Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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V. Die Dritte.

Der nächste Tag war ein Sonntag; es hatte sich abgeregnet, und der morgendliche Nebel war von dem klarsten Herbstsonnenschein zerstreut worden, sodass bei stiller Luft und blauem Himmel draussen einer jener milden Octobertage glänzte, die das Herz berühren, als sei die Welt in träumerische Erinnerung verloren an die erste junge Frühlingszeit. Der Gutsbesitzer war in der Nacht von seiner Ausfahrt zurückgekehrt und stattete beim Frühstück sehr aufgeräumt Bericht ab über seine Erlebnisse in der Stadt und über die Erledigung mannigfacher Aufträge, welche seine Töchter dem Kutscher und ihm ertheilt hatten.

»Euch, Dirns,« sagte er, »habe ich auch das Gewünschte mitgebracht; für Martha die neuen Butterformen und den Stoff zu Küchenschürzen, für Mike die Bücher aus der Leihbibliothek, – hör' mal, Frauenzimmer, es ist wieder ein ganzer Packen; Du liest mir zu viel solches Zeug, – und für mein Lening was zum Naschen, Magen-Morsellen aus der Apotheke, – ich weiss, die mag der Süssschnabel. Und dann hab' ich noch was mitgebracht, nämlich dem Pastor seinen Candidaten, der nun ja in Rostock vor dem Examen liegt und sich mal wieder des Sonntags bei Mutter verpusten will.«

Hier bückte sich Lene, denn ihre Serviette war hingefallen; und als sie sich wieder erhob, war sie von der Anstrengung ganz roth im Gesicht, – oder kam es davon, dass der Vater sie vor dem fremden Gaste einen Süssschnabel genannt hatte?

Nach dem Frühstück begab sich Dannenberg in das kleine grüne Zimmer; und obwohl er es sich nicht recht gestehen wollte, hatte er doch die stille Hoffnung, dort wieder mit Marie zusammenzutreffen. Er fand auf dem Tische den stattlichen Haufen Bücher aus der Leihbibliothek, welche Brüning mitgebracht hatte, und nun plagte ihn die Neugier, zu sehen, welche Lectüre das junge Mädchen bevorzugte. Das Aussehen dieser Schmöker, welche er zunächst prüfte, gefiel ihm allerdings wenig. Sie waren alle etwas fettig und klebrig und trugen auf dem Rücken einen schmutzigen, gelben Zettel, der eine mit Tinte geschmierte Zahl zeigte. Auch im Innern sahen sie nichts weniger als appetitlich aus; die Blatt-Ecke unten rechts hatte bei allen Büchern durch das viele Umblättern von unzähligen, nicht immer sauberen Fingern eine schmutzig gelbe Färbung angenommen, und bei näherer Durchsicht gewährten allerlei Flecke von Kaffee, Oel, Tinte, Bratensauce und anderen nicht mehr festzustellenden Flüssigkeiten dem Auge eine reiche Abwechselung. Auch strömten alle diese Bände jenen muffigen, undefinirbaren Duft aus, welcher allen Leihbibliotheken gemeinsam ist, gleichwie auch alle Apotheken in der ganzen Welt denselben Geruch von sich geben. Die Nase des Bibliothekars krauste sich ein wenig, als er diese Wahrnehmungen machte; doch noch ganz anders wurde ihm zu Muth, als er die Titel betrachtete und dadurch bei seiner grossen Literatur-Kenntniss einen Begriff von dem Inhalte dieser Bücher erhielt. Das waren also die Geisteswerke, welchen Fräulein Marie Brüning ihre Theilnahme zuwendete! Es waren lauter Hervorbringungen jener fleissigen Handarbeiter männlichen oder weiblichen Geschlechtes, welche Tag für Tag am Webstuhle der Literatur sitzen und Romane von bestellter Länge »auf Stück« arbeiten, in solcher Weise, wie es gerade die Tagesmode verlangt. Ein elendes Geschlecht hungeriger Pfuscher, – man könnte es fast bemitleiden, wenn sein Thun nicht so widerwärtig wäre. Wie abgestumpft musste der Geschmack Derjenigen sein, die an solchen Bettelsuppen Gefallen fand! Ein abgegriffener Katalog der Leihbibliothek lag bei den Büchern, und in diesem waren alle Werke bezeichnet, welche bereits gelesen waren oder zu lesen gewünscht wurden. Es war immer dieselbe Gattung, und nur höchst selten lief ein Buch von besserer Art mit unter. Dannenberg huddelte sich ein wenig, als er sich von diesen Thatsachen hinreichend überzeugt hatte, und begab sich still hinweg in den herbstlichen Garten, alle schönen Träume, welche ihn am Abend vorher so schmeichlerisch umsponnen hatten, hinter sich lassend. Merkwürdig, die Beschäftigung mit Büchern war sein Beruf, und mit Büchern hatte er hier nun schon zum zweiten Male Unglück gehabt.

