Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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V. Die Bolderaa.

Der »Animus« des Forstwärters ging in Erfüllung. Das Heu wurde noch glücklich eingebracht, aber an demselben Abend stieg im Nordwesten aus der See ein riesiger Wetterbaum auf, der seine mächtigen Wolkenäste über den ganzen Himmel verbreitete, und in der Nacht kam ein Gewittersturm, dass die Wipfel heulend brausten und das Rauschen der aufgeregten See deutlich vernehmbar war. Am Morgen aber war alles vorüber, und die Sonne glänzte, als wäre nichts geschehen, vom unbewölkten Himmel. Als Wedeking aufgestanden war, brachte die Frau des Forstwärters ihm den Kaffee, und er vernahm von ihr, dass die Schwester ihres Mannes schon in aller Frühe nach Petershagen zu ihrer Mutter gegangen sei und erst am Nachmittage zurückerwartet werde. Das Haus erschien ihm merkwürdig öde und leer an diesem Tage. Wie gewöhnlich machte er sich für seinen täglichen Ausflug bereit, denn selten pflegte er vor dem späten Nachmittag zurückzukehren, und nahm seine Hauptmahlzeit immer erst am Abend ein. Er packte Mundvorrath und etwas Wein in seine Wandertasche, und ausserdem war er stets ausgerüstet mit einem jener leichten Regenmäntel, die sich auf einen kleinen Raum zusammenrollen lassen, mit einem wollenen Plaid und einem sogenannten Touristenschirm, der ihm zugleich als Wanderstab diente. So war er auf alle Wechselfälle der Witterung vorbereitet und konnte sogar mit einer gewissen Behaglichkeit im Walde übernachten, im Falle er sich verirrt hätte. Dann machte er sich rüstig auf, und bald war er wieder in dem von dem nächtlichen Gewitterguss erfrischten und balsamisch duftenden Walde verschwunden. Planlos und in Gedanken vertieft trieb er sich heute umher, und ein gewisses Wehmuthsgefühl ward seiner Herr, wenn er dachte, dass diese Zeit der goldenen Freiheit nun bald ein Ende nehmen und er in das gewohnte Joch zurückkehren sollte. Und dann konnte er jenes Lied nicht loswerden, immer und immer summte es ihm durch den Kopf wie eine süsse Mahnung:

Du Jüngling in lockigen Haaren,
Du Mädchen in blühenden Jahren,
Nutzet die Jugend, die goldene Zeit!
Wie bald wird sie von dannen fahren!

Da er bei allen diesen Gedanken wenig auf den Weg geachtet hatte, so geschah es um Mittag, dass er nicht genau wusste, wo er sich befand. An der einen Seite des Weges standen wie eine Mauer junge schwarzgrüne Fichten, an der anderen hochstämmiger Buchenwald. Um diese Mittagszeit, wo alle Vögel schwiegen und der Wind eingeschlafen war, herrschte rings die Stille der Einsamkeit bis auf das Summen der Fliegen im Sonnenschein und das Knistern der Libellenflügel, wenn diese Thierchen, welche wie kleine Raubvögel in der Luft standen, plötzlich ihren Ort veränderten. Das erste, was Wedeking that, wenn er in diesem Strandwalde die Kenntniss des Ortes verloren hatte, war, dass er auf die See horchte, deren Rauschen in solcher Einsamkeit weithin vernommen wird. Aber er hörte nichts, als er lauschte, nur einmal lachte ein Wiedehopf weit in der Ferne und dann war wieder alles still. Aber es war noch früh am Tage und Zeit hatte er genug, darum wandte er sich nach jener Richtung, wo dem Stande der Sonne nach die See zu suchen war, und schlenderte gedankenvoll in den Buchenwald hinein. Nach einer viertel Stunde hielt er wieder an und horchte. Da noch eben seine Füsse in dem welken Laube gerauscht hatten, war nun wieder eine grosse Mittagsstille um ihn her und anfangs vernahm er nichts. Es war, als horchten alle die regungslosen Blätter der Buchen mit ihm. Dann tönte es ganz fern aus der grünen Waldestiefe kaum vernehmbar aber taktmässig und, als das Ohr sich erst zur Aufmerksamkeit gewöhnt hatte, auch deutlicher; ja, was dort so klang wie das leise Athmen eines schlafenden Kindes, das war die See. Zugleich trat zu seiner Rechten ein anderes Geräusch an sein Ohr, ein traumhaft verschlafenes Rieseln wie von fliessendem Wasser; er blickte dorthin und sah zwischen den Stämmen es in lichterem Grün schimmern, und mit einemmal ging in seinem Kopfe jenes sonderbare Drehen vor sich, das uns befällt, wenn wir glauben, uns in unbekannter Gegend zu befinden, und nun plötzlich alles sich zurechtrückt.

