Stendhal
Armance
Stendhal

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Fünftes Kapitel

Her glossy hair was Cluster'd o'er a brow
Bright with intelligence, and fair and smooth;
Her eyebrow's shape was like the aerial bow,
Her cheek all purple with the beam of youth,
Mounting, at times, to a transparent glow,
As if her veins ran lightning.
        Don Juan, Cant. I

 

»Wie könnte ich Fräulein von Zohiloff durch Taten, nicht durch eitle Worte beweisen, daß das Vergnügen, meines Vaters Vermögen vervierfacht zu sehen, mir durchaus nicht den Kopf verdreht hat?« Auf diese Frage eine Antwort zu finden, war vierundzwanzig Stunden lang Octaves Beschäftigung. Zum erstenmal in seinem Leben wurde seine Seele unbewußt fortgerissen.

Seit manchem Jahr war er sich seiner Gefühle stets bewußt gewesen und hieß sie auf die Dinge achten, die ihm vernünftig erschienen. Nun aber erwartete er mit der Ungeduld eines zwanzigjährigen Jünglings die Stunde, wo er Fräulein von Zohiloff begegnen sollte. Er hegte nicht den geringsten Zweifel an der Möglichkeit, mit einem Wesen zu sprechen, das er fast täglich zweimal sah; nur über die Wahl der rechten Worte, mit denen er sie überzeugen wollte, war er noch in Verlegenheit. »Denn schließlich«, sagte er sich, »kann ich mir in vierundzwanzig Stunden keine Handlung ausdenken, die bündig beweist, daß ich über der kleinlichen Gesinnung stehe, die sie mir im Herzensgrund vorwirft; es muß mir also erlaubt sein, mich zunächst mit Worten dagegen zu verwahren.« In der Tat fielen ihm nach und nach viele Worte ein, aber sie erschienen ihm bald zu hochtrabend, bald fürchtete er, eine so schwere Beschuldigung zu leichthin zu behandeln. Er war sich noch nicht darüber schlüssig, was er Fräulein von Zohiloff sagen wollte, als es elf Uhr schlug und er als einer der ersten den Salon der Frau von Bonnivet betrat. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Fräulein von Zohiloff, die mehrmals am Abend und anscheinend wie stets mit ihm sprach, ihm jede Gelegenheit nahm, ihr nur ein Wort unter vier Augen zu sagen! Octave war lebhaft verletzt und der Abend verflog blitzschnell.

Am nächsten Tage glückte es ihm ebensowenig, und ebenso konnte er an den nächstfolgenden Tagen nicht mit Armance sprechen. Tag für Tag hoffte er auf eine Gelegenheit, ihr dies für sein Glück so wichtige Wort zu sagen, und jedesmal sah er seine Hoffnung entschwinden, ohne daß er die geringste Geziertheit in Fräulein von Zohiloffs Benehmen bemerkt hätte. So verlor er die Freundschaft und Achtung des einzigen Wesens, das ihm der seinen würdig erschien, weil man ihm Gefühle zuschrieb, die seinen wirklichen völlig entgegengesetzt waren. Nichts war im Grunde schmeichelhafter, aber auch nichts konnte ihn ungeduldiger machen. Octave war völlig im Bann dessen, was ihm geschah; er brauchte mehrere Tage, um sich an seine neue Lage zu gewöhnen. Er, der so gern geschwiegen hatte, nahm unbewußt die Gewohnheit an, viel zu sprechen, wenn Fräulein von Zohiloff ihn hören konnte. In Wahrheit lag ihm wenig daran, wunderlich oder ungereimt zu erscheinen. Mit welcher glänzenden oder angesehenen Dame er auch sprechen mochte, er sprach doch nur zu Fräulein von Zohiloff und für sie.

