Stendhal
Armance
Stendhal

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Sechstes Kapitel

Cromwell, I charge thee, fling away ambition:
By that sin fell the angels; how can man, then,
The image of his Maker, hope to win by't?
        King Henry VIII, Act III

 

Eines Abends, nachdem man sich zum Spiel hingesetzt hatte und die vornehmen Damen erschienen waren, um die Frau von Bonnivet sich bemühte, redete sie besonders auf Octave ein. »Ich begreife Ihr Wesen nicht«, wiederholte sie ihm zum hundertsten Male. – »Wenn Sie mir schwören«, entgegnete er, »mein Geheimnis nie zu verraten, so würde ich es Ihnen anvertrauen. Bisher hat es niemand erfahren.« – »Wie, nicht mal Ihre Frau Mutter?« – »Meine Ehrfurcht verbietet mir, sie zu beunruhigen.« Trotz ihrer idealen Anschauungen war Frau von Bonnivet keineswegs fühllos für den Reiz, das tiefste Geheimnis des Mannes zu erfahren, der in ihren Augen der Vollkommenheit am nächsten kam, zudem ein Geheimnis, das noch niemand kannte.

Auf Octaves Forderung nach ewigem Schweigen verließ Frau von Bonnivet den Salon und kam nach einer Weile mit einem merkwürdigen Schmuckstück an ihrer goldnen Uhrkette zurück, einer Art von eisernem Kreuz, wie es in Königsberg hergestellt wird. Sie nahm es in ihre linke Hand und sagte leise und feierlich zu Octave: »Sie fordern ewige Geheimhaltung von mir. Unter allen Umständen und gegen jedermann, ich schwöre es Ihnen bei Jehova, ja, ich werde das Geheimnis bewahren.«

»Wohlan, gnädigste Frau«, sagte Octave, von dieser kleinen Zeremonie und der feierlichen Miene seiner hochadligen Kusine belustigt, »was meine Seele so oft verdüstert, was ich noch keinem Menschen anvertraut habe, ist dies furchtbare Unglück: Ich habe kein Gewissen. Ich finde in mir nichts von dem, was Sie den inneren Sinn nennen, keine instinktive Abneigung gegen das Verbrechen. Das Laster verabscheue ich ganz einfach infolge einer Überlegung und weil ich es für schädlich halte. Und ein Beweis dafür, daß ich gar nichts Göttliches oder Instinktives besitze, liegt für mich darin, daß ich mir den Gedankengang, infolgedessen ich das Laster verabscheuungswürdig finde, mir stets in allen seinen Teilen wiederholen kann.« – »Ach, wie tun Sie mir leid, lieber Vetter!« sagte Frau von Bonnivet in einem Tone, der das tiefste Vergnügen verriet. »Sie sind genau das, was wir ein aufsässiges Wesen nennen.«

In diesem Augenblick wurde ihr Interesse für Octave einigen boshaften Beobachtern klar, denn man beobachtete beide. Ihre Gebärden verloren jede Geziertheit, wurden feierlich und ehrlich; eine sanfte Glut sprühte aus ihren Augen, als sie dem schönen Jüngling zuhörte, und besonders als sie ihn bedauerte. Frau von Bonnivets gute Freundinnen, die sie von ferne beobachteten, gaben sich den gewagtesten Vermutungen hin, während sie lediglich in der Wonne schwelgte, endlich ein »aufsässiges Wesen« gefunden zu haben. Octave verhieß ihr einen denkwürdigen Sieg, wenn es ihr gelänge, das Gewissen und den inneren Sinn bei ihm zu wecken. Ein berühmter Arzt des 18. Jahrhunderts wurde einmal zu einem vornehmen Herrn gerufen, der mit ihm befreundet war. Nachdem er die Symptome seiner Krankheit lange stillschweigend beobachtet hatte, rief er plötzlich freudestrahlend aus: »Ach, Herr Marquis, das ist eine Krankheit, die seit dem Altertum verloren gegangen ist! Der glasige Schleim! Eine prächtige, höchst lebensgefährliche Krankheit! Ach, ich habe sie wiedergefunden! Ich habe sie wiedergefunden!«

