Stendhal
Armance
Stendhal

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Achtes Kapitel

What shall I do the while? Where hide? How live?
Or in my life what comfort, when I am
Dead to him?
        Cymbeline, Act III

 

Armance war von ähnlichen Illusionen weit entfernt. Octave zu sehen, war seit langem der einzige Belang ihres Lebens. Welche Kämpfe hatten ihre Seele zerrissen, als ein unvorhergesehener Zufall die gesellschaftliche Stellung ihres jungen Verwandten veränderte! Wieviel Entschuldigungen hatte sie nicht für den plötzlichen Umschwung in Octaves Benehmen erfunden! Immerfort fragte sie sich: »Hat er eine gewöhnliche Seele?«

Als sie endlich zu der Überzeugung gelangt war, Octave sei geschaffen, um sein Glück in andern Dingen als in Geld und Eitelkeit zu finden, hatte ein neuer Anlaß zu Kummer ihre Beachtung erregt. »Ich würde zwiefach verachtet«, sagte sie sich, »wenn man mein Gefühl für ihn ahnte. Bin ich doch die Ärmste unter den jungen Mädchen, die im Salon der Frau von Bonnivet erscheinen.« Dies tiefe Unglück, das sie von allen Seiten bedrohte, hätte Armance veranlassen sollen, sich von ihrer Leidenschaft loszureißen, aber es vertiefte nur ihre Schwermut und lieferte sie um so blinder der einzigen Freude aus, die ihr auf Erden blieb, der Freude, an Octave zu denken.

Da sie ihn täglich mehrere Stunden sah, änderten die kleinen Alltagsereignisse ihre Ansicht über ihren Vetter. Wie hätte sie da von ihrer Liebe genesen können? Aus Furcht, sich zu verraten, und nicht aus Verachtung hatte sie so sorgfältig jedes vertrauliche Gespräch mit ihm vermieden.

Am Tage nach der Erklärung im Garten kam Octave zweimal ins Haus Bonnivet, aber Armance ließ sich nicht blicken. Dies eigenartige Fernbleiben steigerte noch seine quälende Ungewißheit über den Erfolg oder Mißerfolg des Schrittes, den er gewagt hatte. Am Abend sah er in ihrer Abwesenheit sein Urteil und fand nicht den Mut, sich durch den Klang leerer Worte zu betäuben; er brachte es nicht über sich, mit irgendwem zu sprechen.

Jedesmal, wenn die Salontür aufging, war ihm, als sollte sein Herz zerspringen; endlich schlug es ein Uhr, und er mußte aufbrechen. Als er das Haus Bonnivet verließ, schienen ihm die Vorhalle, die Fassade, der schwarze Marmor über dem Tor, all diese recht alltäglichen Dinge, ein besonderes Gepräge zu tragen, das von Armances Zorn herrührte. Diese alltäglichen Dinge wurden Octave lieb und wert, weil sie ihn schwermütig stimmten. Darf ich sagen, daß sie in seinen Augen rasch eine Art zarter Vornehmheit erhielten? Am nächsten Tage fuhr er zusammen, als er eine Ähnlichkeit zwischen der Umfassungsmauer des Hauses Bonnivet und der alten Gartenmauer seines Hauses entdeckte, die von ein paar gelben Levkojen gekrönt war.

Am dritten Tage nach seiner Auseinandersetzung mit seiner Kusine ging er zu Frau von Bonnivet mit der festen Überzeugung, für immerdar in die Reihe der bloßen Bekanntschaften verwiesen zu sein. Wie groß war seine Verwirrung, als er Armance am Klavier erblickte! Sie begrüßte ihn freundschaftlich. Er fand sie blaß und sehr verändert. Und doch, etwas machte ihn betroffen und gab ihm fast etwas Hoffnung wieder: er glaubte in ihren Augen eine Art von Glück zu lesen.

Das Wetter war herrlich, und Frau von Bonnivet wollte den prangenden Frühlingsmorgen benutzen, um eine lange Spazierfahrt zu machen. »Kommen Sie mit uns, lieber Vetter?« fragte sie. »Ja, Gnädigste, falls es nicht nach dem Bois de Boulogne oder nach Mousseaux geht.« Octave wußte, daß diese Ausflüge Armance mißfielen. »Findet der königliche Park Gnade vor Ihren Augen, wenn wir über den Boulevard fahren?« – »Ich bin seit einem Jahre nicht dagewesen.« – »Ich habe den jungen Elefanten noch nicht gesehen«, sagte Armance, vor Freude hüpfend, und ging, ihren Hut zu holen. Man brach fröhlich auf. Octave war schier außer sich. Frau von Bonnivet fuhr mit ihrem schönen Octave beim Café Tortoni vorbei: so nannten ihn die Leute der Gesellschaft, die sie erblickten. Die Kränklichen unter ihnen gaben sich aus diesem Anlaß trübsinnigen Betrachtungen über die Leichtlebigkeit der großen Damen hin, die die Lebensweise am Hofe Ludwigs XV. wieder aufbrachten. »In den ernsten Zeiten, denen wir entgegengehen«, setzten diese Griesgrame hinzu, »ist es sehr ungeschickt, dem dritten Stande und der Industrie den Vorteil der Sittenstrenge und des makellosen Wandels zu lassen. Die Jesuiten haben ganz recht: man muß mit Strenge anfangen.«

