Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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VIII. Wie es weiter kam.

Der einzige Bruder von Evas Mutter war Landmann. Er hatte durch Fleiss und Geschick sich ausgezeichnet und schliesslich durch eine Heirath die zur Bewirthschaftung eines grossen Gutes so nothwendigen Geldmittel in die Hand bekommen. Jetzt war der noch junge Mann bereits in dem glücklichen Besitz des sehr grossen Gutes Wiesenthal nicht weit von der Stadt und sah sich schon nach andern Erwerbungen um. Sofort nachdem die Nachricht von dem Unglück und dem schrecklichen Tode des alten Goldmachers zu ihm gedrungen war, hatte er anspannen lassen und seine schöne junge Nichte zu sich geholt. Diese hatte in einer heimlichen Stunde stürmischen Abschied von Bernhard genommen, und nun war es zu Ende mit den verstohlenen Zusammenkünften an dem verborgenen Fenster, und nur noch Briefe gingen zwischen ihnen hin und wieder. So verrann die Zeit und ein Monat ging ins Land. Zu Anfang des August kam ein Brief von Eva, welcher Bernhard, trotzdem er fortwährend gegen dies Gefühl anzukämpfen versuchte, in eine sonderbare Unruhe versetzte. Er lautete:

 
»Mein geliebter Bernhard!

Gestern habe ich im Park eine Stelle entdeckt, die ist wunderschön, und ich möchte wohl dort mit Dir zusammen sein. Denke Dir, ganz am Ende, wo der Park in den Wald übergeht, da zweigt ein Weg ab, fast ganz verwachsen, dass man die Büsche von einander biegen muss, wenn man dort gehn will. Dieser führt zu einem kleinen Platz am Wiesenrand, wo ein kleines Wasser entspringt, in Stein gefasst, und darüber breitet eine alte mächtige Linde ihre Zweige aus, und ringsum erhebt sich dichtes Gebüsch, so dass man von der alten bemoosten Steinbank aus, welche dort sich befindet, nur durch eine Lücke die weite Wiese sehen kann und den fernen Wald, welcher sie umgiebt. Hinter der Bank ist eine Bildsäule, ein kleiner nackter Junge aus Stein mit Flügeln, der schiesst mit einem Bogen und zielt auf mich, wenn ich dort sitze. Dort ist es so heimlich und man ist ganz aus der Welt. Mir gefällt es hier in Wiesenthal noch immer sehr gut, nur dass Du nicht bei mir bist, das ist nicht schön. Onkel und Tante sind stets so freundlich gegen mich und auch die Kinder. Ich weiss nicht, ob ich Dir geschrieben habe, dass wir jetzt Besuch haben. Es ist der jüngste Bruder von meiner Tante und heisst Albert Brinkmann. Er studiert Medizin schon über fünf Jahre; Medizin soll das schwerste Studium sein, aber nun wird er bald sein Examen machen, das soll auch sehr schwer sein, sie werden so oft examiniert, ich glaube wohl sechsmal. Ich sage immer Onkel Albert zu ihm, und darüber müssen wir viel lachen. Denke Dir, vor acht Tagen war grosse Gesellschaft hier zu meiner Tante Geburtstag, und aus der Umgegend waren alle Bekannten geladen, solche, die Onkel und Tante gern haben aber auch solche, die sie nicht gern haben, denn das geht nicht anders. Am Abend wurde viel getanzt, nur ich tanzte nicht mit, weil ich es nicht gelernt habe, und dann habe ich ja auch Trauer. Sonst haben alle Damen getanzt, selbst die alte dicke Madame Beselin, welche dreihundert Pfund wiegt. Ihr Tänzer sagte aber nachher, lieber wolle er eine ganze Last Korn zu Boden tragen, als die noch einmal um den Saal bringen. Er schwitzte aber auch ordentlich und sie auch. Ich würde nicht mehr tanzen, wenn ich so dick wäre. Albert sagte nachher, es sei doch eine Schande, dass ich nicht tanzen könne, und nun habe ich alle Tage Stunde bei ihm. Er tanzt himmlisch, das sagen alle Damen, und ich lerne es furchtbar schnell, die gewöhnlichen Rundtänze kann ich alle schon recht gut; »wie Oel«, sagt Albert. Du sagtest einmal, Du hättest nicht tanzen gelernt; wenn wir einmal wieder zusammen sind, da sollst Du es bald lernen, da will ich Dir schon eins, zwei, drei beibringen. Onkel Albert spielt auch sehr schön Klavier, und denke Dir, wenn man ein Handtuch über die Tasten deckt, so ist ihm das vollständig egal, er spielt doch alles ganz richtig. Da habe ich nun wirklich »Onkel« geschrieben, es ist doch zu komisch. Nun aber muss ich schliessen, denn ich muss in den Park zum Schiessstand. Pistolenschiessen lerne ich nämlich auch bei »Onkel« Albert. Zuerst habe ich recht vorbeigeknallt, denn ich machte beim Abdrücken immer die Augen zu, jetzt treffe ich aber schon manchmal die Scheibe, und einmal habe ich sogar ins Zentrum geschossen, aber nur aus Versehen, denn es war in der ersten Zeit, als ich noch die Augen zumachte. Er aber schiesst ganz famos und war in Heidelberg der beste Pistolenschütze. Denke Dir, er hat schon siebenzehn Mensuren gehabt, aber nicht mit Pistolen, sondern mit Schlägern. In Heidelberg nannten sie ihn das Notenblatt, weil er auf der linken Backe fünf Horizontale übereinander hatte; die sind aber sehr gut geheilt und nicht mehr viel zu sehen. Doch nun muss ich wirklich schliessen.