Nach dem Mittagessen sagte Brüning zu Dannenberg: »Lieber Freund, ich kenne nun schon Deine wunderliche Passion, nach Tische, wo jeder verständige Mensch, also auch ich, ein Schläfchen macht, spazieren zu gehen. Heute könntest Du mir einmal einen Gefallen thun und das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Mein Jäger hat heute Urlaub, und infolge dessen ist der Dohnensteig noch nicht begangen. Wie wäre es nun, wenn Du ihn Dir jetzt einmal ansähest, die gefangenen Vögel auslöstest und die Dohnen wieder in Ordnung brächtest? Ich weiss, früher machte Dir das Vergnügen; das ist nun allerdings schon über zwanzig Jahre her. Ich geb' Dir Lene mit; die Dirn weiss Bescheid und kann die Quitschbeeren tragen. Du nimmst meine grosse Jagdtasche, und ich denke, Du wirst Dich an dem, was sich seit gestern gefangen hat, nicht gerade todt schleppen.«

Dieser Vorschlag sagte Dannenberg zu; Lene ward gerufen, zog zwar ein wenig mit den Schultern, als ob sie keine rechte Lust hätte zu dem Geschäfte, nahm aber doch das Körbchen mit Ebereschenbeeren über den Arm und fügte sich in ihr Schicksal.

Der Herbsttag draussen war so träumerisch still, sonnig und warm, wie ihn der October nur bietet, wenn er in der besten Laune ist. Sie gingen durch den Garten, wo Sonnenblumen und Astern blühten und ein herbstlicher Duft von welkem Laub und Reseda wehte. Farbige Herbstschmetterlinge gaukelten über die Beete, setzten sich an die dunklen Stämme, ihre schimmernden Flügel zu glätten, und Alles rings, Alles, was noch blühte oder Blätter hatte, schien einzig darin versunken, so viel von dem milden Sonnenschein zu trinken, als nur möglich war. Sie gingen durch das Pförtchen hinaus, den Fusssteig entlang, der durch die Felder führt, und als sie auf die Höhe kamen, sahen sie rings die Waldungen und Gehölze liegen, theils in der finsteren Tracht der Nadelhölzer, theils in dem farbigen Glänze des Herbstes vom dunklen Purpurbraun bis zum hellsten Gelb, während dazwischen das freudige Grün der jungen Saaten als eine Verheissung fröhlicher Zukunft leuchtete.

Der Fussweg war schmal, sodass nicht zwei Personen neben einander gehen konnten; und als nun Lene schlank und ebenmässig vor ihm herschritt, betrachtete Dannenberg mit Wohlgefallen ihre feine und doch kräftige Gestalt und sah mit Vergnügen, wie zierlich und schön sie auf den Füssen ging. Wenn sie bei dem spärlich fliessenden Gespräch den Kopf ein wenig wendete, um ihm zu antworten, so erfreute er sich an den schönen Linien ihres Profils, an der reinen Stirn, dem feinen Näschen, den zart schwellenden Lippen und dem rundlichen Kinn. Sie trug das Haar, wie er es gern hatte: einfach zurückgenommen und hinten in einen Knoten gewunden, wie man es an griechischen Bildwerken sieht. Wo hatte er eigentlich bis dahin seine Augen gehabt, dass er diese unvergleichliche kleine Schönheit gar nicht beachtet hatte? Freilich, sie war etwas still und einsilbig; doch das war auf ihre Jugend zu schieben und am Ende, zehnmal besser, als wenn sie albernes Zeug geschwatzt hätte.

