Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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IV. In's Heu!

Aber die schönen Sommertage flossen unerbittlich dahin, und mit Schrecken dachte Wedeking zuweilen daran, dass jenes Bild nur zu bald Wirklichkeit und kein Märchen mehr sein würde. Und noch eins kam dazu, ihm den gewählten Aufenthalt lieb und wert zu machen, denn es dünkte ihm nichts Geringes alle Tage ein so schönes Mädchen freundlich um sich thätig zu sehen wie die Schwester des Forstwärters. Jeder Mann trägt oft ihm selber halb unbewusst das Traumbild eines Weibes in seinem Herzen, und wenn solches ihm dann in der Wirklichkeit begegnet, so berührt es ihn wie ein liebliches Wunder, dass diese Träume leben, und andere kluge Leute erstaunen dann, wenn in solchem Falle die Liebe so plötzlich kommt wie bei Romeo und Julia. Aber sie kommt gar nicht plötzlich, sie war schon längst da, es fehlte nur der Gegenstand. Wedeking wusste kaum, dass er schon vom ersten Anblick gefangen war, und hielt das tiefe Wohlwollen, mit welchem er jede Lebensäusserung des anmuthigen Kindes verfolgte, für ein selbstloses Gefallen an der Schönheit an und für sich, wie man es herrlichen Kunstschöpfungen entgegenbringt. Sein seit der ersten Knabenliebe wohlgeschontes Herz war noch recht unerfahren in diesen Dingen. Aber das schöne Bild wanderte alltäglich mit ihm, und aus dem Flüstern der Blätter und dem Rauschen der See klang es ihm wie abgerissene Strophen ihres ungeschulten aber lieblichen Gesanges, dem er so gern lauschte, wenn er aus der Küche, aus dem Nebenzimmer oder aus dem Garten her schallte, denn in seiner Gegenwart sang sie nie. Er konnte sich nicht erinnern, dass jemals von der Bühne aus oder im Konzertsaal Gesang so auf ihn gewirkt hatte, als nur einmal, da er in ihrer besten Zeit die grosse Niemann-Seebach als Gretchen sah, wie sie bei der Verrichtung häuslicher kleiner Arbeiten den König von Thule sang, kunstlos und in Gedanken vertieft, wobei sie zuweilen mitten in der Strophe sinnend aufhörte und nach einer Weile mit einem kleinen Seufzer den Schluss hinzufügte, während die Tausende von Zuschauern in dem grossen Hause den Atem anhielten und das Pochen ihrer Herzen dämpften, um keinen Hauch zu verlieren.

Insbesondere die Melodie eines Liedes, das er öfter von dem Mädchen gehört hatte, ohne genau den Text zu verstehen, – er wusste nur, dass darin von Heckenrosen, von der Nachtigall, von Mädchen in blühenden Jahren und von der goldenen Zeit die Rede war – hatte sich so fest seinem Gedächtniss eingeprägt, dass sie ihn Tag und Nacht nicht verliess und ihn fast ein wenig quälte, denn immer musste er sie summen oder leise vor sich hinpfeifen, eine jener anspruchslosen und ein bischen wehmüthigen Volksmelodien, wie sie im deutschen Vaterlande so mannichfach vernommen werden.