Dies wirkliche Unglück entriß Octave seiner schwarzen Trübsal; er vergaß die Gewohnheit, das Maß des im Augenblick genossenen Glücks zu beurteilen. Er verlor seine einzige Freundin, sah sich eine Achtung verweigert, die er so sicher zu verdienen glaubte. Aber so grausam dies auch sein mochte, es konnte ihm nicht den Ekel vor dem Leben einflößen, den er sonst empfunden. Er sagte sich: »Wer wird nicht verleumdet? Die Strenge, die sie gegen mich zeigt, ist ein Pfand für den Eifer, mit dem sie dies Unrecht wieder gutmachen wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt!«

Octave sah ein Hindernis zwischen sich und dem Glücke, aber er sah auch das Glück oder doch das Ende seiner Qual, und zwar einer, an die er unablässig dachte. Sein Leben erhielt ein neues Ziel; er wünschte leidenschaftlich, Armances Achtung wiederzuerlangen, und das war kein leichtes. Dies junge Mädchen hatte einen besondern Charakter. An der russischen Kaukasusgrenze geboren, in Sebastopol, wo ihr Vater befehligt hatte, verbarg Fräulein von Zohiloff unter dem Anschein größter Sanftmut einen festen Willen, würdig des rauhen Klimas, unter dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Ihre Mutter, eine nahe Verwandte der Damen von Bonnivet und Malivert, die sich am Hofe Ludwigs XVIII. in Mitau befand, hatte einen russischen Obersten geheiratet. Herr von Zohiloff gehörte einer der vornehmsten Familien des Gouvernements Moskau an, aber der Vater und Großvater dieses Offiziers hatten sich zu ihrem Unglück an Günstlinge angeschlossen, die bald nach Sibirien verbannt wurden, und so war ihr Vermögen rasch dahingeschwunden.

Armances Mutter starb 1811. Bald darauf verlor sie ihren Vater, den General von Zohiloff, der in der Schlacht bei Montmirail fiel. Als Frau von Bonnivet erfuhr, daß sie eine vereinsamte Verwandte in einer Kleinstadt tief in Rußland hatte, deren ganzes Vermögen aus 100 Louisdors Rente bestand, ließ sie sie unverzüglich nach Frankreich kommen. Sie nannte sie Nichte und gedachte sie zu verheiraten, wenn sie eine Aussteuer vom Hofe erhielt; Armances mütterlicher Urahn war Ritter des Ordens vom Heiligen Geist gewesen. Wie man sieht, hatte Fräulein von Zohiloff mit achtzehn Jahren schon recht viel durchgemacht. Eben deshalb schienen wohl die kleinen Ereignisse des Lebens von ihrer Seele abzugleiten, ohne sie zu erregen. Bisweilen konnte man zwar aus ihren Augen lesen, daß sie lebhafter Wallungen fähig war, aber man erkannte auch, daß nichts Gewöhnliches sie berühren konnte. Diese ungetrübte Heiterkeit, die für einen Augenblick zu verscheuchen so schmeichelhaft gewesen wäre, verband sich bei ihr mit dem scharfsinnigsten Geiste und verschaffte ihr über ihr Alter hinaus Beachtung.

Diesem eigenartigen Charakter und zumal ihren großen tiefblauen Augen, die so bezaubernd blicken konnten, verdankte sie die Freundschaft aller vornehmen Damen im Kreise der Frau von Bonnivet. Aber Fräulein von Zohiloff hatte auch viele Feindinnen. Umsonst suchte ihre Tante ihr beizubringen, gegen Menschen, die sie nicht mochte, zuvorkommend zu sein: sie brachte es nicht fertig. Sprach sie mit solchen, so merkte man nur zu wohl, daß sie an etwas anderes dachte. Zudem gab es im Reden und Handeln wohl manche kleinen Kunstgriffe, die Armance bei anderen Damen nicht zu mißbilligen gewagt hätte, und vielleicht dachte sie nicht mal daran, sie sich selbst zu verbieten, aber hätte sie sich dergleichen erlaubt, sie wäre lange Zeit bei der Erinnerung daran jedesmal errötet. Seit ihrer Kindheit hegte sie so heftige Abneigung gegen solche Kunstgriffe, daß sie sich lebhafte Vorwürfe darüber gemacht hätte. Sie hatte sich daran gewöhnt, sich verhältnismäßig wenig nach ihrer Wirkung auf andere zu beurteilen, um so mehr aber nach ihren jeweiligen Gefühlen, deren Erinnerung ihr Leben vielleicht schon am nächsten Tage vergiften konnte.

