Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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VI. Nach Rosenort.

In diese wunderlichen Spielereien war er so vertieft gewesen, dass er auf gar nichts weiter geachtet hatte, und so erschrak er fast, als er schon ganz in der Nähe an dem sonst so einsamen Strande eine weibliche Gestalt bemerkte, welche, von einem breiten Strohhut beschattet, in der brennenden Sonne ebenmässig dahinschritt. In demselben Augenblicke aber schlug ihm auch mächtig das Herz, weil er sofort die schöne Wandererin erkannte. Als sie ganz nahe herangekommen war, ohne ihn bemerkt zu haben, trat er aus seiner Steinlaube hervor und redete sie an. Sie hatte den Weg am Strande gewählt, wie sie sagte, weil sie dort mehr Kühlung zu finden hoffte als in dem schwülen Walde; allein dies war fehlgeschlagen, und nun war sie heiss und ermüdet von dem Wege im Sande und in der glühenden Sonne. Wedeking bot ihr seinen schattigen Sitz an, und als er dann auf einem anderen Steine vor ihr in der Sonne seinen Platz genommen hatte, unterhielten sie sich von allerlei Dingen, von Petershagen, von ihrer Mutter und Schwester, von dem kleinen Garten dort, in welchem so schöne Rosen blühten, von dem Fliegenschnäpper, welcher in dem grössten Rosenbäumchen sein Nest hatte und gar nicht scheu war, sondern mit: blanken braunen Augen jedermann furchtlos anschaute, wenn er auf seinen Eiern sass, und wie es dem alten Haushund Nero ging, welcher nun schon fünfzehn Jahre alt war und einen beständigen Husten hatte, gegen welchen er Malzbonbons einnahm, die ihm sehr wohl schmeckten, aber nichts halfen, und wie die rothbunte Kuh sich gefreut hätte, als sie ihr Haustöchterchen wiedersah, und das Lied von der goldenen Zeit, das habe die Pastorstochter einmal mitgebracht von einer Reise, und von der habe es die Pastorsköchin abgehört, und nun könnten sie es alle im Dorf, die überhaupt sängen.