Wie war er deshalb verwundert, als er eines heissen sonnigen Nachmittages, da er tief im Walde nachdenklich auf einem Fusswege, der durch hohes Adlerfarnkraut sich hinzog, umherschlenderte, dies Lied vernahm, gesungen von jener ihm so angenehmen Stimme. Er bahnte sich einen Weg durch das Dickicht der gefiederten Zweige, sah alsbald den Himmel durch die lichteren Stämme schimmern, und als das Lied eben verklang, trat er auf eine Waldwiese hinaus, woselbst der Forstwärter mit seiner Schwester und dem Dienstmädchen beschäftigt waren, Heu zu wenden. Er trat hinzu und sprach mit dem Manne, nicht ohne dass seine Blicke zu dem schönen Mädchen hinschweiften, welches in einiger Entfernung mit elastischen Schritten und anmuthigen Bewegungen ihre Arbeit verrichtete. »Heisse Zeit,« sagte der Forstwärter, »alles heuet jetzt in der ganzen Gegend, und Arbeiter sind schwer zu kriegen, da müssen wir alle mit heran, zumal ich so einen Animus habe, dass es mit dem schönen Wetter die längste Zeit gedauert hat. Morgen wollen wir einfahren, und ich denke, wir bringen dann unser Gut ein so schön wie nie, denn bei dem trockenen Ostwind und der Hitze, da heuet es barbarisch. Aber wir müssen uns dazuhalten, dass wir heute fertig werden, denn eine Frau, auf welche wir rechneten, ist nicht gekommen, und mein Knecht hat recht zur Unzeit sich den Fuss verstaucht.«

»O, da helfe ich mit,« sagte Wedeking.

Der Forstwärter sah ihn verwundert an, das rundliche Dienstmädchen kicherte vernehmlich über dieses Ungewöhnliche, dessen sich der feine Stadtmensch unterfangen wollte, und die Schwester des Forstwärters unterbrach ihre Arbeit und schaute, auf ihre Harke gestützt, belustigt auf ihn hin. Sie trug einen jener unschönen aber den besten Schutz vor der Sonne gewährenden Helgolander Hüte, aus dessen Tiefe das feine Antlitz mit zartem rosigem Dämmer hervorschaute.

»Eine Harke ist noch vorhanden,« sagte der Forstwärter lächelnd, »wenn Sie mit Gewalt wollen – aber es ist heisse Arbeit.«

Statt jeder Antwort ging Wedeking an den Ort, wo er die Harke an einem Busche lehnen sah, holte das Arbeitsgeräth herbei und schwenkte es voller Thatenlust.

»Nun, dann wollen wir uns aber die Arbeit eintheilen,« sagte der Forstwärter vergnügt, »Sie nehmen mit meiner Schwester hier diesen Kabel bis zu dem grossen Saalweidenbusch und ich mit dem Mädchen den andern. Wer zuerst fertig wird, kann nach Hause gehen.«

Die nöthigen Handgriffe lernte Wedeking durch Unterweisung und Beispiel seiner schönen Gefährtin bald, und dann herrschte grosser Fleiss und Wetteifer auf der sonnigen Waldwiese. Die beiden Paare schritten in steter Bewegung hin und wieder und arbeiteten bald nah, bald fern von einander. Das frische und schnell getrocknete Heu duftete balsamisch und sandte Wolken von Wohlgeruch empor, wenn es gewendet ward. Zugleich sprühte nach allen Seiten hüpfendes Insektenvolk davon. Für diese war nun auch der grosse Wendepunkt ihres Lebens eingetreten, sie waren mit einemmal aus Grashüpfern zu Heuspringern geworden. In der Ferne spazierte ein Storch mit stelzendem Gange und nickendem Kopfe, indes er zuweilen den Schnabel zu Boden stiess, um wohlgefällig etwas aufzunehmen. Als die beiden jungen Leute einmal standen und ein wenig ruhten, machte Wedeking das Mädchen auf diesen fleissigen Mitarbeiter aufmerksam.

»Er kommt mir immer vor«, sagte diese, »wie der lange Herr Professor, welcher im vorigen Jahre oft von dem Badeorte herüberkam und auch so auf den Wiesen umherstelzte, wo er alle Augenblicke etwas aufnahm.«

»O,« sagte Wedeking, »der Storch ist kein Botaniker, er verachtet sogar die Pflanzenkunde; nein, der Storch ist ausschliesslich Zoologe, er studiert besonders die Insekten, Amphibien, Eidechsen und Schlangen und ist einer der grössten Kenner aller unserer Kleinthiere.«

Dem braven Professor Stelzenbein war die Aufmerksamkeit, welche man ihm zuwendete, lästig geworden, er nahm plötzlich einen Anlauf, entfaltete die mächtigen Flügel und erhob sich schwerfällig bis über die Höhe der Baumkronen, worauf er in schnellem Fluge nach Osten zu abstrich.