Es grüsst und küsst Dich tausendmal

Deine Dich innig liebende            
Eva.« 
 

Es ist nicht zu verwundern, dass Bernhard diesen Brief mit ein wenig gemischten Empfindungen las und dass er ihm ein Gefühl des Unbehagens und der Unruhe hinterliess. Er war der erste junge Mann, welcher mit dem schönen Kinde in Berührung gekommen war – hatte nicht vielleicht ein blosser sinnlicher Instinkt das junge und feurige Mädchen so schnell in seine Arme geführt? Ihr hatte nie eine Mutter zur Seite gestanden, und Klatschgeschichten, die nicht für ein reines Ohr bestimmt waren, nebst unpassenden Romanen waren die geistige Nahrung ihrer frühen Mädchenjahre gewesen. Nun ward sie plötzlich aus ihrer Einsamkeit mitten in die unbekannte Welt versetzt, die mit tausend neuen Reizen auf sie einstürmte, und alle Verlockung, die für Mädchen, welche von Kind auf unter Menschen leben, durch Erziehung oder Gewöhnung sich abstumpft, drang doppelt ein auf ein unerfahrenes Herz, das keine Vorsicht kannte.

Diese Unruhe wuchs und ward zur Qual, als ein weiterer Brief von Eva zur gewohnten Zeit nicht eintraf. Nun litt es ihn nicht länger in der Stadt, die widerlichsten Gedanken bestürmten ihn und liessen ihm keine Ruhe – er musste sich Gewissheit verschaffen. Das Gut und dessen Umgebung war ihm bekannt, denn mit dem Sohne eines benachbarten Besitzers befreundet, hatte er einmal die Sommerferienzeit in der Gegend verbracht, jedoch den jetzigen Inhaber kannte er nicht. Es war aber eine gute Krugwirthschaft in dem Dorfe, wo er einzukehren gedachte, um dann weiter seinen Zweck zu verfolgen. An einem heissen Augusttage brach er auf und gelangte nach dreistündigem Marsche in eine grosse Waldung, die zum Theil jenem Gute zugehörig war. Es war ein friedlicher und stiller Sonnentag, in welchen die wilde Unruhe seines Herzens wenig hineinpasste. An den Grabenufern zur Seite des Weges blühten unzählige Blumen und schauten alle wie mit stillen kleinen Gesichtern nach ihm hin. An lichteren Stellen summte ein mannigfaches Geschlecht von Fliegen, und Libellen aller Art tanzten an den sandigen Abhängen dahin oder standen schwirrend in der Luft, während auf den kleinen Waldwiesen Kaisermäntel und Perlmutterfalter sich lautlos im Sonnenschein wiegten. Und alle die so leicht beweglichen Wipfel standen wie versteinert da, als lauschten sie mit allen Blättern auf die grosse sommerliche Stille. Dieser feierliche Frieden ward ihm fast zur Pein. Endlich trat er aus dem Walde und sah eine mächtige Wiese vor sich liegen, an deren Rande der Weg entlang führte. Gegenüber erhoben sich die stattlichen Baumwipfel des Parkes von Wiesenthal. Als er nun zwischen Wiese und Wald hinschreitend dorthin gelangt war, fand er zur Seite eine kleine unverschlossene Heckenpforte, welche in den Park hineinführte, und nun beschloss er, anstatt auf dem breiten Fahrwege fortzuschreiten, der zum Dorfe führte, seinen Weg durch den Park zu nehmen, zumal er nicht fürchten durfte, in dieser heissen Nachmittagsstunde, wo man auf dem Lande die Kühle des Hauses aufzusuchen pflegt, dort jemandem zu begegnen. Auch verlockte es ihn stark, jenen verborgenen Ort an der Quelle aufzufinden, welchen Eva in ihrem Briefe erwähnt hatte.

