Stendhal
Armance
Stendhal

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Zwölftes Kapitel

Estavas, linda Ignez, posta em socego
De teus annos colhendo doce fruto
Naquelle engano da alma ledo e cego
Que a fortuna, naô deixa durar muito.
        Os Lusiadas, canto III

 

»Aber, liebe Mama«, sagte Armance lange nachher, als beide wieder vernünftiger sprechen konnten, »Octave hat mir nie gesagt, daß er an mir hinge, wie das ein Mann seiner Frau doch wohl sagen muß.« – »Wenn ich nicht aufstehen müßte, um dich vor einen Spiegel zu führen«, entgegnete Frau von Malivert, »so zeigte ich dir deine glückstrahlenden Augen und bäte dich, mir zu wiederholen, daß du seines Herzens nicht sicher bist. Ich, die ich doch nur Octaves Mutter bin, ich bin sicher. Übrigens mache ich mir keine Illusionen über die Fehler, die mein Sohn haben mag, und vor Ablauf einer vollen Woche will ich deine Antwort nicht haben.«

Ich weiß nicht, war es das sarmatische Blut in ihren Adern oder ihr frühes Unglück, was Armance die Fähigkeit gab, in einem Augenblick alle Folgen zu übersehen, die eine plötzliche Veränderung des Lebens mit sich brachte. Und sie sah diese Folgen gleich deutlich, ob nun diese neue Lage der Dinge ihr eignes Schicksal oder das eines gleichgültigen Menschen entschied. Diese Charakterstärke oder Klugheit trug ihr gleichzeitig die täglichen Anvertrauungen und die Vorwürfe der Frau von Bonnivet ein. Die Marquise zog sie gern über ihre geheimsten Pläne zu Rate, und in andern Augenblicken sagte sie: »Solch ein Geist taugt nicht für ein junges Mädchen.«

Nach dem ersten Augenblick des Glücks und der tiefen Dankbarkeit dachte Armance, sie dürfe Frau von Malivert nichts von der falschen Anvertrauung sagen, die sie Octave bezüglich ihrer Heirat gemacht hatte. »Frau von Malivert«, dachte sie, »hat ihren Sohn nicht gefragt, oder er hat ihr das Hindernis verheimlicht, das ihrer Absicht entgegensteht.« Diese zweite Möglichkeit warf tiefe Schatten in Armances Seele.

Sie wollte durchaus glauben, daß Octave sie nicht liebte; dieser Gewißheit bedurfte sie täglich, um in ihren eignen Augen manche Zuvorkommenheiten zu rechtfertigen, die ihre zärtliche Freundschaft sich erlaubte. Und doch: dieser furchtbare Beweis von Octaves Gleichgültigkeit, der ihr plötzlich vor Augen trat, lastete mit Zentnerschwere auf ihrem Herzen und nahm ihr selbst die Kraft zu sprechen.

Wieviel Opfer hätte Armance nicht gebracht, um sich in diesem Augenblick ungestört ausweinen zu können! »Bemerkt meine Kusine eine Träne in meinen Augen«, sagte sie sich, »zu welcher entscheidenden Folgerung wird sie sich dann berechtigt glauben! Ja, wer weiß, ob sie in ihrem lebhaften Wunsche nach dieser Heirat ihrem Sohne meine Tränen nicht als Beweis dafür anführen wird, daß ich seine angebliche Zärtlichkeit erwidere?« Frau von Malivert war keineswegs erstaunt über die tiefe Versonnenheit, die Armance für den Rest dieses Tages zeigte.

Die Damen fuhren gemeinsam nach dem Hause Bonnivet zurück, und obwohl Armance ihren Vetter den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte, konnte sie selbst in seiner Gegenwart im Salon ihrer düsteren Schwermut nicht Herr werden. Sie gab ihm kaum eine Antwort; ihr fehlte die Kraft dazu. Ihre Zerstreutheit schien Octave zu augenscheinlich, ebenso ihre Gleichgültigkeit gegen ihn. Betrübt sagte er zu ihr: »Heute haben Sie keine Zeit für den Gedanken, daß ich Ihr Freund bin.« Statt jeder Antwort starrte Armance ihn an, und unbewußt nahmen ihre Augen jenen ernsten und tiefen Ausdruck an, der ihr so schöne Lehren von ihrer Tante eingetragen hatte.