Man fand etwas Asiatisches in den Zügen dieses jungen Mädchens wie in ihrer Sanftmut und Lässigkeit, die trotz ihrer Jahre noch kindlich erschien. Was sie auch tun mochte, nichts weckte unmittelbar den Gedanken an ein übertriebenes Gefühl für das, was eine Dame sich selbst schuldig ist, und doch umgab sie ein gewisser Zauber von Anmut und reizender Zurückhaltung. Ohne irgendwie auffallen zu wollen, ja obwohl sie sich immerfort Gelegenheiten zu gesellschaftlichen Erfolgen entgehen ließ, fesselte dies junge Mädchen dennoch. Man sah, daß Armance sich vieles versagte, was durchaus statthaft und gebräuchlich ist und was man bei den vornehmsten Damen täglich sieht. Kurz, ich zweifle nicht, daß Armance ohne ihre große Sanftmut und Jugend von ihren Feindinnen der Prüderie bezichtigt worden wäre.

Ihre fremdartige Erziehung und ihr spätes Erscheinen in Frankreich bildeten sogar eine Art Entschuldigung für die leise Seltsamkeit, die ein gehässiges Auge in der Art und Weise hätte sehen können, wie sie die Ereignisse aufnahm und sich überhaupt betrug.

Octave verbrachte sein Leben bei den Feindinnen, die Fräulein von Zohiloff sich durch ihren seltsamen Charakter gemacht hatte. Die ausgesprochene Gunst, in der sie bei Frau von Bonnivet stand, war ein Punkt, den die Freundinnen dieser hochangesehenen Dame ihr nicht verzeihen konnten. Ihr gerades, kaltes Wesen flößte ihnen Angst ein. Da es schwierig ist, die Handlungen eines jungen Mädchens anzugreifen, griff man ihre Schönheit an. Octave war der erste, der zugab, daß seine junge Kusine noch viel hübscher sein könnte. Sie fiel durch das auf, was ich »russische Schönheit« nennen möchte, ein Verein von Zügen, die zwar in höchstem Maße Schlichtheit und Hingebung ausdrückten, wie man sie bei hochkultivierten Völkern nicht mehr findet, dabei aber, wie man gestehen muß, eine seltsame Mischung reinster tscherkessischer Schönheit mit gewissen, allzu früh hervortretenden deutschen Zügen. Nichts in den Konturen dieses tiefernsten Antlitzes war gewöhnlich, aber es besaß selbst in der Ruhe noch zuviel Ausdruck, um genau der Vorstellung zu entsprechen, die man sich in Frankreich von der Schönheit macht, die einem jungen Mädchen ansteht.

Bei hochherzigen Seelen ist es höchst vorteilhaft für die in ihrer Gegenwart Angeklagten, daß ihre Mängel zuerst von Feindesmund verkündet werden. Wenn der Haß der guten Freundinnen der Frau von Bonnivet sich bis zum offenen Neid auf das armselige kleine Dasein Armances herabließ, hielten sie sich sehr über die schlechte Wirkung der zu weit vorspringenden Stirn und der, von vorn gesehen, vielleicht zu ausgesprochenen Züge auf.

Die einzige wirkliche Blöße, die Armances Gesichtsausdruck ihren Feindinnen geben konnte, war ein eigenartiger Blick, den sie bisweilen hatte, wenn sie gar nicht daran dachte. Dieser starre, tiefe Blick verriet äußerste Aufmerksamkeit. Er hatte zwar gewiß nichts, was das empfindlichste Zartgefühl verletzen konnte, er verriet weder Gefallsucht noch Selbstgewißheit, aber es läßt sich nicht leugnen, daß er eigentümlich und daher bei einem jungen Mädchen unangebracht war. Wenn die guten Freundinnen der Frau von Bonnivet miteinander von Armance sprachen und sicher waren, von ihr gesehen zu werden, machten sie diesen Blick bisweilen nach, aber diese gewöhnlichen Seelen ließen dabei das fort, was sie nicht hatten sehen können. So sagte Frau von Malivet, ob ihrer Bosheit empört, eines Tages zu ihnen, daß zwei unter die Menschen verbannte Engel, die sich in sterblichen Hüllen verbergen müßten, sich nur anzuschauen brauchten, um sich zu erkennen.

Wie man zugeben wird, war es bei einem so überzeugungsstarken und so freimütigen Charakter nicht leicht, sich durch geschickte Andeutungen von einem so schweren Vorwurf reinzuwaschen. Um das zu erreichen, hätte Octave eine Geistesgegenwart und vor allem ein Maß von Sicherheit besitzen müssen, die nicht in seinem Alter lagen.