Nichts störte an diesem Sommernachmittage die feierliche Stille der Natur. Bernhard schritt auf einem Wege dahin, der sich am Rande der Wiese entlang zog und zur Seite von einem jener fast lautlos dahinfliessenden Bäche des Tieflandes begrenzt war. Um die Stämme der alten Weiden flogen schon jene schönen Schmetterlinge, die den Herbst verkündigen: der bunte Admiral und der sammetbraune Trauermantel, dessen Flügel wie mit Gold eingefasst sind. So schritt Bernhard eine Weile fort, bis aus dem Park eine mit Haselbüschen, wilden Rosen, Weissdorn und anderen Gesträuchen bewachsene Halbinsel in die Wiese vorsprang. Zwischen dem mannigfaltigen Gebüsch hatte sich wilder Hopfen mächtig emporgerankt und dadurch waren an manchen Stellen fast undurchdringliche Dickichte gebildet. Vor diesem Orte bog der Weg ab und führte tiefer in den Park hinein. Als Bernhard dieser neuen Richtung eine kurze Strecke gefolgt war, stutzte er plötzlich, denn er sah einen schmalen, etwas verwahrlosten Weg, welcher in das Dickicht der Halbinsel hineinführte. Offenbar war seit lange für diesen Steig nichts gethan worden, denn er war mit Gras und Kraut hoch bewachsen und die umliegenden Büsche hatten ihn stellenweise mit ihren Wurzelschossen erfüllt. Es durchzuckte Bernhard wie ein Schlag, als er bemerkte, dass der Weg offenbar vor kurzem begangen war, denn die hohen Gräser waren wie von menschlichen Fusstritten niedergebogen und richtete sich zum Theil mit leisem Knistern wieder empor. Eine plötzliche Hoffnung erfüllte ihn; vielleicht war dies der Weg, der zu Evas Lieblingssitze ging, und er traf sie dort allein. So leise wie möglich verfolgte er den schmalen und etwas gewundenen Pfad, der auf die gegenüberliegende Wiesenbucht zuzuführen schien, und bald erkannte er, dass dort ein mächtiger Lindenbaum seine rundliche Kuppel wölbte. Als er so pochenden Herzens weiter schritt, erschien dort plötzlich unter dem Dämmer der Lindenzweige durch eine Lücke im hopfenberanktem Gebüsch wie in einem Rahmen das Steinbild eines geflügelten Amors, der mit Pfeil und Bogen in die Welt hineinzielte. Nun schlug ihm das Herz fast bis zum Zerspringen. Als er eine Weile still stand, um sich zu beruhigen, hörte er ein sanftes, tönendes Rieseln wie von fliessendem Wasser und nun, was war das? Das war kein klingendes Quellengeplätscher mehr, obgleich es ihm ähnlich erschien, das war ein leises, kurzes Mädchenlachen, und so lachte auf der Welt nur eine. Aber wenn sie lachte, war sie nicht allein. –

Bernhard stand an einer Biegung des Weges und die Aussicht ward ihm verdeckt durch ein dichtes, hopfenberanktes Gebüsch von Nussbaum und wilden Rosen, durch dessen Lücke er nur den grauen steinernen Amor sehen konnte. Leise trat er einige Schritte vor, nun ward das Gebüsch, das ihm die Aussicht versperrte, lichter und bot eine andere kleine Lücke dar, und durch diese sah der unglückliche Bernhard noch mehr, als er gefürchtet hatte. Dort sah er Eva zärtlich hingeschmiegt an einen jungen, hübschen Mann in heller Kleidung, der ihren schlanken Leib umschlungen hielt, während sie, mit beiden Armen seinen Hals umfassend, zurückgebogenen Hauptes in seinen Küssen aufging. Noch konnte es ein Irrthum sein, obwohl die ihm so wohlbekannte schlanke, zärtliche Gestalt sich in ihrem schwarzen Kleide deutlich von dem hellen Anzuge des jungen Mannes abhob, doch plötzlich fuhren alle drei Theilnehmer dieser Begebenheit in jähem Schreck zusammen, denn eine Schwarzamsel, welche in der Gegend ihren Geschäften nachging, hatte Bernhard bemerkt und erhob nun jenes zeternde Warnungsgeschrei, das dem pürschenden Jäger so verhasst ist, weil es dem klugen Wilde seine Anwesenheit verräth. Die jungen Leute unter dem Lindenbaum schreckten auseinander und wandten ihre Gesichter jenem Orte zu, woher der plötzliche Lärm kam, und nun sah Bernhard – es war kein Zweifel mehr, sein Geschick war entschieden.

Das junge Paar beruhigte sich bald, Eva lachte darüber, dass sie sich so hatten erschrecken lassen, jenes entzückende kleine kurze, silberne Lachen, und dann wandten sich beide ihrer verliebten Beschäftigung wieder zu.

Bernhard hatte, als er sich zur Seite bog, um nicht gesehen zu werden, in den dornigen Zweig einer wilden Rose gegriffen. Die spitzigen Haken drangen in sein Fleisch ein, allein er liess die Ranke nicht los, sondern packte nur noch fester zu, der Schmerz that ihm wohl. So stand er eine Weile, während es ihm dunkel vor den Augen ward, und rang nach Fassung.

Dann löste sich langsam seine Hand von dem dornigen Zweige und lautlos, wie er gekommen, ging er davon, hinter sich lassend den schönsten Traum seiner Jugend.


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