sie die Nähe des Todes vergessen. Sie konnten kein Wort sprechen, ohne einen neuen Anlaß zur Liebe zu finden.

Mehrmals kam Frau von Malivert auf den Fußspitzen an die Tür ihres Zimmers, unbemerkt von den beiden Wesen, die alles vergessen hatten, selbst den grausamen Tod, der sie trennen sollte. Schließlich fürchtete sie, Octaves Erregung möchte seine Gefahr vermehren. Da trat sie zu ihnen und sagte fast lachend: »Kinder, wißt ihr auch, daß ihr schon über anderthalb Stunden miteinander redet? Das kann dein Fieber steigern.« – »Liebe Mama«, versetzte Octave, »laß dir versichern, seit vier Tagen hab' ich mich nicht so wohl gefühlt.« Und zu Armance gewandt: »Eins erregt mich, wenn das Fieber sehr stark ist. Der arme Marquis von Crêveroche hatte einen bildschönen Hund, der sehr an ihm zu hängen schien. Ich fürchte, das arme Tier wird vernachlässigt, seit sein Herr nicht mehr lebt. Könnte Voreppe sich nicht als Jäger verkleiden und diesen schönen Hühnerhund kaufen? Ich möchte wenigstens die Gewißheit haben, daß er gut behandelt wird. Ich hoffe ihn zu sehen. Jedenfalls schenke ich ihn Ihnen, liebe Kusine!«

Nach diesem unruhvollen Tage fiel Octave in tiefen Schlaf, aber am nächsten Tage stellte sich der Starrkrampf wieder ein. Herr Duquerrel hielt sich für verpflichtet, mit dem Marquis zu reden, und die Verzweiflung im Hause erreichte ihren Gipfel. Trotz seines schroffen Charakters war Octave bei den Dienstboten beliebt; sie schätzten seine Charakterstärke und Gerechtigkeit.

Obwohl er bisweilen furchtbar litt, war er glücklicher als je im Leben. Jetzt, wo er sein Ende nahen fühlte, beurteilte er das Leben endlich vernünftig, und seine Liebe zu Armance nahm noch zu. Ihr verdankte er ja die wenigen glücklichen Augenblicke, die er in diesem Meere von bitteren Empfindungen und Unglück gehabt hatte. Auf ihren Rat hatte er gehandelt, statt der Welt zu grollen, und sich von vielen falschen Urteilen befreit, die sein Unglück noch mehrten. Octave litt schwer, aber zum großen Erstaunen des guten Duquerrel lebte er und hatte sogar Kräfte.

Er brauchte volle acht Tage, um dem Schwur, nie zu lieben, zu entsagen, der die Hauptsache in seinem Leben gewesen war. Die Nähe des Todes vermochte ihn zunächst, sich diesen Eidbruch ehrlich zu verzeihen. »Man stirbt, wie man kann«, sagte er sich. »Ich sterbe auf dem Gipfel des Glücks. Der Zufall schuldete mir vielleicht diesen Ausgleich, nachdem er mich zu einem stets so unglücklichen Wesen gemacht hatte . . . Aber ich kann am Leben bleiben«, dachte er, und da war er mehr in Verlegenheit. Schließlich sagte er sich, in dem unwahrscheinlichen Falle, daß er seine Wunden überstehen würde, wäre es charakterloser, diesen unüberlegten Jugendschwur zu halten, als ihn zu brechen. »Denn schließlich leistete ich diesen Schwur nur im Interesse meines Glückes und meiner Ehre. Wenn ich am Leben bleibe, warum soll ich dann nicht weiter bei Armance die Freuden dieser zärtlichen Freundschaft kosten, die sie mir geschworen hat? Steht es in meiner Macht, die leidenschaftliche Liebe, die ich für sie hege, nicht zu empfinden?«

Octave wunderte sich, daß er noch lebte. Als er endlich nach acht Tagen innerer Kämpfe alle Probleme gelöst hatte, die seine Seele verwirrten, und sich völlig darein ergeben hatte, das unverhoffte, ihm vom Himmel gesandte Glück anzunehmen, trat in seinem Zustand binnen vierundzwanzig Stunden ein völliger Umschwung ein, und auch die schwarzseherischsten Ärzte glaubten Frau von Malivert für das Leben ihres Sohnes bürgen zu können. Kurz darauf hörte das Fieber auf, und er wurde so schwach, daß er kaum zu reden vermochte.

