Stendhal
Armance
Stendhal

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Zehntes Kapitel

O conoscenza! non è senza il suo perchè che il fedel prete ti chiamô: il più gran dei mali. Egli era tutto disturbato, e però non dubitava ancora, al più al più, dubitava di esser presto sul punto di dubitare. O conoscenza! tu sei fatale a quelli, nei quali l'oprar segue da vicino il credo.
        Il Cardinal Gerdil

 

Muß ich sagen, daß Octave sein Versprechen hielt? Er gab die Vergnügungen auf, die Armance verurteilte. Sein Tatendrang und sein Trachten nach Beobachtung neuer Dinge hatten ihn in die schlechte Gesellschaft getrieben, die oft weniger langweilig ist als die gute. Seit er glücklich war, trieb ihn eine Art von Instinkt dazu, unter Menschen zu gehen; er wollte sie beherrschen.

Zum erstenmal ahnte Octave die Langeweile allzu vollendeter Manieren und der übertriebenen kalten Höflichkeit. Schlechter Ton erlaubt, aufs Geratewohl von sich zu reden, und man ist weniger vereinsamt. Wird einem in jenen glänzenden Salons am Ende der Rue Richelieu, die die Fremden für die gute Gesellschaft halten, Punsch vorgesetzt, so hat man nicht das Gefühl, in einer Menschenwüste zu sein. Im Gegenteil, man kann glauben, zwanzig Busenfreunde zu haben, deren Namen man nicht kennt. Dürfen wir es sagen, ohne uns und zugleich unseren Helden bloßzustellen? Octave sehnte sich nach einigen seiner Soupergenossen zurück.

Sein Leben vor seinem vertrauten Verkehr im Haus Bonnivet begann ihm als töricht und voller Selbstbetrug zu erscheinen. Er sagte sich in seiner originellen und lebhaften Denkart: »Wenn es regnete, so spannte ich keinen Regenschirm auf, sondern regte mich töricht über diesen Zustand des Himmels auf, und in den Augenblicken der Begeisterung für das Schöne und Rechte, die im Grunde nur Wahnsinnsanfälle waren, wähnte ich, der Regen fiele eigens, um mir einen schlimmen Streich zu spielen.«

Er war entzückt, mit Fräulein von Zohiloff über die Beobachtungen sprechen zu können, die er wie ein zweiter Philibert auf einigen sehr eleganten Bällen gemacht hatte. »Ich fand da manches Unerwartete«, sagte er zu ihr. »Ich bin nicht mehr so zufrieden mit dieser ganz vornehmen Gesellschaft, die ich so geliebt habe. Mir scheint, sie ächtet unter geschickten Redensarten jede Energie, jede Originalität. Ist man keine Kopie, so wird man schlechter Manieren bezichtigt. Und dann ist die gute Gesellschaft anmaßend. Früher besaß sie ja das Vorrecht, zu beurteilen, was schicklich ist, aber seit sie sich angegriffen glaubt, verurteilt sie nicht mehr das schlechthin Unpassende und Ungehörige, sondern das, was sie ihren Interessen für schädlich hält.«

Armance hörte ihrem Vetter kalt zu. Schließlich sagte sie: »Von Ihrem heutigen Denken bis zum Jakobinertum ist nur ein Schritt.« – »Das täte mir sehr leid«, versetzte Octave lebhaft. – »Was täte Ihnen leid? Die Wahrheit zu erkennen?« fragte Armance. »Denn offenbar ließen Sie sich durch eine falsche Lehre doch nicht bekehren.« Während des ganzen übrigen Abends machte Octave ungewollt einen verträumten Eindruck.

Seit er die Gesellschaft etwas mehr so sah, wie sie ist, begann er zu argwöhnen, daß Frau von Bonnivet, trotz ihres hohen Anspruches, nie an die Welt zu denken und Erfolge zu verachten, die Sklavin eines schrankenlosen Ehrgeizes war. Manche Verleumdungen der Feinde der Marquise, die ihm der Zufall zugetragen hatte und die ihm noch vor wenigen Monaten als Gipfel der Gemeinheit erschienen wären, kamen ihm jetzt nur noch wie boshafte oder geschmacklose Übertreibungen vor. »Meine schöne Kusine«, sagte er sich, »ist nicht zufrieden mit vornehmer Geburt und einem Riesenvermögen. Das Leben großen Stils, das ihr makelloser Wandel, ihre Klugheit und weise Wohltätigkeit ihr sichern, ist vielleicht für sie nur ein Mittel, aber kein Zweck.«

»Frau von Bonnivet hat das Bedürfnis nach Macht. Aber in der Art dieser Macht ist sie sehr wählerisch. Die Achtung, die man durch eine große Stellung in der Welt erlangt, durch das Ansehen bei Hofe, durch alle Vorteile, die man in einer Monarchie genießen kann, bedeuten ihr nichts mehr. Sie genießt sie schon zu lange; sie langweilen sie. Was kann einem fehlen, wenn man König ist? Gott zu sein.«

»Sie ist abgestumpft gegen das Vergnügen, Achtung aus Berechnung zu genießen; sie bedarf der Achtung des Herzens. Sie bedarf der Empfindung, die Mohammed hat, wenn er zu Said spricht, und mir scheint, fast hätte ich die Ehre gehabt, Said zu sein.«

»Meine schöne Kusine kann ihr Leben nicht mit Empfindsamkeit ausfüllen, denn sie fehlt ihr. Sie braucht keine rührenden oder erhabenen Illusionen, keine Hingebung oder Leidenschaft eines Einzigen, sondern sie will von einer Menge von Jüngern wie eine Prophetin angestaunt werden und vor allem die Macht haben, jeden, der sich auflehnt, augenblicks zu zerbrechen. Ihr Charakter ist zu positiv, um sich mit Illusionen zu begnügen. Sie braucht wirkliche Macht, und wenn ich weiter so offenherzig über alles mögliche mit ihr rede, kann sich dies schrankenlose Machtbedürfnis eines Tages gegen mich kehren.

»Es ist unausbleiblich, daß sie bald mit anonymen Briefen bestürmt wird: man wird ihr meine allzu häufigen Besuche zum Vorwurf machen. Die Herzogin d'Ancre, die gekränkt ist, daß ich ihren Salon vernachlässige, wird sich vielleicht unmittelbare Verleumdungen herausnehmen. Dieser doppelten Gefahr kann meine Gunst nicht standhalten. Bald wird Frau von Bonnivet den Anschein eifrigster Freundschaft nach außen hin sorgfältig wahren und mich mit Vorwürfen über mein seltenes Erscheinen überhäufen, mich aber in die Notwendigkeit versetzen, sie nur ganz selten zu besuchen.«

»Schon erwecke ich den Anschein, als sei ich halb zum deutschen Mystizismus bekehrt. Nun wird sie von mir irgendeinen öffentlichen und gar zu lächerlichen Schritt verlangen. Unterwerfe ich mich dem aus Freundschaft für Armance, so wird man mir bald darauf etwas ganz Unmögliches zumuten.«

 


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