»Ach, das ist unser Storch aus Petershagen«, rief das Mädchen, »denn dorthin liegt kein anderes Dorf! Er wohnt auf der Scheune unseres Nachbars in einem uralten Nest, das schon beinahe mannshoch ist. Als kleines Kind hab ich ihn immer angesungen:

Adebor, du Roder,
Bring mi 'n lütten Broder!

»Hat er's denn gethan?« fragte Wedeking.

»Nein, aber eine Schwester hat er mir noch gebracht,« sagte lächelnd das Mädchen, »die ist unser Nestküken und noch zu Hause bei der Mutter.«

»Ist die Schwester auch so hübsch wie Sie?« fragte Wedeking plötzlich und fast ohne es zu wollen. Das Mädchen sah ihn eine kurze Weile überrascht an und erröthete tief. Sie wandte dann denn Kopf ab und fing so emsig an zu arbeiten, dass Wedeking genug zu thun hatte, um mitzukommen. Das Wenden war jetzt beendigt, und da der Abend nahte, ward das fast trockene Heu in grosse Haufen zusammengeschoben, um es vor der Einwirkung des nächtlichen Taues zu schützen. Wenn nun die beiden das ausgebreitete Heu zusammenholten, um es dann in gemeinsamer Arbeit mit den Harken zu einem Hügel aufzuthürmen, da suchte Wedeking einen Blick auf das rosige Antlitz zu gewinnen; allein dies gelang ihm nicht, denn mit grosser Geschicklichkeit vermied sie es, wirksam von dem weit vorstehenden Hute unterstützt, das Gesicht ihm zuzuwenden. Ein nachdenkliches Wesen war über sie gekommen, welches sich erst allmählig wieder verlor. Unterdess brannte schon die Abendsonne in den Wipfeln der Bäume, der Forstwärter und das Mädchen hatten ihre Arbeit beendet, schulterten die Harken und zogen, aus der Ferne mit fröhlichem Lachen herübergrüssend, davon. Nach zehn Minuten angestrengter Arbeit hatten auch die beiden Nachzügler ihren Theil vollendet, standen nun am Waldrande und sahen mit Befriedigung auf die dunklen Reihen wohlgebauter Hügel, welche die glatte Wiese gleichmässig bedeckten. Die Sonne streifte nur noch die Wipfel und liess die Stämme und Aeste der Kiefern roth aus dem dunklen Grün der Nadeln hervorleuchten; ein kühler Dunst stieg aus dem Boden hervor, das Heu duftete stärker und in den Büschen des Waldrandes sang mit unablässigem Geschwätz eine Dorngrasmücke.

