Stendhal
Armance
Stendhal

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Dreizehntes Kapitel

Ay! que ya siento en mi cuidoso pecho
Labrarme poco a poco un vivo fuego
Y desde alli con movimiento blando
Ir por venas y huesos penetrando.
        Araucana, canto XXII

 

Das Übermaß des Glücks, das in Armances Augen strahlte, tröstete Frau von Malivert, die wohl einige Gewissensbisse empfand, weil sie in eine so ernste Angelegenheit eine kleine Lüge verwob. »Was kann es schließlich schaden«, fragte sie sich, »die Heirat dieser reizenden, aber etwas stolzen Kinder zu beschleunigen? Hegen sie doch eine Leidenschaft füreinander, wie man sie auf Erden selten trifft. Ist es nicht meine erste Pflicht, meinen Sohn bei Verstand zu erhalten?«

Der seltsame Entschluß, den Frau von Malivert soeben gefaßt hatte, erlöste Armance von dem tiefsten Schmerz ihres Lebens. Noch vor kurzem hatte sie den Tod ersehnt, und jene Octave zugeschriebene Bemerkung versetzte sie auf den Gipfel des Glückes. Gewiß war sie entschlossen, die Hand ihres Vetters nie anzunehmen, aber jenes holde Wort gab ihr neue Aussicht auf viele glückliche Jahre. »Ich kann ihn heimlich lieben«, sagte sie sich, »bis er heiratet, noch sechs Jahre lang. Und ich werde ebenso glücklich, ja noch glücklicher sein, als wenn ich seine Gefährtin wäre. Nennt man die Ehe doch das Grab der Liebe und sagt, es könne wohl angenehme Ehen geben, aber keine köstlichen! Ich würde zittern, müßte ich meinen Vetter heiraten. Sähe ich ihn dann nicht über alle Maßen glücklich, ich geriete selbst in die tiefste Verzweiflung. Leben wir dagegen in unserer reinen, heiligen Freundschaft, so kann keiner der kleinlichen Belange des Lebens jemals unsere hohen Empfindungen erreichen und herabziehen.«

Mit all der Ruhe, die das Glück verleiht, wog Armance die Gründe, aus denen sie einst beschlossen hatte, Octaves Hand niemals anzunehmen. »Ich gelte in der Welt als eine Gesellschafterin, die den Sohn des Hauses verführt hat. Ich höre jetzt schon, was die Herzogin d'Ancre und selbst die achtenswertesten Damen sagen würden, zum Beispiel die Marquise von Seyssins, die in Octave einen Gatten für eine ihrer Töchter erblickt. Mein guter Ruf ginge um so eher zuschanden, als ich im engsten Kreise mehrerer der angesehensten Damen in Paris gelebt habe. Sie können über mich sagen, was sie wollen, man würde es ihnen glauben. Himmel! In welchen Abgrund von Schande könnten sie mich stürzen! Und Octave könnte mir eines Tages seine Achtung entziehen, denn ich vermag mich ja nicht zu verteidigen. In welchem Salon könnte ich mich sehen lassen? Wo sind meine Freunde? Und zudem: welche Rechtfertigung wäre nach der offenkundigen Niedrigkeit einer solchen Handlung möglich? Hätte ich Familie, Vater und Bruder – würden sie je glauben, daß ich Octave, wenn er an meiner Stelle und ich sehr reich wäre, ebenso zugetan wäre wie jetzt?«

Armance hatte ihren Grund, alles Unzarte, was mit Geld zusammenhängt, so lebhaft zu empfinden. Erst vor ein paar Tagen hatte Octave betreffs einer gewissen Kammermehrheit, die von sich reden machte, gesagt: »Habe ich erst meinen Platz im tätigen Leben inne, so hoffe ich nicht wie diese Herren käuflich zu sein. Ich kann mit fünf Franken am Tage leben, und unter falschem Namen könnte ich im Ausland überall das Doppelte als Chemiker in einer Fabrik verdienen.«

Armance war so glücklich, daß sie keinen Einwand ungeprüft ließ, wie gefährlich auch seine Erörterung sein mochte. »Stellte Octave mich höher als das Vermögen und die Unterstützung, die er von der Familie einer ihm ebenbürtigen Gattin erwarten kann, so könnten wir in der Einsamkeit leben. Warum sollten wir nicht zehn Monate jährlich auf dem hübschen Gut Malivert im Dauphiné verbringen, von dem er mir oft erzählt? Die Welt würde uns rasch vergessen. – Ja, aber ich könnte nicht vergessen, daß es auf Erden einen Ort gibt, wo ich verachtet werde, verachtet von den edelsten Seelen.«