Bald war ein dichter Bestand von jungen Fichten erreicht und hier nahm der Dohnensteig seinen Anfang. Ein grünes, dämmeriges Licht herrschte in dem schnurgeraden, langen Gange, der sich nun vor den Beiden aufthat, und eine feierliche Stille, die nur zuweilen durch das feine Zwitschern streichender Meisen und Baumläufer oder das warnende Schnicken eines Rothkehlchens unterbrochen wurde. Drosseln schienen nicht in der Gegend zu sein, sonst hätte man wohl ihre Lockstimmen gehört. Aber dagewesen waren sie, denn plötzlich lief Lene schnell voraus und stand bei einer Dohne, darin sich einer der geschätzten Vögel gefangen hatte und wie ein armer kleiner Sünder am Galgen hing. Das Mädchen löste ihn mit den zierlichen Fingern geschickt aus und stellte dann die Pferdehaarschlingen wieder sachgemäss ein, sodass sie sich ein wenig überschnitten. Dann hob sie dem Vogel einen Flügel empor, zeigte auf das Roth an der Unterseite und sagte: »Das ist eine Weindrossel; die sind zwar nur klein, aber die besten, wie Papa sagt.« Es musste wohl am Vormittage ein grosser Zug dieser Vögel durchgewandert sein, denn sie fanden ausschliesslich solche, die sich in ziemlicher Menge gefunden hatten, ja einmal kam sogar der seltene Fall vor, dass in einer Dohne zwei Vögel hingen, in jeder Schlinge einer. Als die beiden Leute nun sich gegenüber standen und jeder eines der Thierchen auslöste, wobei sich ihre Hände mehrfach berührten, sah Dannenberg wieder auf das liebliche Gesicht vor ihm, das von einer rosigen Farbe der Gesundheit blühend durchleuchtet und so rein und frisch war, wie eine unberührte Frucht; nur über den schmalen Nasenrücken ging, kaum sichtbar, ein kleiner Sattel von blassen Sommersprossen hin. Er fand auch dies entzückend. Die Züge dieses anmuthigen Gesichtes waren noch kindlich zu nennen; nur in den Augen lag ein träumerischer Glanz, als wüssten sie schon von süssen Dingen.

Der Dohnensteig zog sich nun aus den Fichten heraus in einen gemischten Bestand, der in der vollen Pracht des Herbstes schimmerte. Dort standen Birken in blassem Golde und junge Buchen in allen Tönen leuchtenden Brauns, und dazwischen wieder dunkle Edeltannen mit weisslichen Stämmen. Hier ging der Steig nicht mehr geradeaus, sondern wand sich, je nach der Gelegenheit, durch das Gehölz hin, und dies vermehrte die Spannung, da man nicht mehr schon von Weitem sehen konnte, ob sich was gefangen hatte. Es entwickelte sich ein lustiger Wetteifer, die gefangenen Vögel zuerst zu erspähen, und bei dem stürmischen Gange rötheten sich die Wangen des Mädchens, und ihre Augen blitzten vor Lust. Endlich hörte der Dohnensteig auf, nachdem die Ausbeute neununddreissig Vögel, lauter Weindrosseln, betragen hatte. Sie traten dann hinaus, auf einen zirkelrunden Platz im Walde, in dessen Mitte eine einzelne, herrlich gewachsene alte Eiche stand. Rings an die Grenze des Gehölzes hatte Brüning eine dreifache Reihe schöner, gleichmässiger Fichten pflanzen lassen, welche die Wand dieses, von der mächtigen Eichenkuppel überwölbten Saales bildete. An dem Stamme des riesigen Baume gingen eine Anzahl mehr als armdicker Epheuranken empor, die sich oben an die mächtigen Aeste, deren jeder für sich schon ein tüchtiger Baum war, vertheilten und solche bis in die höchsten Zweige über und über berankt hatten. Ganz feierlich gestimmt durch den Anblick dieses schönen Platzes und des herrlichen Baumes, der ihn überwölbte, sah Dannenberg eine Weile zu der majestätischen Krone empor. Da ward er aufmerksam auf ein tiefes, sonores Summen und Brummen, welches gleichmässig die Luft erfüllte und aus den Zweigen des Baumes zu dringen schien. Er trat näher und sah nun, dass der Epheu, welcher alle die mächtigen Aeste mit buschigen Zweigen umgrünt hielt, über und über in Blüthe stand, und dass die hellgrünlichen Blumenbüschel, welche sich dem Sonnenscheine darboten, ein unendliches Insektenvolk umsummte. Da gab es Fliegen von allen Arten, schwarze und metallisch glänzende in Grün und Gold und Roth, und Tausende von Honigbienen, die in eiliger Hast von einem Büschel zum andern flogen, um diese letzte süsse Gabe des Herbstes auszunutzen. Vor Allem aber machte sich eine Unzahl von stattlichen Hornissen bemerklich, mit ihren schön getigerten Leibern, und diese Insekten waren es auch, welche durch das sonore Brummen ihrer glasklaren Flügel den Grundton zu dieser merkwürdigen Waldmusik angaben. Die ganze Eiche war zur Zeit ein ungeheures Wirthshaus, wo süsser Blumensaft verschenkt ward, und alle kleinen geflügelten Schlecker der ganzen Umgegend schienen sich dort versammelt zu haben. Dannenberg machte Lene auf das merkwürdige Schauspiel aufmerksam, allein diese schaute nur mit geringer Theilnahme darauf hin. Dagegen deutete sie auf eine weite, halbrunde Nische in dem Fichtenkreise, woselbst sich eine nach vorn offene Rohrhütte mit einem grossen Tisch und eine Anzahl von Stühlen befand. »Hier werden, wenn schönes Wetter ist, unsere Geburtstage gefeiert,« sagte sie. »Sie fallen alle in den Sommer. Und dann wird getanzt, immer um die Eiche herum. Wir haben im Dorf einen Weber, der fiedeln kann; der spielt dann auf.«