Seit Frau von Bonnivet sich mit der Verbreitung des neuen Protestantismus befaßte, der dem Christentum folgen soll, dessen Zeit vorüber ist und das bekanntlich auf dem Punkt angelangt ist, wo es seine vierte Verwandlung erfahren soll, hörte sie von »aufsässigen Wesen« reden. Sie bilden den einzigen Einwand gegen das System des deutschen Mystizismus, der auf der inneren Erkenntnis von Gut und Böse beruht. Nun hatte sie das Glück, solch ein Wesen zu entdecken; sie allein auf der Welt kannte sein Geheimnis. Und dies »aufsässige Wesen« war vollkommen, denn da sein sittlicher Wandel durchaus ehrenhaft war, konnte die Reinheit seiner Teufelei durch keinen Verdacht persönlichen Vorteils getrübt werden.

Ich will keineswegs all die guten Gründe wiederholen, mit denen Frau von Bonnivet an diesem Abend Octave zu überzeugen suchte, daß er einen »inneren Sinn« besäße. Der Leser ist vielleicht nicht so glücklich, sich drei Schritt von einer reizenden Kusine zu befinden, die ihn von Herzen verachtet und deren Freundschaft er brennend zurücksehnt. Dieser »innere Sinn« kann sich, wie schon sein Name besagt, durch kein äußeres Zeichen bekunden. »Aber nichts ist einfacher und leichter verständlich«, sagte Frau von Bonnivet, »als daß Sie ein aufsässiges Wesen sind usw. Sehen Sie nicht, fühlen Sie nicht, daß es außer Raum und Zeit hienieden nichts Wirkliches gibt?« . . .

Während aller dieser schönen Betrachtungen leuchtete wirklich eine etwas teuflische Freude in den Augen des Vicomte von Malivert, und die übrigens recht scharfblickende Frau von Bonnivet rief aus: »Ach, lieber Octave! Die Aufsässigkeit spricht deutlich aus Ihren Augen.« In der Tat waren diese großen schwarzen Augen, die sonst so mutlos blickten, und deren Flammen durch die schönsten blonden Lockenhaare sprühten, in diesem Augenblick sehr rührend. Sie besaßen jenen Zauber, den man in Frankreich vielleicht mehr empfindet als irgendwo: sie waren der Ausdruck einer Seele, die man jahrelang für erstarrt halten kann und die nun plötzlich für einen Menschen auftaut. Die elektrische Wirkung, die dieser Augenblick vollkommener Schönheit auf Frau von Bonnivet ausübte, und die gefühlvolle Natürlichkeit, die Octave seinen Worten verlieh, machten ihn wahrhaft verführerisch. In diesem Augenblick wäre sie zur Märtyrerin geworden, um den Triumph ihrer neuen Religion zu sichern; Edelmut und Hingebung glänzten in ihren Augen. Welcher Triumph für ihre boshaften Beobachter!

Und diese beiden auffallendsten Menschen im Salon, die ahnungslos eine Schaustellung gaben, dachten keineswegs daran, einander zu gefallen, und hatten nichts weniger im Sinne. Das wäre der Herzogin d'Ancre und ihren Freundinnen, den gewiegtesten Damen Frankreichs, völlig unglaubwürdig erschienen. So beurteilt die Welt Gefühlsdinge.

Armance blieb sich in ihrem Benehmen gegen ihren Vetter völlig gleich. Monate waren verstrichen, seit sie mit ihm nicht mehr über ihre persönlichen Angelegenheiten sprach. Oft redete sie einen ganzen Abend überhaupt nicht mit ihm, und Octave begann sich die Tage zu merken, wo sie von seiner Anwesenheit Kenntnis zu nehmen geruhte.