»Die Liebe im Herzen eines angebeteten Gatten erlöschen zu sehen, ist schon für eine reichgeborene Frau das größte Unglück, und doch wäre dies furchtbare Unglück für mich noch nichts. Selbst wenn ich seine Liebe behielte, wäre jeder Tag durch die Furcht vergiftet, Octave könnte auf den Gedanken kommen, ich hätte ihn wegen unseres Vermögensunterschiedes erhört. Mag er auch nicht von selbst auf diesen Gedanken kommen, so wird er durch anonyme Briefe, wie sie auch Frau von Bonnivet erhält, darauf gebracht. Bei jeder Post werde ich zittern. Nein, was auch kommen mag, nie werde ich Octaves Hand annehmen. Und was die Ehre gebietet, ist auch das Sicherste für unser Glück.«

Zwei Tage nach diesem für Armance so glücklichen Tag siedelten Frau von Malivert und von Bonnivet nach einem hübschen Schlosse über, das in den Wäldern auf den Höhen von Andilly versteckt lag. Frau von Malivert sollte auf Anraten ihrer Ärzte reiten und spazierengehen, und gleich am Tage nach ihrer Ankunft in Andilly wollte sie zwei reizende Ponys probieren, die sie für Armance und für sich aus Schottland hatte kommen lassen. Octave begleitete die Damen auf ihrem ersten Spazierritt.

Schon nach einer Viertelstunde glaubte er im Benehmen seiner Kusine große Zurückhaltung ihm gegenüber und vor allem eine auffällige Lustigkeit zu bemerken. Diese Entdeckung gab ihm viel zu denken, und was er im weiteren Verlauf des Spazierritts beobachtete, bestärkte seinen Verdacht. Armance war gegen ihn nicht mehr die gleiche. Es war klar, daß sie heiraten wollte; damit verlor er seinen einzigen Freund auf der Welt. Als er Armance beim Absitzen behilflich war, fand er die Gelegenheit, ohne daß Frau von Malivert es hörte, zu ihr zu sagen: »Ich fürchte sehr, meine schöne Kusine wird bald einen andern Namen tragen. Dies Ereignis wird mir das einzige Wesen auf Erden rauben, das mir etwas Freundschaft gewährt hat.« – »Nie«, entgegnete Armance, »werde ich aufhören, die treueste und ausschließlichste Freundschaft für Sie zu hegen.« Aber während sie diese Worte hervorstieß, lag in ihren Augen solches Glück, daß Octave in seiner vorgefaßten Meinung all seine Befürchtungen verwirklicht sah.

Ihre Güte, ja Vertraulichkeit gegen ihn während dieses Morgenrittes raubten ihm vollends alle Ruhe. »Ich sehe eine deutliche Veränderung in Armances Wesen«, sagte er sich. »Vor ein paar Tagen war sie höchst unruhig, jetzt ist sie ganz glücklich. Die Ursache dieser Veränderung kenne ich nicht, somit kann sie nur zu meinen Ungunsten sein. Wie konnte ich auch so töricht sein, ein Mädchen von achtzehn Jahren zu meiner Vertrauten zu erwählen? Sie heiratet, und alles ist zu Ende. Und bei meinem abscheulichen Stolze stürbe ich lieber tausendfach, als einem Manne das zu sagen, was ich Fräulein von Zohiloff anvertraute. Arbeit könnte mir ein Trost sein, aber habe ich nicht jede vernünftige Beschäftigung aufgegeben? Wahrhaftig, besteht meine einzige Arbeit seit sechs Monaten nicht in dem Versuch, mich bei einer selbstsüchtigen und seichten Gesellschaft beliebt zu machen?«

Um wenigstens diesem nützlichen Zwange zu folgen, verließ Octave Andilly täglich nach dem Spazierritt seine Mutter und machte Besuche in Paris. Er suchte neue Gewohnheiten anzunehmen, um die Leere auszufüllen, die seine reizende Kusine in seinem Leben zurücklassen würde, wenn sie seine Gesellschaft verließe, um ihrem Gatten zu folgen. Dieser Gedanke machte ihm starke Betätigung zum Bedürfnis.