Dannenberg sah auf die einladende glatte Fläche, die mit kurzem, weichem Grase bestanden war, und fragte: »Tanzen Sie gern?«

»Furchtbar gern,« sagte Lene. Dannenberg nahm seine Jagdtasche ab, legte sie an den Fuss der Eiche und sprach, indem er auf den summenden Wipfel des Baumes deutete und dann mit einer zierlichen Verbeugung vor das Mädchen hintrat: »Die Waldmusik spielt schon auf, – wie denken Sie über ein Tänzchen?«

Halb verwundert, halb belustigt sah sie auf ihn hin, dann lachte sie ein wenig und legte ohne Weiteres den Arm auf seine Schulter.

»Zuerst also Walzer,« sagte Dannenberg, und indem er leise vor sich hinpfiff, ging der Tanz los. Der Doctor fühlte sich so jugendlich, wie in seinen Studentenjahren, wo er auch so manches Mal auf grünem Rasen sich herumgeschwenkt hatte, und das Mädchen tanzte wunderbar, so leicht, wie ein Vogel; er fühlte kaum, dass er sie im Arme hatte. Und dabei summte ihm ein Text durch den Kopf zu der Melodie des Walzers, der lautete einzig: »O schöne Ju-u-gend, schö-ö-ne Ju-u-gend!« Nach dem Walzer kam eine Polka, rechts herum, links herum, vorwärts und rückwärts, recht nach der Kunst, und dann ein Rheinländer. Aber Dannenberg war, wenn auch nicht stark, doch ziemlich wohlbeleibt und ausserdem solcher Uebungen ein wenig entwöhnt, und nach diesem Tanze fühlte er, dass er kochte und für eine Weile genug hatte. Während er nun stand, sich den Schweiss abtrocknete und ziemlich pustete, sah er auf Lene hin, welche der Tanz nicht anzustrengen schien. Ihre Wangen waren zwar etwas geröthet, und ihre Augen blitzten vor Vergnügen, aber der junge Busen wogte kaum viel stärker, als vorher. Sie gehörte zu Denjenigen, welchen das Tanzen das Natürliche ist, die es nicht angreift, wenn sie von einem Arm in den anderen übergehen, welche sich bei einem Walzer von den Anstrengungen eines vorhergehenden Galopps ausruhen.