Ohne es zu wollen, hatte Armance ihn durch ein Wort erkennen lassen, daß sie ihn nicht mehr als vertrauten Freund betrachtete. Sein Herz krampfte sich zusammen, und er war eine Viertelstunde lang keines Wortes mächtig. Er war weit entfernt, in der Form von Armances Bemerkung einen Vorwand zur Antwort und zur Wiedererlangung seiner Rechte zu finden. Bisweilen versuchte er zu sprechen, aber er kam zu spät, und seine Antwort entbehrte der Schlagfertigkeit; allemal zeigte sie eine überzeugte Miene. Während Octave umsonst nach Mitteln suchte, um sich vor Armance wegen ihrer geheimen Anschuldigung zu rechtfertigen, zeigte er unbewußt, wie tief er getroffen war; das war vielleicht die geschickteste Art, ihre Verzeihung zu verdienen.

Seit der Beschluß über das Entschädigungsgesetz auch für den Durchschnitt der Gesellschaft kein Geheimnis mehr war, merkte Octave zu seinem großen Erstaunen, daß er eine Art von Persönlichkeit geworden war. Er sah sich von ernsten Leuten beachtet. Man behandelte ihn auf eine ganz neue Weise, insbesondere sehr vornehme Damen, die in ihm einen Gatten für ihre Töchter sehen mochten. Diese Manie der heutigen Mütter, beständig auf der Jagd nach dem Schwiegersohn zu sein, stieß Octave unbeschreiblich ab. Die Herzogin von . . ., mit der er die Ehre hatte, entfernt verwandt zu sein, und die vor dem Gesetz kaum mit ihm gesprochen hatte, hielt es für nötig, sich bei ihm zu entschuldigen, daß sie ihm für den nächsten Abend keinen Platz in einer reservierten Loge im Gymnasetheater offengehalten hätte. »Lieber Vetter«, sagte sie zu ihm, »ich kenne Ihre ganze ungerechtfertigte Abneigung gegen dies hübsche Theater, das einzige, wo ich mich amüsiere.« – »Ich gebe mein Unrecht zu«, entgegnete Octave. »Die Verfasser haben recht, und ihre Pikanterien sind durchaus nicht grob, aber dieser Widerruf bezweckt keineswegs, Sie um einen Platz zu bitten. Ich gestehe, daß ich weder für die Welt geschaffen bin noch für diese Art Lustspiel, das offenbar ihr freundliches Abbild ist.« Dieser misanthropische Ton bei einem so schönen Jüngling erschien den beiden Enkeltöchtern der Herzogin so lächerlich, daß sie sich den ganzen Abend darüber lustig machten; trotzdem waren sie am nächsten Abend gegen Octave völlig natürlich. Er bemerkte diese Veränderung und zuckte die Achseln.

Octave war erstaunt über seine Erfolge und noch mehr über ihre Mühelosigkeit, und da er in der Theorie des Lebens sehr erfahren war, machte er sich nun auf die Angriffe des Neides gefaßt. »Denn die Entschädigung«, sagte er sich, »muß mir doch auch dies Vergnügen verschaffen.« Er brauchte nicht lange zu warten; wenige Tage darauf erfuhr er, daß einige junge Offiziere aus dem Kreis der Frau von Bonnivet mit Vorliebe über sein neues Vermögen witzelten. »Welch ein Unglück«, sagte einer von ihnen, »sind doch für den armen Malivert diese zwei Millionen, die ihm wie ein Ziegel auf den Kopf fallen! Nun kann er nicht mehr Priester werden! Das ist hart!« – »Es ist unbegreiflich«, sagte ein andrer, »daß man in diesem Jahrhundert, wo der Adel so scharf angegriffen wird, einen Titel zu tragen wagt und sich doch der Bluttaufe entzieht.« – »Und doch ist es die einzige Tugend, die die Jakobiner noch nicht als Scheinheiligkeit hingestellt haben«, versetzte ein dritter. Infolge dieser Reden zeigte Octave sich noch mehr, besuchte alle Bälle, war sehr hochmütig und, soweit er es vermochte, sogar anmaßend gegen die jungen Leute; aber es kam nichts dabei heraus. Zu seinem großen Erstaunen (er war erst zwanzig Jahre alt!) fand er, daß man ihn deswegen nur noch höher achtete. So kam man denn überein, daß die Entschädigung ihm völlig den Kopf verdreht hätte, aber die meisten Damen setzten hinzu: »Dies freie und stolze Wesen hatte ihm bisher noch gefehlt!« So bezeichnete man wohlmeinend das, was ihm selbst als Anmaßung erschien, und was er ohne die üblen Reden über ihn, die man ihm hinterbracht hatte, sich nie erlaubt hätte. Octave genoß die erstaunliche Aufnahme, die er in der Welt fand, und die so wenig zu seiner natürlichen Neigung paßte, sich abseits zu halten. Seine Erfolge gefielen ihm besonders wegen des Glückes, das er in den Augen seiner Mutter las; hatte er doch seine geliebte Einsamkeit auf wiederholtes Drängen seiner Mutter aufgegeben. Aber zumeist hatten die ihm bezeigten Aufmerksamkeiten die Wirkung, daß sie ihn an die Ungnade des Fräuleins von Zohiloff erinnerten. Diese Ungnade schien täglich zuzunehmen. Bisweilen ging sie fast bis zur Unhöflichkeit; wenigstens war es die ausgesprochenste Entfremdung, und sie fiel um so mehr auf, als das neue Dasein, das Octave der Entschädigung verdankte, nirgends offenkundiger war als im Hause Bonnivet.