Je mehr sein Herz sich vor Trübsal zusammenkrampfte, um so mehr redete er und suchte zu gefallen. Er fürchtete sich vor dem Alleinsein, fürchtete vor allem die Aussicht auf die Zukunft. Immerfort wiederholte er sich: »Es war kindisch von mir, ein junges Mädchen zur Freundin zu nehmen.« Dieser Ausspruch wurde durch seine Handgreiflichkeit bald zu einer Art Sprichwort für ihn und hinderte ihn, tiefer in seinem eignen Herzen zu forschen.

Armance, die seine Trübsal sah, war gerührt darüber und machte sich oft Vorwürfe über ihr falsches Geständnis. Es verging kein Tag, wenn sie ihn nach Paris fahren sah, wo sie nicht in Versuchung kam, ihm die Wahrheit zu sagen. »Aber diese Lüge ist meine ganze Stärke gegen ihn«, sagte sie sich. »Gestehe ich ihm ein, daß ich noch frei bin, so wird er mich anflehen, dem Wunsch seiner Mutter nachzugeben, und wie soll ich dann widerstehen? Und doch darf ich nie und unter keinem Vorwand einwilligen. Nein, diese angebliche Ehe mit einem Unbekannten, dem ich den Vorzug gebe, ist meine einzige Waffe gegen ein Glück, das uns beide verderben würde.«

Um die Trübsal dieses heißgeliebten Vetters zu verscheuchen, erlaubte Armance sich mit ihm kleine Scherze zärtlichster Freundschaft. Es lag soviel Grazie und naiver Frohsinn in den Beteuerungen ewiger Freundschaft dieses jungen Mädchens, das in all seinen Äußerungen so natürlich war, daß Octaves düstere Misanthropie oft dadurch entwaffnet ward. Er war glücklich wider Willen, und in solchen Augenblicken war auch Armances Glück vollkommen.

»Wie süß ist es, seine Pflicht zu tun!« sagte sie sich. »Wäre ich armes, elternloses Mädchen ebenso glücklich als Octaves Gattin? Tausendfacher grausamer Argwohn würde mich immerfort bestürmen.« Doch nach solchen Augenblicken, wo Armance mit sich und der Welt so zufrieden war, behandelte sie Octave schließlich besser, als sie wollte. Sie gab zwar auf ihre Worte acht und drückte nie etwas andres als die heiligste Freundschaft aus. Aber der Ton mancher Worte! Die Blicke, mit denen sie sie bisweilen begleitete! Jeder andre als Octave hätte darin den Ausdruck lebhaftester Leidenschaft erkannt. Er genoß sie, ohne sie zu verstehen.

Seit er unablässig an seine Kusine denken konnte, verweilten seine Gedanken bei nichts andrem auf der Welt mehr mit Leidenschaft. Er wurde gerecht, ja sogar nachsichtig, und in seinem Glück gab er seine herben Ansichten über mancherlei auf. Die Dummköpfe erschienen ihm nur noch als Wesen, die zu ihrem Unglück geboren waren. »Kann ein Mensch dafür, daß er schwarze Haare hat?« sagte er zu Armance. »Es ist meine Sache, diesen Menschen sorgsam zu meiden, wenn seine Haarfarbe mir zuwider ist.«

In einigen Gesellschaften galt Octave für boshaft, und die Dummköpfe hatten instinktiv Angst vor ihm. Jetzt söhnten sie sich wieder mit ihm aus. Oft trug er all das Glück, das er seiner Kusine verdankte, in die Gesellschaft. Man fürchtete ihn weniger und fand seine Liebenswürdigkeit jugendlicher. Man muß gestehen, daß in all seinem Tun etwas von dem Rausche lag, den jene Art von Glück verleiht, die man sich selbst nicht eingesteht. Das Leben floß für ihn rasch und köstlich dahin. Sein Nachsinnen über sich selbst trug nicht mehr das Gepräge jener unerbittlichen harten Logik, die an ihrer Härte Wohlgefallen findet und die in seiner ersten Jugend alle seine Handlungen bestimmt hatte. Da er oft das Wort ergriff, ohne das Ende seiner Sätze zu wissen, sprach er viel besser.

 


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