Bei seiner Rückkehr ins Leben ergriff ihn anhaltendes Staunen: alles war für ihn verändert. »Mir scheint«, sagte er zu Armance, »ich war vor diesem Zwischenfall wahnsinnig. Immerfort dachte ich an Sie und verstand mich darauf, mir aus diesem holden Gedanken Unglück zu saugen. Statt mein Benehmen den Ereignissen anzupassen, die mir zustießen, hatte ich mir eine Regel aufgestellt, die aller Erfahrung vorausging.« – »Eine schlechte Philosophie«, lachte Armance. »Darum wollte meine Tante Sie auch durchaus bekehren. Ihr Herren Weisen, das Übermaß eures Hochmuts macht euch wirklich toll; ich weiß nicht, warum wir euch bevorzugen, denn ihr seid gar nicht heiter. Ich grolle mir selbst, daß ich nicht Freundschaft für einen ganz inkonsequenten jungen Mann hege, der nur von seinem Tilbury redet.«

Als Octave wieder völlig klar war, machte er sich zwar noch einige Vorwürfe darüber, daß er seine Eide gebrochen; er achtete sich selbst weniger. Aber die Freude, Fräulein von Zohiloff alles sagen zu können, selbst die Gewissensbisse über seine leidenschaftliche Liebe, beglückte ihn, der sich zeitlebens keinem Menschen anvertraut hatte, in einer Weise, die ihm früher undenkbar erschienen wäre, und so kam er nie ernsthaft auf den Gedanken, zu den alten Vorurteilen und der einstigen Trübsal zurückzukehren.

»Als ich mir selbst gelobte, nie zu lieben, nahm ich mir etwas vor, das über Menschenkraft geht, und so war ich stets unglücklich. Und dieser gewaltsame Zustand hat fünf Jahre gewährt! Ich fand ein Herz, wie ich es auf Erden nicht für möglich gehalten hätte. Der Zufall tritt meinem Wahnsinn entgegen und läßt mich das Glück finden, und ich nehme Anstoß daran und werde fast wütend! Inwiefern handle ich gegen die Ehre? Wer kannte denn meinen Schwur und könnte mir vorwerfen, ihn gebrochen zu haben? Aber es bleibt eine verächtliche Gewohnheit, seinen Schwur zu vergessen: ist es denn gar nichts, in seinen eignen Augen erröten zu müssen? Aber das ist ein circulus vitiosus; habe ich mir nicht ausgezeichnete Gründe dafür angeführt, diesen törichten Schwur eines Sechzehnjährigen zu brechen? Daß es ein Herz wie Armance gibt, ist die Antwort auf alles.«

Immerhin ist die Macht langer Gewohnheiten groß: Octave war nur völlig glücklich, wenn seine Kusine bei ihm war. Er bedurfte ihrer Gegenwart.

Bisweilen trübte ein Zweifel Armances Glück. Ihr schien, als vertraue Octave ihr nicht völlig die Gründe an, die ihn bewogen hatten, sie zu fliehen und Frankreich nach jener Nacht im Walde von Andilly zu verlassen. Fragen zu stellen fand sie unter ihrer Würde, aber eines Tages sagte sie zu ihm in ernstem Tone: »Wenn ich mich meiner großen Freundschaft hingeben soll, die ich für Sie hege, so müssen Sie mich von der Furcht befreien, plötzlich verlassen zu werden, auf Grund irgendeines wunderlichen Einfalls, der Ihnen durch den Kopf geht. Versprechen Sie mir, den Ort, wo ich mit Ihnen bin, einerlei ob Paris oder Andilly, nie zu verlassen, ohne mir alle Ihre Beweggründe zu sagen.« Octave versprach es.

Am sechzigsten Tage nach seiner Verwundung konnte er aufstehen, und die Marquise, die Fräulein von Zohiloff sehr entbehrte, erbat sie von Frau von Malivert zurück, die sie nicht ungern scheiden sah.

