Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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Hans Beinharts Abenteuer.

I. Die Heimkehr.

Fünf Jahre hindurch war ich nicht in meiner Vaterstadt gewesen, da mein Beruf mich auf Reisen und Arbeiten in fremde Länder geführt hatte. Endlich für längere Zeit in die Heimath zurückgekehrt, hatte ich mich, sobald es anging, freigemacht, um zum erstenmale seit Jahren in ungestörter Ruhe einige Wochen bei meiner Mutter zu verleben. Wie behaglich berührte es mich, als das erste Plattdeutsch wieder an mein Ohr tönte, und wie gern lauschte ich den behäbigen Gesprächen meiner Mitreisenden, deren Mundart jenen breiten Beigeschmack hatte, an welchem meine Landsleute in der Fremde sofort erkannt werden. Schon jetzt wehte mich etwas an wie Ruhe und Frieden, die Leute hatten alle so wundervoll viel Zeit, und die Bahnbeamten betrieben ihr Geschäft nicht in unwürdiger Hast, sondern hübsch gemächlich und ohne jede Uebereilung. Es ist jetzt in dieser Hinsicht sehr viel anders geworden, aber damals war noch die schöne Zeit, da man in der Station Kleinen auf die Frage, wann der Zug weitergehe, von dem Schaffner die Antwort erhalten konnte: »Ja, ich weiss's auch nich, zehn Minuten kann's woll noch dauern.« Es dauerte dann aber gewiss noch zwanzig, welche angenehme Pause man mit der Vertilgung vortrefflicher Krabben-Butterbröte würdig ausfüllen konnte. Der Zug ruckelte so gemächlich durch die fruchtbare Landschaft, dass man den Stand der Feldfrüchte in aller Ruhe betrachten und vergleichen konnte und die Goldammern, behaglich nebenher fliegend, immer noch Zeit hatten, auf jeder Telegraphenstange ihr Liedchen zu singen. Jedoch in das Reich der böswilligen Erfindung möchte ich die Geschichte von jenem Landbriefträger verweisen, der mit einem gewissen Zuge jedesmal eine Strecke, die auf seiner Route lag, mitzufahren pflegte. Als er sich nun aber einmal ausnahmsweise zu Fusse auf den Weg machte und nach dem Grunde befragt wurde, da sagte er wichtig einen Brief emporhebend: »Hut heww ik keinTied to fuhren – dei Breif hett Ihl!«