In dem Bestreben, durch Fräulein von Zohiloffs Haß nicht außer Fassung zu kommen, war Octave darauf bedacht, in der Gesellschaft nicht mehr durch sein unbezwingliches Schweigen und durch die befremdende und höchst vornehme Art und Weise aufzufallen, die seinen schönen Augen vordem einen gelangweilten Ausdruck gegeben hatte. Er sprach viel und völlig unbesorgt um die Abgeschmacktheiten, zu denen er sich vielleicht hinreißen ließ. So ward er, ohne daran zu denken, zu einem der ersten Elegants in den Salons, die irgendwie von dem Salon der Frau von Bonnivet abhingen. Seine völlige Interesselosigkeit in allen Dingen gab ihm eine tatsächliche Überlegenheit über alle seine Nebenbuhler; anspruchslos erschien er unter Menschen, die von Ansprüchen verzehrt wurden. Sein Ruf drang aus dem Salon der berühmten Frau von Bonnivet in Gesellschaftskreise, wo diese Dame beneidet wurde, und so kam er ohne sein Zutun in eine sehr angenehme Lage. Ohne irgend etwas geleistet zu haben, sah er sich beim Eintritt in die Welt als ein Mensch für sich eingeschätzt. Selbst sein plötzliches verächtliches Schweigen in Gegenwart von Leuten, die er zum Verständnis höherer Empfindungen für unfähig hielt, galt als prickelnde Seltsamkeit. Fräulein von Zohiloff sah diese Erfolge und war darüber betroffen. Seit drei Monaten war Octave ein andrer Mensch. Es war nicht zu verwundern, daß seine für jedermann so glänzende Unterhaltung einen besondern Reiz für Armance besaß; hatte sie doch nur den Zweck, ihr zu gefallen.

Gegen Mitte des Winters glaubte Armance, Octave wolle eine große Partie machen, und die gesellschaftliche Stellung, die der junge Vicomte von Malivert in ein paar Monaten zu erringen gewußt hatte, war leicht zu beurteilen. Im Salon der Frau von Bonnivet erschien bisweilen ein sehr hochstehender Herr, der zeitlebens auf Dinge oder Personen gefahndet hatte, die in Mode kommen würden. Er hatte die Manie, sich an sie anzuhängen, und dieser seltsamen Idee hatte er ziemlich große Erfolge zu danken. Als völliger Durchschnittsmensch hatte er sich dadurch über seinesgleichen erhoben. Dieser große Herr, der vor den Ministern wie ein Subalternbeamter kroch und mit ihnen auf bestem Fuße stand, hatte eine Enkeltochter, seine einzige Erbin, auf deren Gatten er die größten Ehren und Vorteile häufen konnte, über die eine monarchische Regierung verfügt. Den ganzen Winter hindurch schien er bereits ein Auge auf Octave geworfen zu haben, aber man ahnte noch nicht, wie hoch die Gunst des jungen Vicomte steigen würde. Der Herzog von . . . veranstaltete eine große Hetzjagd in seinen Wäldern in der Normandie. Es war eine Auszeichnung, dazu eingeladen zu werden. Seit dreißig Jahren hatte er keine Einladung ergehen lassen, deren Grund gewiegte Leute nicht hätten erraten können.

Plötzlich und unvorbereitet erhielt der junge Vicomte von Malivert ein reizendes Briefchen von ihm mit einer Jagdeinladung.

In Octaves Familie, die mit Benehmen und Charakter des alten Herzogs von . . . völlig vertraut war, galt es als ausgemacht, daß er eines Tages Herzog und Pair werden würde, wenn er bei seinem Besuch in Schloß Ranville Erfolg hatte. Mit guten Ratschlägen des Komturs und der ganzen Familie versehen, reiste er ab. Er hatte die Ehre zu sehen, wie ein Hirsch und vier ausgezeichnete Hunde von einem hundert Fuß hohen Felsen in die Seine stürzten, und war am dritten Tage wieder in Paris.

»Sie sind offenbar toll«, sagte Frau von Bonnivet in Armances Gegenwart zu ihm. »Mißfällt Ihnen das Fräulein denn?« – »Ich habe sie mir wenig angesehen«, antwortete Octave sehr kaltblütig. »Sie scheint mir sogar recht hübsch. Als aber die Stunde kam, zu der ich hierher zu kommen pflege, fühlte ich, wie meine Seele sich verdüsterte.«

Nach diesem großen philosophischen Zug fingen die religiösen Gespräche erst recht wieder an. Octave erschien Frau von Bonnivet als erstaunliches Wesen. Schließlich machte das Taktgefühl, wenn ich so sagen darf, oder ein aufgefangnes Lächeln der schönen Marquise begreiflich, daß ein Salon, in dem allabendlich hundert Personen zusammenkommen, nicht der rechte Ort ist, um den Geist der »Aufsässigkeit« zu erforschen. Eines Abends bat sie Octave, am nächsten Tage um Mittag nach dem Frühstück zu ihr zu kommen. Darauf hatte er schon lange gewartet.