An seine Frage hatte sie doch noch gedacht und sich um eine Antwort bemüht; das freute den jungen Mann so, dass er es nicht sagen konnte. Als nach einer kleinen Weile dieser Gesprächsstoff erschöpft und er im Besitze aller Neuigkeiten von Petershagen war, entstand eine kleine Stille, während das Mädchen nachdenklich auf den fernen Horizont und Wedeking auf die schwärmenden Schwalbenschatten auf dem besonnten Sande schaute. Aber mit einemmal liess dieser blendende Schimmer nach und alle Schatten waren hinweggelöscht, indes zugleich durch das eintönige Rauschen der See ein fernes grollendes Murmeln hörbar ward. Wedeking sah sich hastig um und bemerkte nun eine blauschwarze Wolkenwand im Westen halb über der See und halb über dem Lande, deren weissliche Ränder bereits die Sonne erreicht und verdeckt hatten. Nun war Eile geboten, denn überraschte sie hier ein anhaltender Gewittersturm, so konnte ihnen, da das Vorland an manchen Stellen so überaus schmal, ja kaum vorhanden war, durch die anstürmenden Wogen der Weg vollkommen abgeschnitten werden. Nach kurzer Ueberlegung erschien es Wedeking richtiger, anstatt den nächsten Weg nach Hause über Rosenort einzuschlagen, wieder zurück nach der Bolderaa zu eilen, denn dort befand sich eine sogenannte Heringshütte, welche Schutz vor dem Unwetter zu gewähren vermochte. Auch war dieser Weg bedeutend kürzer, um aus diesem Gefängnis zwischen der steilen Uferwand und der tückischen und unberechenbaren See zu entfliehen. Sie machten sich eilig auf; allein der Sturm war schneller als sie. In der aufrückenden Wand zuckten die Blitze, der Donner rollte mächtiger, dann kam ein breiter weisser Schaumstreifen über die schwärzliche See gejagt, und plötzlich stürzte sich der mit zerstäubtem Wasser gefüllte Sturmwind an die steile Uferwand und darüber in die aufbrausenden Kronen der mächtigen Buchen. Die anfangs kochende und krause See war bald mit stetig anschwellenden Wogen erfüllt, welche sich überschlagend immer höher und gieriger am Ufer emporleckten und flockigen Schaum weit von sich sprühten. Nun war es schon zu spät, denn dort, an der Stelle, die beide zuvor noch bei einer zurückfliessenden Welle laufend passiert hatten, war weithin nichts als ein wogendes Schäumen von Gewässern, die sich überschlugen und hoch an der Uferwand emporspritzten, während der Streif, wo sie standen und eine Weile auf dieses Schauspiel hinstarrten, ebenfalls immer schmaler wurde. Nun mussten sie wieder zurück und eilten, so schnell sie konnten, bei dem furchtbaren Knattern und Rollen des Donners und dem unsäglichen Rauschen und Brausen ringsumher. Als sie bei der Steinlaube wieder angelangt waren, fielen die ersten schweren Regentropfen, und nun blieb nichts anderes übrig, als Schutz zu suchen, so gut es ging, zumal höchst wahrscheinlich weiterhin, wo das Ufer wieder sehr schmal wurde, ebenfalls schon eine Ueberfluthung eingetreten war. Hier war der Strand am breitesten, die vielen grossen Steinblöcke gewährten als Wellenbrecher einigen Schutz, und es war nicht wahrscheinlich, dass während der kurzen Dauer eines Gewittersturmes die See auch hier bis an die steile Uferwand vordringen würde. Das träumerische Wesen Wedekings hatte sich plötzlich verloren, nun war er wieder ganz der Mann, als welcher er in seinem Berufe bekannt war. Schleunigst öffnete er das Bündel, welches sein Plaid und den Regenmantel umschloss, und ehe das Mädchen es sich recht versah, war es mit dem letzteren bekleidet. Dann musste sie sich in die Höhlung zwischen den Steinen setzen, deren vordere Oeffnung Wedeking durch das Plaid wie mit einer Zeltwand schloss, indem er es oben auf den Felsblöcken und am Boden durch daraufgelegte Steine befestigte. Als er dann seitlich den Kopf hineinsteckte und nun seinen Schützling dort in behaglicher Sicherheit sah, während draussen die Tropfen sich mehrten und die schäumende See schon in dichtem Regenschauer lag, da beschwor ihn das Mädchen hineinzukommen. Sie wolle sich ganz schmal machen, dann sei neben ihr noch gerade genug Platz, und als der junge Mann sich beharrlich weigerte, drohte sie ebenfalls herauszukommen. Nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, und bald sassen die beiden jungen Menschenkinder dicht aneinander gedrängt in dem dämmerigen Raume wie in einem Vogelnest, während draussen Himmel und See ineinander tobten und der Regen stromweise herniederrauschte. Der Wind blähte den wollenen Stoff wie ein Segel nach innen und sendete sprühenden Wasserstaub durch sein Gewebe. Wedeking spannte den Schirm auf und drängte damit das Plaid nach aussen, und so war es ganz behaglich in dem engen Raume, wenn auch an einigen Stellen das durch die Fugen eindringende Wasser an den Felsblöcken niederrieselte. Allmählig ward das Getöse des Donners gelinder und seltener und der Wind sanfter, nur das Rauschen der aufgeregten See blieb sich gleich. Die Dämmerung in dem eingeschlossenen Raume erhellte sich mehr und mehr, und nun ward Wedeking wieder erinnert, dass ihm das dritte Orakel noch fehle. Wenn während der nächsten zehn Wellenschläge die Sonne durch die Wolken brechen würde, das sollte das letzte Zeichen sein.

O du sonderbarer Ingenieur, der du alle Tage mit unwandelbaren Naturgesetzen und erbarmungslosen mathematischen Formeln zu thun hast, welch ein wunderlicher Geist ist in dich gefahren! Du, der in seinem Kopfe Maschinen ersinnt, welche auf einen Fingerdruck hin Tausende von Centnern spielend bewegen, der du schwindelnde Abgründe kaltblütig überspinnst mit eisernen Geweben, was bist du für ein zaghafter Träumer und Hasenfuss und hast nicht den Muth, ein schönes Mädchen, das eng an dich geschmiegt an deiner Seite sitzt, auf den Mund zu küssen und zu sagen: »Ich liebe dich!«

Aber die Sonne meinte es gut, schon nach dem siebenten Wellenschlage war rings alles von hellem Glänze erfüllt, von welchem die letzten schimmernden Regentropfen gleichsam aufgesogen wurden. Das Schicksal hatte dreimal ja gesagt, nun war es wahrlich an der Zeit. In diesem Augenblicke erhob sich das Mädchen rasch, schob das Plaid beiseite, sprach: »Der Regen hat aufgehört,« und trat dann hinaus. Das Gewitter war abgezogen und stand mit grauem Gewölk und niederhängenden Regenschleiern in der Ferne; doch hier unter der lachenden Sonne war es, als sei gar nichts geschehen.