Octaves Wort hatte ihr das Herz durchbohrt. Er wußte also nichts von dem Schritt seiner Mutter oder vielmehr, er nahm kein Interesse daran und wollte lediglich ihr Freund sein. Als die Gesellschaft aufgebrochen war und Armance Frau von Bonnivets Anvertrauungen über den Stand ihrer verschiedenen Pläne angehört hatte, war sie endlich allein in ihrem Stübchen. Dort fiel sie dem düstersten Schmerz anheim. Niemals hatte sie sich so unglücklich gefühlt, nie war ihr das Leben so zur Last gewesen. Mit welcher Bitterkeit warf sie sich jetzt die Hirngespinste vor, zu denen ihre Phantasie sich manchmal verstieg! In jenen glücklichen Augenblicken hatte sie sich zu sagen gewagt: »Wäre ich reich geboren und hätte Octave mich zur Lebensgefährtin wählen können – er hätte, soweit ich seinen Charakter kenne, bei mir mehr Glück gefunden als bei irgendeinem weiblichen Wesen.«

Jetzt mußte sie diese gefährlichen Annahmen teuer bezahlen. Ihr tiefer Schmerz ließ auch an den folgenden Tagen nicht nach; sie konnte sich keinen Augenblick ihren Träumen hingeben, ohne den größten Ekel an allem zu verspüren, und zu ihrem Unglück empfand sie ihren Zustand deutlich. Die äußeren Hindernisse einer Heirat, in die sie unter allen Voraussetzungen eingewilligt hätte, schienen sich zu ebnen; nur Octaves Herz gehörte ihr nicht.

Nachdem Frau von Malivert ihres Sohnes Neigung für Armance hatte aufkeimen sehen, beunruhigte sie sein steter Verkehr mit der glänzenden Gräfin d'Aumale. Aber es hatte ihr genügt, beide zusammen zu sehen, um zu erraten, daß dies Verhältnis eine Verpflichtung war, die ihr Sohn sich in seiner Seltsamkeit auferlegt hatte. Frau von Malivert wußte sehr wohl, daß er ihr die Wahrheit sagen würde, wenn sie ihn danach fragte, aber sie hatte sorgfältig alle Fragen, selbst andeutungsweise, vermieden. So weit, meinte sie, gingen ihre Rechte nicht. Mit Rücksicht auf das, was sie der Würde ihres Geschlechts zu schulden glaubte, hatte sie mit Armance über diese Heirat sprechen wollen, bevor sie sich ihrem Sohne eröffnete, dessen Neigung ja sicher war.

Nachdem sie Fräulein von Zohiloff ihren Plan mitgeteilt hatte, richtete sie es so ein, daß sie stundenlang im Salon der Frau von Bonnivet weilte. Sie glaubte zu bemerken, daß etwas Seltsames zwischen Armance und ihrem Sohne vorging. Armance war anscheinend sehr unglücklich. »Wäre es möglich«, fragte Frau von Malivert sich, »daß Octave, der sie anbetet und sie immerfort sieht, ihr nie von seiner Liebe gesprochen hat?«

Der Tag, an dem Fräulein von Zohiloff ihre Antwort geben sollte, war gekommen. Am frühen Vormittag schickte ihr Frau von Malivert ihren Wagen und ein Briefchen mit der Bitte, eine Stunde bei ihr zu verbringen. Armance erschien mit einer Miene wie nach einer langen Krankheit; sie hätte nicht die Kraft gehabt, zu Fuße zu kommen. Sobald sie mit Frau von Malivert allein war, sagte sie zu ihr mit größter Sanftheit, aber im Grunde mit jener Entschlossenheit, die die Verzweiflung eingibt: »Mein Vetter ist ein eigenartiger Charakter. Sein Glück und vielleicht auch das meine«, setzte sie errötend hinzu, »erfordert, daß Sie, teuerste Mama, mit ihm nie von dem Plane reden, den Ihre große Vorliebe für mich Ihnen eingegeben hat.«