Im vertrauten Umgang des häuslichen Lebens und in der Bängnis eines großen Schmerzes achtet man weniger auf sich. Der glänzende Firnis äußerster Höflichkeit macht sich weniger geltend, und die wahren Eigenschaften der Seele kommen voll zu ihrem Rechte. Infolge der Vermögenslosigkeit der jungen Verwandten und ihres fremden Namens, den Herr von Soubirane stets absichtlich falsch aussprach, hatte dieser und bisweilen auch Herr von Malivert sie fast wie eine Gesellschafterin behandelt.

Frau von Malivert zitterte, Octave möchte das bemerken. Da die Ehrerbietung vor seinem Vater ihm den Mund verschloß, hätte er die Sache Herrn von Soubirane gegenüber nur noch hochmütiger auffassen können, und in seiner reizbaren Eigenliebe hätte der Komtur sich unfehlbar durch irgendeine ärgerliche Geschichte gerächt, die er über Fräulein von Zohiloff in Umlauf gebracht hätte.

Solche Reden konnten Octave zu Ohren kommen, und bei der Heftigkeit seines Charakters sah Frau von Malivert die peinlichsten Szenen voraus, die vielleicht kaum zu vertuschen waren. Zum Glück traf nichts von dem ein, was sie in ihrer etwas lebhaften Einbildungskraft geträumt hatte: Octave hatte nichts gemerkt. Armance hielt sich an Herrn von Soubirane durch ein paar verblümte Bemerkungen schadlos, wie wacker die Malteserritter neuerdings mit den Türken Krieg führten, während die russischen Offiziere mit ihren in der Geschichte wenig bekannten Namen Ismailov einnähmen.

Frau von Malivert, die schon im voraus auf die Interessen ihrer Schwiegertochter bedacht war und sich wohl bewußt war, wie äußerst nachteilig es ist, ohne Vermögen und ohne Namen in die Welt zu treten, machte einigen intimen Freundinnen Anvertrauungen in der Absicht, allem vorzubeugen, was Herrn von Soubirane aus verletzter Eitelkeit hätte aufbringen können. Diese übertriebene Vorsichtsmaßregel wäre vielleicht nicht unangebracht gewesen, aber der Komtur, der seit der Entschädigung seiner Schwester an der Börse spielte und stets »sichre Tips« hatte, erlitt einen ziemlich beträchtlichen Verlust, über dem er seine gehässigen Absichten vergaß.

Nach Armances Fortgang sah Octave sie nur noch in Gegenwart Frau von Bonnivets und kam wieder auf düstere Gedanken; sein alter Schwur machte ihm von neuem zu schaffen. Da er infolge seiner Armwunde beständig Schmerzen hatte und manchmal sogar Fieber bekam, rieten die Ärzte, ihn nach Barège ins Bad zu schicken, aber Herr Duquerrel, der seine Kranken nicht alle nach dem gleichen Schema behandelte, entschied, daß etwas frische Luft zur Wiederherstellung Octaves genügte, und verordnete ihm einen Herbstaufenthalt auf den Höhen von Andilly.

Dieser Ort war Octave teuer; schon am folgenden Tage siedelte er über. Nicht als ob er gehofft hätte, Armance dort wiederzufinden; sprach Frau von Bonnivet doch schon seit langem von einer Reise fern ins Poitou. Sie ließ mit großen Kosten das alte Schloß wieder herrichten, in dem der Admiral von Bonnivet einst Franz I. empfangen hatte, und Armance sollte sie begleiten.

Aber die Marquise erfuhr auf geheimem Wege von einer bevorstehenden Ernennung von Rittern des Heiligen-Geist-Ordens. Der verstorbene König hatte Herrn von Bonnivet das blaue Ordensband versprochen. Infolgedessen schrieb der Baumeister kurz darauf aus Poitou, die Anwesenheit der Marquise sei gegenwärtig gegenstandslos, da es an Arbeitern fehle, und wenige Tage nach Octaves Ankunft siedelte auch Frau von Bonnivet nach Andilly über.

 


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