Seit er die Möglichkeit hatte, eines Tages an der Spitze eines einflußreichen Salons zu stehen, wollte die Marquise ihn durchaus der nüchternen Nützlichkeitsphilosophie entreißen. Diesen Namen gab sie seit einigen Monaten dem, was man die Philosophie des 18. Jahrhunderts zu nennen pflegt. »Wann«, so fragte sie ihn, »werden Sie die Bücher dieser traurigen Menschen ins Feuer werfen, die von den jungen Leuten Ihres Alters und Standes allein Sie noch lesen?«

Frau von Bonnivet hoffte, Octave zu einer Art von deutschem Mystizismus zu bekehren. Sie geruhte ihn auszuforschen, ob er »religiösen Sinn« besäße. Octave rechnete diesen Bekehrungsversuch zu den seltsamsten Dingen, die ihm zugestoßen waren, seit er sein Einsiedlerleben aufgegeben hatte. »Solche Torheiten«, dachte er, »ließen sich nicht voraussehen.«

Frau von Bonnivet konnte für eine der bemerkenswertesten Damen der Gesellschaft gelten. Ihre völlig regelmäßigen Züge, ihre sehr großen Augen mit ihrem imponierenden Blick, ihre herrliche Figur und ihre hochvornehmen, vielleicht zu vornehmen Manieren, wiesen ihr den ersten Rang an, wo sie auch sein mochte. Große Räume waren ihrer Erscheinung äußerst günstig, und bei der Eröffnung der letzten Kammersitzung war sie als erste unter den hervorragenden Damen genannt worden. Mit Vergnügen sah Octave die Wirkung, die ihre Nachforschungen über den »religiösen Sinn« haben würden. Er, der sich so frei von Falschheit wähnte, konnte sich einer Freudenregung bei der Wahrnehmung von etwas Falschem, das die Öffentlichkeit über ihn glauben würde, nicht erwehren.

Frau von Bonnivets hohe Tugend war über jede Verleumdung erhaben. Ihre Phantasie beschäftigte sich nur mit Gott und mit den Engeln, höchstens noch mit gewissen Mittelwesen zwischen Gott und den Menschen, die nach den neusten deutschen Philosophen ein paar Fuß über unsern Häuptern schweben. Von dieser nahen Höhe magnetisieren sie unsere Seelen usw., usw. »Diesen Ruf der Tugendhaftigkeit«, sagte Octave sich, »den Frau Bonnivet seit ihrem Eintritt in die Welt mit vollem Rechte genießt und den auch die wohlweisen Anspielungen verkappter Jesuiten nicht haben schmälern können, den will sie nun für mich aufs Spiel setzen.« Und das Vergnügen, die ausgesprochenen Aufmerksamkeiten einer so angesehenen Dame auf sich zu lenken, ließ ihn geduldig die langen Predigten ertragen, die sie zu seiner Bekehrung für erforderlich hielt.