Im übrigen kam man zuletzt doch auch an, gerade so wie heute, und so traf ich denn glücklich in meiner Vaterstadt ein. Ich übergab meinen Gepäckschein einem Dienstmanne und machte mich zu Fuss auf den Weg. Viele Menschen und Städte hatte ich gesehen, und eine Fülle des Neuen war an mir vorübergerauscht, doch nun war mir mit einemmale so zu Muthe, als sei ich in den Drehpunkt der Zeit gekommen, wo sie stille steht, denn hier war alles so, als ob ich es gestern erst verlassen hätte. Auf dem Bahnhofe lungerte wie gewöhnlich Adi Lemmermann, Müssiggänger von Profession, der mal in grauen Zeiten irgend einen Examen nicht hatte hinter sich bringen können und nun schon seit lange von den Zinsen eines kleinen Vermögens lebend als Mörder und Dieb bekannt war, allerdings nur von jener harmlosen Sorte, welche die Zeit todtschlagen und dem lieben Gott den Tag abstehlen. Mit demselben nichtssagenden Blicke wie vor Jahren betrachtete er die Aussteigenden und sah so überflüssig aus wie immer. Auf der Promenade begegnete mir, die Hände auf den Rücken gelegt und den Kopf etwas in den Nacken gerichtet, der uralte emeritirte Prorector Rein auf seinem gewohnten Spaziergange um den grossen Teich. So uralt sah er schon aus vor fünfzehn Jahren, als ich vor ihm auf der Schulbank sass und er mich von Zeit zu Zeit, wenn ich wieder einmal meine unüberwindliche Abneigung gegen die alten Sprachen allzudeutlich kundgegeben hatte, mit milder Stimme fragte: »Beinhart, wann gehen Sie ab?« worauf die ganze Klasse im Chore zu antworten pflegte: »Noch lange nicht, Herr Prorector.« Dann schüttelte er sanft sein weisses Haupt und sagte: »Das ist schade!« Nicht weit hinter ihm kam auch richtig der ewig betrunkene Böttcher Maass angetorkelt, wie er schon seit unzähligen Jahren so oft torkelte, und hinter ihm war wie immer ein johlendes Gefolge hoffnungsvoller Knaben. Auch dies rief liebliche Jugenderinnerungen in mir wach, denn diesem Manne verdankte ich eine der unverdientesten, aber gewaltigsten Maulschellen, welche jemals gebacken worden sind. So aufgelegt zu allerlei dummen Streichen ich auch immer war, betheiligte ich mich doch niemals an den Hänseleien, mit welchen die Jugend Betrunkene oder geistig Gestörte, deren immer einige in solcher Stadt frei herumlaufen, so gern verfolgt, und Böttcher Maass, Pauline Panköke, oder der grosse Dichter Kägebein waren sicher vor mir. Als nun einmal wieder die unnützen Jungen um den torkelnden Böttcher Maass beschäftigt waren und ihn mit kleinen Steinen und anderen Gegenständen warfen, verwies ich ihnen dies und forderte sie auf, das unglückliche Geschöpf ruhig laufen zu lassen, womit ich allerdings nicht den geringsten Erfolg erzielte. Böttcher Maass aber, in Zorn versetzt durch einen Stein, welcher ihn ans Schienbein getroffen und ihn in seinen heiligsten Gefühlen verletzt hatte, machte plötzlich einen Ausfall, bei welchem die anderen auseinander sprühten, während ich in dem Gefühle meiner Rechtschaffenheit und Tugend und erfüllt von unbegreiflicher Vertrauensseligkeit und monumentaler Dummheit ruhig stehen blieb. Böttcher Maass, sich an das einzig Bleibende in der Flucht der Erscheinungen haltend, stürzte auf mich los, holte stolpernd aus und versetzte mir eine Maulschelle, welche mein Vertrauen auf Recht und Gesetzmässigkeit bedenklich erschütterte und mich zu Zweifeln an der göttlichen Vorsehung verleitete. Aber ich habe ihm dies längst verziehen und ihn sogar später zum Helden meines ersten Epos gemacht, »die Maassiade« genannt.

Ja, alles war in dieser Stadt noch wie früher, nur die kleinen Mädchen, welche vor fünf Jahren noch Reifen und Ball spielten, waren stattliche Damen mit Sonnenschirmen und modernen Hüten geworden ; die Reifen trugen sie in den Kleidern und auf den Ball gingen sie. Dieses Geschlecht wächst einem in gewissen Jahren am schnellsten aus der Kundschaft. Die Primaner und Sekundaner in ihren bunten Mützen gingen, wie ich später zu sehen Gelegenheit hatte, denn jetzt waren sie noch in der Schule, ehrbar wie immer und im Bewusstsein der Würde ihres Standes und der Höhe ihrer gesellschaftlichen Stellung einher; einige drehten bereits heftig an einem kleinen Schatten unter der Nase und beneideten gewiss Frau Rebekka Bonnheim, welche wie immer vor ihrem Seifenladen stand und sich wieder einmal vierzehn Tage lang nicht rasirt hatte, ein Umstand, der im Verein damit, dass sie mit Seife ausschliesslich nur handelte, ihrem alten fetten Gesichte einen hohen Reiz verlieh. Ach, und die alten wohlvertrauten Läden sahen meistens noch geradeso aus wie vor langen Jahren. Vor dem kleinen Schaufenster des alten Freudenberg, mit welchem ich so manches Geschäft in Kandiszucker und Murmeln abgeschlossen hatte, standen noch dieselben gekreuzten Kalkpfeifen und staubigen Tabakspakete und dieselben blinden Gläser mit Backpflaumen, Grütze und Erbsen und dieselbe Flasche Kalmüser-Schnaps mit der schönen Inschrift:

»Ein Kalmüser hilft schon sehr,
Zwei Kalmüser noch viel mehr.«

Wie oft hatte ich davorgestanden und darüber nachgedacht, wozu er denn nun wohl eigentlich helfen möchte! Im Ladenfenster des Zuckerbäckers Grübel stand noch immer die braunangemalte Göttin aus Gips, welche in meinen Jugendphantasieen eine so grosse Rolle spielte, denn ich war des festen Glaubens, sie sei durch und durch aus lauter Chocolade und infolgedessen von unermesslichem Werthe. In meinen Träumen von Glück und Reichthum fehlte nie die Scene, wie ich bei Herrn Grübel eintrat, mich in leichtem Tone nach dem Preise seiner Chocoladengöttin erkundigte, ohne weiteres die geforderte Summe bezahlte und mit einer vornehmen Handbewegung befahl, dieselbe in meine Wohnung schaffen zu lassen. Ich pflegte dann in nachlässiger Weise hinzuzufügen: »Legen Sie auch ein Schock Ihrer berühmten Apfeltorten bei.« Ja, wohin waren diese Kinderträume geschwunden! Soeben kam eine heisse Platte dieser beliebten Törtchen aus dem Ofen, eine Wolke von verlockendem Dufte durch die offene Thür sendend, allein, obwohl ich soviel Geld bei mir trug, um den Grübelschen Laden auszukaufen, ging ich kaltsinnig vorüber. Nie hätte ich als Kind geglaubt, dass solche Wandlung möglich wäre.

Nun kam ich an den Dom, der, auf dem höchsten Punkte der Stadt gelegen, mit seinem braunrothen Ziegelgemäuer ernst und massig auf das Häusergekribbel zu seinen Füssen herabschaut. Die Dohlen kläfften in seinen Mauerlöchern und die Thurmschwalben schweiften schreiend um seine Giebel so wie es immer war. Als ich den kühlen Kreuzgang durchschritt, welcher zwei an den Dom angebaute frühere Klostergebäude, die jetzt das Gymnasium enthielten, verbindet, war es gerade vier Uhr, und ein wohlbekanntes Donnern und Rumoren erhob sich in dem Gebäude, denn die Nachmittagsschule war zu Ende. Dann kam in langen und hastigen Sprüngen jemand die breite Holztreppe hinabgepoltert: es war der erste der Schüler, dem es gelang, die Freiheit zu gewinnen. Das war ich immer gewesen in früherer Zeit, es war dies einer der wenigen Ehrgeize, die ich damals hegte, und ich sah mir voller Theilnahme nun meinen Nachfolger an. Es war ein kräftiger Tertianer, etwas braungebrannt und sommersprossig, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der mehr an Wald, See und Wiese als an Studirlampe, Bücher und Schreibpapier erinnerte. Ja, es war alles noch beim alten.

Jetzt ging ich den alten Schulweg, den ich wer weiss wie oft zurückgelegt hatte, und es rührte mich fast, denn alles war so wohlbekannt. Je näher ich der Wohnung meiner Mutter kam, je eiliger wurden meine Schritte, bis ich endlich um die Ecke bog und das Haus in Sicht kam. Ja, nicht allein das Haus, denn aus dem Fenster lauschte der liebe, wohlbekannte alte und doch noch so jugendliche Kopf, und nun nickte er, dass die sauberen Spitzen der Haube zitterten. So war es auch schon oft gewesen, wenn ich in den Ferien oder zu kurzem Urlaube heimkehrte, denn wir beide liebten nicht die Empfangskomödie auf dem Bahnhofe, aber so lange Zeit hatte noch niemals dazwischen gelegen. Nun klingelte zeternd die Hausthürglocke, und mit denselben mächtigen drei Sätzen, welche mir noch von früherer Zeit her in den Gliedern lagen, war ich die Treppe hinauf und wieder daheim.


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