Sie machten sich nun auf den Heimweg, denn die Sonne sank, und der Abend nahte sich. Bald gelangten sie an eine jener alten, breiten Landstrassen, wie man sie in Norddeutschland noch häufig findet. Früher bewegte sich der Verkehr zwischen den Städten auf ihnen hin, aber jetzt sind sie verlassen, denn Chausseen und Eisenbahnen haben sie todt gelegt, und Gras und Blumen machen sich breit auf ihnen. Zur Seite war die Strasse von stattlichen, lebendigen Hecken eingefasst, die zum Theil noch grün, zum Theil schon in den Farben des Herbstes schimmerten, während Hagebutten und Pfaffenhütchen daraus hervorleuchteten, der Hollunder in unzähligen schwarzblauen Trauben stand und der Schlehdorn im Schmuck seiner hell bereiften Früchte. Sie gingen schweigend den stillen, einsamen Weg entlang, zuweilen im Schatten, zuweilen im Lichte, wenn die Sonne von der Seite durch eine Lücke der Hecke einen goldenen Strom sendete. In der leicht bewegten Luft flogen Sommerfäden dahin, und überall wehten die silbernen Gespinnste von den Zweigen der Hecke, von den Bäumen am Wege und von den Spitzen der Kräuter. Während nun die beiden Menschenkinder, ein jegliches mit den eigenen Gedanken beschäftigt, neben einander hergingen, geschah es, dass von diesen leichten Fäden gar manche gegen sie flogen und sich an ihre Kleider hängten, so eine zarte Verbindung von Einem zum Anderen herstellend. Als Dannenberg dies bemerkte, schritt er unwillkürlich vorsichtiger dahin, um diese zarten, silberglänzenden Fesseln nicht zu zerreissen, und während er sich über das zierliche Spiel der Natur seine eigenen Gedanken machte, glaubte er zu fühlen, dass auch Lene von ähnlichen Empfindungen bewegt ward.

Aus seinen Träumen wurde er plötzlich gestört, und alle die feinen Fäden zerrissen, als Lene plötzlich zur Seite trat und auf ein Haus deutete, das jetzt eben neben der alten Dorfkirche zum Vorschein kam, und dessen Fenster im goldenen Feuer der Abendsonne brannten, während aus dem Schornstein eine schmale Rauchsäule in die stille Luft emporstieg.

»Dort wohnt unser Pastor,« sagte sie, und ihre Augen blickten nach dem Hause hin, so lange es sichtbar blieb. Dannenberg erwiderte nichts darauf, und so schritten sie schweigend weiter, bis sie an die niedrige Feldsteinmauer kamen, welche den Obstgarten des Gutes einfriedigte.

»Hier müssen wir klettern oder einen Umweg machen,« sagte Lene.

»Ich bin für Klettern,« erwiderte Dannenberg, und indem er seine Füsse zwischen die Lücken der grossen Findlingsblöcke setzte, stieg er mit turnerischer Geschicklichkeit auf die Mauer. Dann reichte er dem Mädchen die Hand, und dieses folgte ihm nach. Sodann sprang er hinab und fing das schlanke Mädchen in seinen Armen auf, wobei sie eine ganz kurze Weile an seiner Brust ruhte. Die findigen Augen der Kleinen hatten aber unterwegs eine Entdeckung gemacht, und schnell eilte sie fort, zu einem Gravensteiner Apfelbaume, der in einiger Entfernung seine stattliche Krone ausbreitete. Sie nahm aus dem dürren Laube zu seinen Füssen einen prächtigen Apfel jener Art, der von herrlicher Goldfarbe und von jenem unvergleichlichen Duft war, welchen diese Frucht nur in ihrer Heimath, an den Küsten der Ostsee gewinnt.

»Das sind für mich die schönsten,« sagte Lene; »der ist am Baume reif geworden und dann bei stiller Luft von selber abgefallen.«

Dies erinnerte Dannenberg plötzlich an seine Kindheit, wo er dieselbe Neigung hatte für jene Früchte, welche man am Baume lässt, einem alten Gebrauche folgend, der noch bis auf die Heidenzeit zurückgeht. Auch er hatte die Früchte gern aufgesucht, wenn sie dann nach und nach ausreiften und von selber vom Baume fielen, und auch ihm waren sie immer besonders köstlich erschienen.

Lene brach den schönen Apfel mit ihren schlanken, aber kräftigen Fingern in zwei Theile und reichte dem Doctor die Hälfte. Dieser versenkte sich eine Weile in den köstlichen Duft, und dann verzehrten Beide nachdenklich die Frucht, welche von einer wundervollen kühlen Frische war. Als sie damit fertig war, mussten sie Beide lachen, obgleich sie nicht recht wussten, warum, und gingen dann dem nahen Hause zu.


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