Als die beiden am Strande in der Richtung nach Rosenort weiter gingen, bemerkten sie ein sonderbares Ding in der Ferne. Der Sturm hatte eine Buche am obersten Rande des steilen Ufers, deren Fuss schon zum Theil durch den Anprall früherer Sturmwogen freigestellt war, umgerissen, und während sie noch oben mit einigen Wurzelarmen sich festhielt, war die stattliche Krone kopfüber auf den schmalen Strand gestürzt, so dass die ans Ufer prallenden Wogen in die grünen Aeste hineinschlugen und sie mit Schaum bewarfen. Obwohl an einigen Stellen der gangbare Streifen durch das Anwachsen der Wellen sehr geschmälert war, so konnten sie doch überall vorwärts kommen und gelangten bald zu jenem Orte hin, wo sie sahen, dass hier durch das Gewirr halb zersplitterter Aeste der Weg vollständig versperrt war und dass sie richtig in einer Mausefalle sassen, denn an dem steilen Ufer hinauf gab es nirgends einen gangbaren Weg. Jedoch so schlimm, als sie anfangs aussah, war die Sache doch nicht, und als Wedeking den Berg grünen Gezweiges, welcher vor ihm lag, prüfend musterte, merkte er, dass man mit einiger Gewandtheit wohl auf seinen Gipfel gelangen konnte. Nachdem er sich hinaufgeschwungen, fand er, dass auf der anderen Seite auch der Abstieg nicht mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft war. Er warf die Sachen, welche er trug, hinüber auf den Sand, stieg wieder zurück und sagte: »Nun müssen wir klettern, da giebt's nichts anderes.«

Als er nun dem jungen Mädchen behilflich war, sie zu sich hinaufzog, sie leitete und stützte, begann er diesen gestürzten Baum für eine äusserst segensreiche Einrichtung zu halten, da er ihm zu so einer lieblichen Arbeit verhalf, und war es nun eine zu grosse Aengstlichkeit des Mädchens oder eine zu übertriebene Vorsicht des jungen Mannes, kurz diese Uebersteigung wurde durchaus nicht überhastet, sondern mit einer merkwürdigen Gründlichkeit ausgeführt. Endlich waren sie oben und mussten nun doch ein wenig rasten, den Aufstieg überschauend und den Abstieg prüfend, und bei dieser gefährlichen Lage auf der Höhe war es ganz unumgänglich nothwendig, dass er das Mädchen stützte, indem er den Arm um sie schlang und sie ein wenig an sich zog; wie leicht hätte sie doch sonst fallen können. Beide bemühten sich aber, dazu möglichst gleichgültige Gesichter zu machen und zu thun, als ob sie von alledem gar nichts bemerkten. Das Hinabsteigen schien noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten und ging noch langsamer; aber es half alles nicht, ein Ende nahm es doch zuletzt. Der letzte Ast war ziemlich hoch über der Erde, und als Wedeking nun beide Hände emporstreckte, um ihr behilflich zu sein, da waren beide recht ungeschickt, denn sie glitt plötzlich aus und ihm in die Arme, langsam an ihm niedersinkend. Als er sie nun so umschlossen hielt und sich zu ihrem Köpfchen niederbeugte, wahrscheinlich um zu sehen, ob sie auch gar zu sehr erschrocken sei, fand er dort einen rosenschönen Mund, den er in einem Anfall von Begriffsverwirrung einigemal küsste, wozu das Mädchen sänftlich stille hielt, als ob es so sein müsse.

Dann aber drängte sie mit einer Hand ihn ein wenig zurück und schaute mit dem in zarte Gluth getauchten Antlitz seitwärts über die schäumende See hinaus. Er aber sagte, ganz leise: »Ich bin Ihnen sehr gut, was sagen Sie dazu?«

Sie sagte gar nichts dazu, aber sie nickte, ohne sich zu wenden, mehrmals eindringlich mit dem schönen Köpfchen. Dann, als sie fühlte, dass seine Blicke fortwährend auf ihr ruhten, wandte sie langsam das Haupt und liess ihn die Antwort in ihren Augen lesen. Und als er gesehen, was dort geschrieben stand, schloss sie diese wie überwältigt und bot ihm freiwillig den schönen Mund dar.

O Gott, wie war das alles leicht gegangen und wie wunderschön war die Welt! Ja, noch war die goldene Zeit und er hatte sie nicht versäumt, und das Glück hielt er in den Armen. Sie wanderten nun einträchtig weiter, bis sie nach Rosenort kamen. Die Sonne und der Wind hatten die Oberfläche des weissen Dünensandes schon wieder getrocknet, und dort sassen sie nun auf dem reinlichen Hügel unter den verkrüppelten alten Eichen, sich erzählend, wie alles so gekommen war, und für kurze Zeit führte dieser Ort seinen Namen wieder einmal mit vollem Recht, denn eine schönere Rose hatte dort niemals geblüht. Und ringsum die See und die rauschenden Wipfel des Waldes und die flüsternden Halme des Strandhafers und die Vögel im Buschwerk, alles in der Runde sang das Lied von der goldenen Zeit, aber es klang nicht mehr wehmüthig, sondern wie Jauchzen der Wonne.


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