Frau von Malivert tat, als gewährte sie diese Bitte nur mit großem Widerstreben. »Ich kann eher sterben, als ich denke«, sagte sie zu Armance, »und dann erhält mein Sohn nicht die einzige Frau auf der Welt, die seine unglückliche Anlage mildern kann. Ich bin sicher, daß die Geldfrage für dich das Entscheidende ist«, sagte sie nachher. »Octave, der dir immerfort Anvertrauungen zu machen hat, war nicht so dumm, daß er es dir nicht gestanden hat, was für mich feststeht, daß er dich mit der ganzen Leidenschaft liebt, deren er fähig ist, und das will viel sagen, mein Kind. Wenn seine Erregungszustände, die täglich seltner werden, auch Anlaß zu manchen Einwendungen gegen den Gatten geben, den ich dir biete, so hast du doch die holde Gewißheit, geliebt zu werden, wie heutzutage wenige Frauen geliebt werden. In den stürmischen Zeiten, die da kommen können, ist die Charakterstärke eines Mannes eine große Gewähr für das Glück seiner Familie. Wie du ja weißt, liebe Armance, sind äußere Hindernisse, die Durchschnittsmenschen zu Falle bringen, für Octave nicht vorhanden. Herrscht Friede in seiner Seele, so kann die ganze Welt sich gegen ihn zusammentun und ihn doch keine Viertelstunde betrüben. Nun aber bin ich sicher, daß sein Seelenfriede von deiner Einwilligung abhängt. Ermiß es selbst aus dem Eifer, womit ich dich darum bitte: von dir hängt das Glück meines Sohnes ab. Seit vier Jahren denke ich Tag und Nacht nur daran, es sicherzustellen, und ich konnte doch kein Mittel finden. Schließlich faßte er Liebe zu dir. Ich selbst werde das Opfer deines übertriebenen Zartgefühls sein. Du willst dich nicht dem Tadel aussetzen, einen Mann zu heiraten, der viel reicher ist als du, und ich werde mit der größten Sorge um Octaves Zukunft sterben, ohne meinen Sohn mit der Frau vereint zu sehen, die ich in meinem Leben am höchsten schätzte.«

Diese Versicherungen von Octaves Liebe zerrissen Armance das Herz. Frau von Malivert hörte aus den Antworten ihrer jungen Verwandten Gereiztheit und verletzten Stolz heraus. Abends bei Frau von Bonnivet beobachtete sie, daß die Gegenwart ihres Sohnes Fräulein von Zohiloff nicht von jener unglücklichen Stimmung befreite, die aus der Furcht entsteht, gegen den Geliebten nicht stolz genug gewesen zu sein und so vielleicht seine Achtung verloren zu haben. »Darf ein armes Mädchen ohne Eltern sich derart vergessen?« fragte sich Armance.

Selbst Frau von Malivert war höchst beunruhigt. Nach vielen schlaflosen Nächten gelangte sie schließlich zu dem sonderbaren Gedanken, der aber bei der Seltsamkeit des Charakters ihres Sohnes wahrscheinlich war, daß er tatsächlich, wie Armance gesagt hatte, ihr nie von seiner Liebe gesprochen hatte.

»Ist's möglich«, dachte Frau von Malivert, »daß Octave dermaßen schüchtern ist? Er liebt seine Kusine; sie ist das einzige Wesen auf Erden, das ihn von den Schwermutsanfällen heilen könnte, die mich um ihn zittern lassen!«

Nach reiflicher Überlegung faßte sie ihren Entschluß. Eines Tages sagte sie in ziemlich gleichgültigem Tone zu Armance: »Ich weiß nicht, was du meinem Sohn angetan hast, um ihn zu entmutigen. Aber wenn er mir gesteht, daß er die tiefste Zuneigung, die größte Hochachtung für dich hegt und daß deine Hand ihm der höchste Besitz dünkte, setzt er hinzu, du setztest seinen liebsten Wünschen ein unbezwingliches Hindernis entgegen, und sicherlich wollte er deinen Besitz nicht dem Umstand verdanken, daß wir dir ihm zuliebe stark zusetzten.«

 


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