Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eva

I. Wenn die Linden blühn.

Es war ein schöner stiller Abend am Ende des Juni. In den zahlreichen Fabriken, welche vor dem Thore lagen, wurden die Feuer der Dampfkessel gelöscht, und hier und da stieg aus den thurmhohen Schornsteinen eine schmale schwarze Rauchsäule in den reinen Himmel. Allmählich legte sich das unablässige Tagesgeräusch dieser Gegend, das helle schmetternde Tönen der mit dem Meissel bearbeiteten Schienen und Träger, das Gewehrsalven ähnliche Knattern der Nietkolonnen und das taktmässige dumpfe Schüttern der Dampfhämmer. Dann schlug eine grelltönende Uhr irgendwo sieben und bald darauf kam von allen Seiten, aus Nähe und Ferne das Bimmeln von Glocken, welche die Feierabendstunde kündeten. Das Brummen der Ventilatoren, welches den Grundton aller Geräusche dieser lärmreichen Gegend bildete, stieg in die Tiefe und verlosch, während auf allen Dächern nach und nach die weissen stossenden Wolken versanken, welche den Standort der Dampfmaschinen bezeichnen, und zugleich Strassen und Wege sich mit Strömen schwärzlicher Arbeiter erfüllten, die sich allmählich in fernen Gassen und Gässchen verloren.

Auch die auf dem höchsten Punkte der Gegend gelegene chemische Fabrik der Gebrüder Scherenberg lag bereits still und verlassen da in einem Dunstkreis seltsamer Gerüche, als der technische Leiter derselben, Herr Doctor Bernhard Brunow, vor das Thor trat und von seinem erhöhten Standpunkte aus einen prüfenden Blick über die Gegend gleiten liess. Seine einsame Junggesellenwohnung am Lindenplatz hatte heute wenig Verlockendes für ihn, denn es war ein heisser Tag gewesen und die Stadt lag in einem grau-blauen Dunst von Fabrikrauch und Strassenstaub. Auch war jetzt die Zeit, da am Lindenplatz sämmtliche Klaviere bei geöffneten Fenstern losgelassen wurden und die Qualen ihres verstimmten Innern in die Welt hinauswinselten. Der Abend war so schön und still, er wollte ihn im Freien, in reiner Luft und fern von dem Gedudel zur Musik abgerichteter Haustöchter verbringen; und da er für diesen Zweck einen guten Ort wusste, so kehrte er alsbald der Stadt den Rücken, schritt eine Weile auf der von Kohlenstaub schwarz gefärbten Chaussee fort und bog sodann in einen von Gärten und grünen Hecken begrenzten Feldweg ein. Als er dort dem Bereich der Kohlen- und Oelgerüche und der chemischen Dünste glücklich entronnen war, der Duft des Grünen und der wilden Heckenrosen und der süsse Hauch des frischgemähten Heues aus einem Wiesengrunde ihn lieblich umspielte, mässigte er seine Schritte und schlenderte langsam weiter, zuweilen wohlgefällig nach einem Vogel spähend, der in den Zweigen sang und eine anmuthige treffliche Musik vollführte, die jeglichem gefiel und niemandem zur Last war. Bald sah der behagliche Spaziergänger hohe Baumwipfel vor sich ragen, welche das Ziel seiner Wanderung bezeichneten. Unter den schattigen Ulmen und Platanen sassen einige wenige Gäste, als Brunow in den Garten eintrat. Er schritt grüssend vorüber, nachdem er zuvor ein wenig zu essen, einige gezuckerte Erdbeeren und eine Flasche Rheinwein bestellt hatte. Der Garten senkte sich allmählich in Terrassen zu einem breiten Wiesenthal hinab, durch welches in sanften Bögen der Fluss dahinging. Eine Fliederlaube, die gerade auf diese Aussicht sich öffnete, fand der Doctor zu seiner Freude unbesetzt, mit Behagen streckte er sich auf die Holzbank und liess seine Blicke in der Ferne weiden. Hier war er aus der Welt und doch mitten in ihr. Auf dem Flusse zogen hier und da mit schimmernden Segeln schwere Lastkähne langsam einher, hinten auf den Wiesen waren die Leute mit dem Heuen beschäftigt, sie nahmen sich von hier wie winzige Püppchen aus, die mit Maulwurfshaufen zu thun hatten, und zuweilen hörte man von dort in der Abendstille ein Jauchzen oder ein fröhliches Gelächter. Jenseits des Thales stiegen wieder Hügel auf, aus deren dunklen Kieferbeständen helle sandige Flächen hervorleuchteten, während dahinter, in immer matteres Blau getaucht, noch andere Höhenzüge sich in die Ferne verloren. Auch die Stadt zeigte sich von diesem Orte aus im besten Lichte, denn zur Seite streckten sich ein Stück der alten Mauer, ein runder Ziegelthurm, mit Epheu bewachsen, und einige spitzige Giebel hervor, über welche ein friedlicher Dämmer der Vergangenheit gebreitet lag.

Herr Doctor Bernhard Brunow verzehrte in Ruhe sein Abendbrot, füllte zum zweitenmale sein Glas mit dem guten Rheinwein, hielt es gegen das Licht und trank, nachdem er sich eine Weile an dem goldklaren Schimmer erfreut hatte. Sodann lehnte er sich in seine Bank zurück, legte den rechten Fuss auf das linke Knie und genoss in aller Stille den schönen Sommerabend. Die Gedanken spielten in seinem Kopfe wie Mücken in der klaren Abendluft oder wie die Blätter eines Baumes, die ein leises Aufsteigen der Luft bewegt; er dachte an allerlei und gar nichts. Nachdem er eine Weile so gesessen hatte und mit den Augen bald dem Fluge eines Vogels, bald dem Flattern eines Schmetterlings oder dem langsamen Dahingleiten der weissen Segel durch die grüne Wiese gefolgt war, kam allmählich ein stärkerer Wind auf, der das Wasser des trägen Flusses kräuselte und den Geruch des Wiesenheues und eine süsse Wolke von Lindenblüthenduft zu ihm herübertrug. Nun erst ward er des unsäglichen Bienengesummes inne, das ihm bisher fast als ein Theil der friedlichen Stille erschienen war. Es kam her von einigen Lindenbäumen, welche am Rande des Gartens ihre mächtigen Kuppeln ganz in den weisslich-gelben Schimmer unendlicher Blüthen gehüllt hatten. Und aus diesem Summen und mit diesem Dufte kam die Erinnerung, ein wehmüthiger Ernst breitete sich über die Züge des Mannes und seine Augen starrten sinnend in die Ferne. Eine neue Wolke von Lindenblüthenduft nahm seine Gedanken auf und trug sie mit sanftem Flügel über Berge, Wälder und Wiesen in das Land seiner Jugend, in eine andere Zeit, da auch die Linden blühten.


 << zurück weiter >>