Beide wandelten nun durch den stillen Wald nach Hause. Nur ein fernes Taubengurren oder zuweilen der Ruf eines Pirols waren vernehmlich. Selbst die so selten schweigsamen Wipfel der Kiefern und Fichten sangen nicht mehr, sie standen mit all ihren feinen Nadeln regungslos im Schein der sinkenden Sonne und strömten einen sanften balsamischen Hauch aus. Zuweilen kam aus den kleinen Lichtungen, wo am Tage die Sonne gebrütet hatte, ein würziger Duft von wildem Erdbeerkraut. Dies erinnerte Wedeking an eine Entdeckung, welche er an demselben Tage gemacht hatte. Er sagte: »Hier ganz nahebei habe ich heute einen vorzüglichen Erdbeerhorst gefunden, eigentlich eine Seltenheit in dieser Heide, sie stehen kaum fünfzig Schritte von hier.« Damit bog er vom Wege ab zu einem Orte hin, wo es licht durch die Stämme schimmerte, und das Mädchen folgte ihm. Am Rande einer jungen Fichtenschonung auf etwas ansteigendem Boden unter mächtigen Kiefern hatte das freundliche Beerenkraut sich weithin angesiedelt, die schönen Früchte waren dort ungestört zur Reife gelangt und prangten zum Theil schon in jenem tiefen Purpur der letzten Vollendung. In einer fernen Waldlücke stand niedrig die glühende Abendsonne und warf einen letzten Schein auf die aus feinem Grase und röthlichem Kraut hervorleuchtenden Beeren. Bald war das Körbchen des Mädchens in gemeinschaftlichem Wetteifer bis zur Hälfte gefüllt, indes die Sonne allmählich in ihrem eigenen Feuer verglühend versank und ein feiner Dunst der Dämmerung zwischen den Stämmen sich ausbreitete. Während nun die Schatten in den Gründen sich vertieften und ein sanfter röthlicher Schein in den Lüften war, gingen sie am Rande der Schonung weiter, bis sie an einen prächtigen Busch von wilden Rosen gelangten, der, in eine junge Eiche hoch emporsteigend, mit Hunderten von zart gefärbten Blüthen den Schein des Abendrothes zurückgab. Das Mädchen hatte den hässlichen Hut, dessen sie zum Schutze gegen die Sonne nicht mehr bedurfte, jetzt abgenommen, und als sie nun neben dem blühenden Strauche stand, ebenfalls angeleuchtet von den röthlichen Strahlen, da sah Wedeking es deutlich, dass ihr Antlitz an Farbe jenen schönen Blumen gleichkam, ja noch edler und reiner schimmerte diese liebliche Blüthe des Menschengeschlechtes. Ringsum war es nun ganz still, nur ein Rothkehlchen sang, wie es dieser Vögel Art ist, in einem rothbeglänzten Wipfel sein süss melancholisches Abendlied. Zugleich ging Wedeking durch eine unwillkürliche Gedankenverbindung jenes andere Lied durch den Kopf, welches er so oft gehört, doch niemals ganz verstanden hatte, und er bat sie, es ihm zu singen. Sie waren jetzt in einen schmalen Fusssteig eingebogen, wo das Mädchen schlank und schön vor ihm her schritt, während von seitwärts durch die lichten Stämme das Abendroth in die Dämmerung des Waldes hineinglühte. Sie verstand ihn gleich, als er sie ersuchte um das Lied von der goldenen Zeit, und ob nun auch ihr Ort und Stunde angemessen erschien – genug, sie weigerte sich nicht und sang mit anmuthiger Stimme das kleine Lied einfach und kunstlos, wie es sich für diese Verse und die anspruchslose, ein wenig melancholische Melodie gebührte:

Ihr Blumen auf Wiesen und Weiden,
Ihr Rosen in Hecken und Heiden,
Blühet und glühet, es naht schon die Zeit,
Dass ihr vom sonn'gen Tag müsst scheiden!

Du Nachtigall dort auf der Halde,
Ihr Vögel im Feld und im Walde,
Singet und klinget, so lang es noch Zeit –
Verstummt zum Süden müsst ihr balde!

Du Jüngling in lockigen Haaren,
Du Mädchen in blühenden Jahren,
Nutzet die Jugend, die goldene Zeit!
Wie bald wird sie von dannen fahren!

Dann schritten sie eine Weile schweigend weiter, während die Dämmerung zunahm und das Abendroth verblasste.

»Wo haben Sie das Lied her?« fragte Wedeking endlich.

»Ich habe es so gehört,« antwortete sie, »in unserem Dorfe wird es gesungen.«

Sie traten dann aus dem Walde auf die kleine Lichtung, wo das Forstwärterhaus gelegen war. Mit seinem schwarzen Strohdach hob es sich dunkel ab von dem blassen Roth, das als letzte Sonnenspur am Abendhimmel noch träumte, aus einem seiner kleinen Fenster schimmerte freundlich ein Lichtschein, eine feine Säule bläulichen Rauches stieg schnurgerade aus dem Schornstein in die helle Luft empor und ringsum war Frieden und süsse Abendstille.


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