Armance erzählte, der Buchhändler hätte drei Bände der »Geschichte von . . .« geschickt. »Raten Sie mir zu diesem Werke?« fragte die Marquise Octave. »Es wird in den Zeitungen so unverschämt angepriesen, daß ich ihm mißtraue.« – »Sie werden es trotzdem sehr gut geschrieben finden. Der Verfasser versteht zu erzählen und hat sich noch an keine Partei verkauft.« – »Aber ist es amüsant?« fragte Armance. – »Langweilig wie die Pest«, war Octaves Antwort. Man sprach von geschichtlicher Zuverlässigkeit, dann von Denkmälern. »Sagten Sie mir nicht neulich«, versetzte Frau von Bonnivet, »Verlaß sei nur auf die Denkmäler?« – »Ja, für die Geschichte der Griechen und Römer, reicher Völker, die Denkmäler hatten, aber in den Bibliotheken liegen Tausende von Handschriften des Mittelalters, und es ist reine Faulheit unserer angeblichen Gelehrten, wenn wir sie nicht nutzen.« – »Aber diese Handschriften sind in so schlechtem Latein geschrieben«, entgegnete Frau von Bonnivet. – »Für unsere Gelehrten vielleicht wenig verständlich, aber so schlecht nicht. Mit Heloises Briefen an Abälard wären Sie sehr zufrieden.« – »Ihr Grabmal soll im Nationalmuseum gewesen sein«, sagte Armance. »Was hat man damit gemacht?« – »Man hat es auf den Père Lachaise gebracht.« – »Wir wollen es besuchen«, sagte Frau von Bonnivet. Nach wenigen Minuten erreichten sie diesen englischen Garten, der dank seiner Lage der einzig schöne in Paris ist. Sie besuchten das Grabmal Abälards, den Obelisken Massenas, dann das Grab Labédoyères. Octave sah auch die letzte Ruhestätte der jungen B . . . und weihte ihr einige Tränen.

Die Unterhaltung war ernst und feierlich, aber voll rührender Teilnahme. Die Empfindungen wagten sich unverhüllt hervor. Allerdings sprach man nur von Dingen, mit denen man sich nicht bloßstellen konnte, aber der himmlische Reiz ihrer Harmlosigkeit wurde von den Spaziergängern darum nicht minder empfunden. Da erblickten sie eine Gesellschaft, in der die geistvolle Gräfin G . . . den Ton angab. Sie kam hierher, um Inspirationen zu suchen, wie Frau von Bonnivet sagte.

Bei diesem Wort mußten unsere Freunde fast lachen. Nie war ihnen alles Gewöhnliche und Geziere gleich abstoßend erschienen. Wie alle Durchschnittsmenschen in Frankreich, übertrieb auch die Gräfin G . . . ihre Eindrücke, um Wirkung zu erzielen, und die Personen, deren Unterhaltung sie störte, stimmten den Ausdruck ihrer Gefühle etwas herab, nicht aus Falschheit, sondern aus einer Art instinktiver Scham, die den Durchschnittsmenschen, so geistvoll sie sein mögen, unbekannt ist.

Nach einer kurzen allgemeinen Unterhaltung blieben Octave und Armance wegen des schmalen Weges ein paar Schritte zurück.

»Sie waren vorgestern nicht wohl«, sagte Octave. »Die Blässe Ihrer Freundin Méry, die von Ihnen kam, ließ mich sogar befürchten, es ginge Ihnen sehr schlecht.«

»Ich war gar nicht krank«, entgegnete Armance in gewollt leichtem Tone, »und bei dem Anteil, den Sie aus alter Freundschaft an allem nehmen, was mich angeht – um im Stil der Frau von G . . . zu reden – bin ich verpflichtet, Ihnen die Ursache meiner kleinen Verdrießlichkeit zu sagen. Seit einiger Zeit ist von einer Heirat für mich die Rede. Vorgestern war man nahe daran, alles abzubrechen, deshalb war ich im Garten etwas verwirrt. Aber ich bitte Sie um völlige Geheimhaltung«, setzte Armance hinzu, erschreckt über Frau von Bonnivets Näherkommen. »Ich rechne auf ewiges Schweigen, selbst Ihrer Frau Mutter gegenüber, und besonders gegen meine Tante.« Dies erstaunte Octave sehr. Als Frau von Bonnivet sich wieder entfernt hatte, versetzte er: »Wollen Sie mir eine Frage gestatten? Ist es eine reine Konvenienzheirat?«

Armance, der die Bewegung und die frische Luft die schönsten Farben gegeben hatte, erblaßte plötzlich. Als sie tags zuvor ihren heroischen Entschluß faßte, hatte sie diese einfache Frage nicht vorausgesehen. Octave merkte, daß er indiskret gewesen war, und suchte dem Gespräch eine scherzhafte Wendung zu geben. Da sagte Armance, die ihres Schmerzes Herr zu werden suchte: »Ich hoffe, die Person, die man vorschlägt, wird Ihre Freundschaft verdienen; die meine besitzt sie voll und ganz. Aber wenn's Ihnen recht ist, reden wir nicht mehr davon; die Sache liegt vielleicht noch im weiten Felde.« Bald darauf bestieg man wieder den Wagen, und Octave, der nichts mehr zu sagen wußte, ließ sich am Gymnasetheater absetzen.

 


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