Bald wurde Octave von seinen neuen Bekannten der Unzertrennliche der Marquise von Bonnivet genannt, dieser in gewissen Kreisen so berühmten Dame, die nach ihrer Meinung bei Hofe Aufsehen erregte, wenn sie dort zu erscheinen geruhte. Obgleich die Marquise eine sehr vornehme Modedame und zudem noch sehr schön war, machten diese Vorzüge Octave keinerlei Eindruck. Leider fand er ihr Benehmen etwas geziert, und wenn er diesen Fehler irgendwo gewahrte, war sein Geist nur noch zu Spott aufgelegt. Aber dieser zwanzigjährige Weise war weit entfernt, die wahre Ursache des Vergnügens zu durchschauen, das er bei seiner Bekehrung fand. Er, der so oft der Liebe abgeschworen hatte, ja für den der Haß auf diese Leidenschaft die Hauptsache im Leben war, er ging mit Vergnügen ins Haus Bonnivet, weil diese Armance, die ihn verachtete, ja ihn vielleicht haßte, stets in der Nähe ihrer Tante war. Octave war sehr anspruchslos. Der Hauptfehler seines Charakters war sogar, sich seine Mängel zu übertreiben, aber wenn er etwas Selbstachtung besaß, so war dies wegen seines Ehrgefühls und seiner Seelenstärke. Ohne irgendwelche Prahlerei noch Schwäche hatte er sich von mehreren jener lächerlichen, aber vorteilhaften Meinungen befreit, die für die meisten jungen Leute seines Standes und Alters Grundsätze sind.

Diese Siege, die er sich nicht verhehlen konnte, zum Beispiel seine Liebe für den Soldatenstand, unabhängig von jedem Streben nach Rang und Beförderung, diese Siege, sage ich, hatten ihm großes Vertrauen in seine Charakterfestigkeit eingeflößt. »Aus Feigheit, nicht aus Mangel an Einsicht«, sagte er sich manchmal, »lesen wir nicht in unserm Herzen«, und dank diesem schönen Grundsatze verließ er sich etwas zuviel auf seinen Scharfblick. Wäre ihm durch ein Wort offenbar geworden, daß er eines Tages Liebe für Fräulein von Zohiloff fühlen würde, es hätte ihn veranlaßt, Paris sofort zu verlassen. Aber in seiner jetzigen Lage war er von diesem Gedanken weit entfernt. Er schätzte Armance hoch, ja über alles, sah sich von ihr verachtet und achtete sie just deswegen. War es nicht ganz natürlich, daß er ihre Achtung zurückgewinnen wollte? Darin lag kein verdächtiger Wunsch, dem jungen Mädchen zu gefallen. Und der Umstand, daß Octave den Feinden von Fräulein von Zohiloff gegenüber der erste war, der ihre Fehler zugab, trug dazu bei, auch nicht den leisesten Verdacht der Liebe aufkommen zu lassen. Aber der Zustand der Unruhe und der ewig enttäuschten Hoffnung, in dem ihn das Stillschweigen seiner Kusine hielt, ließ ihn nicht zu der Einsicht kommen, daß jeder ihrer Fehler, den man ihr in seiner Gegenwart vorwarf, in seiner Vorstellung mit irgendeinem großen Vorzug zusammenhing.

So griff man zum Beispiel eines Tages Armances Vorliebe für kurze Haare an, die in großen Locken um den Kopf herabfallen, wie man sie in Moskau trägt. »Fräulein von Zohiloff findet diese Tracht bequem«, sagte eine der guten Freundinnen der Marquise; »sie will auf ihre Toilette nicht zu viel Zeit verschwenden.« Mit boshafter Freude beobachtete Octave die Wirkung dieser Begründung auf die Damen der Gesellschaft. Sie ließen durchblicken, daß Armance recht daran täte, alles den Pflichten zu opfern, die die Ergebenheit für ihre Tante ihr auferlegte. Ihre Blicke schienen zu sagen, sie opfere alles ihren Pflichten als Gesellschafterin. Octave war viel zu stolz, um auf diese Unterstellung etwas zu erwidern. Während die Bosheit sich an ihr weidete, überließ er sich schweigend und mit Wonne einer leisen Regung leidenschaftlicher Bewunderung. Er fühlte mehr, als daß er es sich sagte: »Dies von allen andern angegriffene Mädchen ist hier dennoch das einzige, das meine Achtung verdient! Sie ist ebenso arm, wie die andern reich sind, und sie allein hätte ein Recht, sich den Wert des Geldes zu übertreiben. Trotzdem verachtet sie es, obwohl sie keine tausend Taler Rente hat. Und alle diese Frauen, die sämtlich im Wohlstand schwimmen, beten das Geld einzig und sklavisch an.«

 


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