Der nächste Tag war einer der herrlichsten Apriltage. Das Frühjahr kündete sich durch ein lindes Lüftchen und Wärmewellen an. Frau von Bonnivet hatte den Einfall, die theologische Konferenz in ihren Garten zu verlegen. Sie hoffte bestimmt, aus dem ewig neuen Schauspiel der Natur einen triftigen Beweis für einen ihrer philosophischen Grundgedanken zu gewinnen. Dieser Grundsatz lautete: »Was sehr schön ist, ist notgedrungen auch stets wahr.« Die Marquise sprach wirklich sehr gut und schon ziemlich lange, als eine Kammerzofe sie wegen eines Besuches bei einer fremden Fürstin suchte. Der Besuch war schon seit acht Tagen verabredet, aber in ihrem Eifer für die neue Religion, deren Paulus Octave eines Tages werden sollte, hatte sie ihn ganz vergessen. Da die Marquise sich im Schwunge fühlte, bat sie Octave, bis zu ihrer Rückkehr zu warten.

»Armance wird Ihnen Gesellschaft leisten«, setzte sie hinzu.

Sobald Frau von Bonnivet fort war, fuhr Octave sofort und ohne jede Schüchternheit fort, die ja die Tochter der bewußten und erwartenden Liebe ist: »Wissen Sie, Kusine, was mein Gewissen mir sagt? Daß Sie mich seit drei Monaten für einen Durchschnittsmenschen halten, dem die Aussicht auf einen Vermögenszuwachs völlig den Kopf verdreht hat. Lange habe ich versucht, mich bei Ihnen zu rechtfertigen, nicht durch leere Worte, sondern durch Taten. Ich bin auf keine entscheidende gekommen; auch ich kann meine Zuflucht nur zu Ihrem inneren Sinn nehmen. Nun, mir ist es folgendermaßen ergangen. Während ich spreche, sehen Sie mir in die Augen, ob ich lüge.« Und er begann seiner jungen Kusine mit vielen Einzelheiten und in völliger Aufrichtigkeit die ganze Reihenfolge seiner Empfindungen und Schritte zu erzählen, die der Leser schon kennt. Er vergaß auch nicht Armances Bemerkung zu ihrer Freundin Méry de Tersan, die er erlauscht hatte, als er das chinesische Schachspiel holte. »Diese Bemerkung war für mein Leben entscheidend. Seit jenem Augenblick dachte ich nur noch daran, Ihre Achtung wiederzuerlangen.«

Diese Erinnerung rührte Armance tief; ein paar stille Tränen flossen über ihre Wangen. Sie unterbrach Octave nicht. Als er aufhörte zu reden, schwieg sie noch lange still.

»Sie halten mich für schuldig!« sagte Octave, tief gerührt über dies Schweigen. »Ich habe Ihre Achtung verloren!« rief er, und Tränen zitterten in seinen Augen. »Nennen Sie mir irgendeine Handlung, durch die ich meinen alten Platz in Ihrem Herzen wiedererlangen kann, und sie ist augenblicklich vollbracht.«

Diese letzten Worte sprach er mit verhaltener, tiefer Entschlossenheit; das war zuviel für Armances Mut. Sie konnte sich nicht mehr verstellen; ihre Tränen überwältigten sie und sie weinte ganz offen. Sie fürchtete, Octave möchte noch mehr sagen, was ihre Verwirrung vermehrt und ihr den letzten Rest von Selbstbeherrschung geraubt hätte. Sie fürchtete sich vor allem zu sprechen. Hastig reichte sie ihm die Hand; sie zwang sich zu reden, nur als Freundin zu reden. »Sie besitzen meine volle Achtung«, sagte sie zu ihm. Sie war sehr froh, als sie von weitem eine Kammerzofe kommen sah. Die Notwendigkeit, ihre Tränen vor diesem Mädchen zu verbergen, gab ihr den Vorwand, den Garten zu verlassen.

 


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