Dort ging ja die Bolderaa durch die selbstgegrabene Schlucht, jener kleine Bach, welcher dieser ganzen Gegend den Namen gegeben hatte; nun war ihm mit einemmal alles wohlbekannt. Er schritt auf den Bach zu und folgte, an dem hohen Ufer entlangschreitend, der Richtung seines Laufes. Drunten im Grunde floss das grünliche glasklare Gewässer und rieselte und plätscherte so kühl durch die vielfach zerstreuten Steine, dass die Schwüle, mit welcher die brütende Sonne die breite, von mächtigen Buchen umstandene Schlucht erfüllte, noch drückender erschien und es Wedeking forttrieb an die Kühlung verheissende See, deren Rauschen schon immer deutlicher ward. Plötzlich bei einer Biegung der Schlucht lag sie vor ihm, und zugleich wehte ein etwas frischerer Hauch an seine erhitzte Stirn. Von hier ab verbreiterte sich die Schlucht nach der See zu ganz ausserordentlich, und ein süsser Duft stieg aus diesem Grunde empor, denn an den lehmigen Seitenufern wuchs in über mannshohen kleinen Wäldern der mit unzähligen weissen Blümchen übersäete Honigklee. Wedeking stieg an die See hinunter und wandte sich zurück, wo das steile, von Buchen gekrönte Lehmufer zur Linken sich bis zu dem kleinen Landvorsprunge Rosenort hinzog, während überall nur ein schmaler Strand zwischen der steil abfallenden Wand und der See vorhanden war. Ja, zuweilen fehlte dieser ganz, so dass man durchs Wasser seinen Weg nehmen musste. Auch Wedeking gelangte jetzt an eine solche Stelle, vermochte aber, da sie nicht sehr breit und das Wasser nicht tief war, dieselbe bei einer zurückkehrenden Welle laufend zu überschreiten. Bei starken andauernden Stürmen war überhaupt dieses schmale Vorland nicht gangbar, da die See alles überflutete, an der etwa sechzig Fuss hohen Uferwand hoch emporschlug und Schaum und Tang in die Sträuche des Waldes warf.

Nun befand sich Wedeking wieder an einem Orte, welchen er besonders gern hatte, denn hier war er ganz aus der Welt. An der einen Seite hatte er die steile Mauer der Uferwand und an der anderen die unendliche See, mit deren Rauschen und Wogen er mutterseelenallein war. Er schritt über den feuchten röthlichen Uferkies, aus welchem mit gelbem Bernsteinglanze zuweilen ein Donnerkeil hervorleuchtete , bis an den Ort, wo die See in jahrhundertlanger Arbeit einen Vorsprung des hohen Landes abgetragen hatte, dessen einstmalige Ausdehnung noch genau durch die ausgespülten, weit in die See hineinreichenden Felsblöcke bezeichnet war. Auf dem Strande lagen ebenfalls solche zum Theil halb im Sande begraben, zum Theil frisch herabgestürzt und seltsam durcheinander geworfen; auch aus der steilen Lehmwand ragten, von dem letzten Sturm freigespült, solche hervor wie ungeheure Rosinen aus einem Kuchen, während an anderen Stellen sich leere glatte Höhlungen zeigten, wo solche Blöcke gesessen hatten. An einem Orte, wo diese zum Theil sehr mächtigen Steine am häufigsten lagen, waren drei derselben dicht an der steilen Wand so seltsam übereinander gestürzt, dass eine Höhlung entstanden war, in welcher sich bequem ein Mensch verbergen konnte. Wedeking hatte früher, als er diese Einrichtung entdeckt hatte, mit grosser Mühe einen vierten Stein herzugewälzt, der nun innerhalb dieser steinernen Laube einen Sitz bildete. Dort hatte er schon oft und gern gesessen, um träumend auf die See hinauszublicken, und auch heute nahm er wieder diesen vor der glühenden Sonne geschützten Platz ein. Es war an der See fast ebenso schwül als im Walde, denn es ging kein Wind, und der wenige Luftzug, der zuweilen entstand, kam vom Lande her. Der Horizont war in leichten Dunst gehüllt, so dass Wasser und Himmel ineinander schwammen, und ausser dem eintönigen Rauschen der Wellen, welche die Uferkiesel knirschend hin und her schoben, war nichts vernehmlich als das Zwitschern der Uferschwalben, die den obersten Rand der steilen Lehmwand siebartig mit ihren Nisthöhlen durchlöchert hatten und dort gleich emsigen Bienen unablässig ab und zu flogen. Obwohl Wedeking diese Vögel selber nicht zu sehen vermochte, so wurden ihm deren Bewegungen doch an den leichten Schatten kund, welche vor ihm auf dem weissen Sandboden unablässig durcheinander glitten.

Als er nun so träumend sass, da fing es im Rauschen der Wellen wieder an zu singen von der goldenen Zeit, und vor seinen Augen schwebte wieder die schöne schlanke Gestalt. Er war doch recht thöricht, schon über dreissig Jahre alt und noch immer so schüchtern wie ein Knabe. »Nutzet die Jugend, die goldene Zeit, wie bald wird sie von dannen fahren!« Das hatte sie kürzlich gesungen in der abendlichen Waldesdämmerung und war dabei vor ihm her gewandelt wie ein holder Arm voll Glück, aber er hatte die Stunde versäumt. Ja, und wenn er sie an sich gezogen hätte, da Zeit und Gelegenheit günstig waren, was wäre die Folge gewesen? Die wilde Rose ist die schönste Blume des Waldes, aber sie hat auch scharfe Dornen, und er wusste nicht, ob sie ihm sich glühend neigen oder ob sie ihn zornig abwehren würde. Nun begann er Orakel darum zu fragen. Dort in der Weite lag ein Steinblock in der See, an welchem die Wellen emporschlugen, während zuweilen eine angerollt kam, grösser als ihre Schwestern, und einen Regen von weissem Schaum über das dunkle Felsenhaupt emporspritzte. Wenn unter den nächsten dreien eine solche war, dann sollte es ein gutes Zeichen sein. Da kam schon die erste und wogte machtlos an dem Steine empor, die zweite folgte und sank wieder zurück, und dann rollte die dritte herbei, die gar nicht besonders aussah; aber plötzlich, klatsch, sprühte ein mächtiger Schaumregen über den schwarzen Felsen hin. Dies stimmte Wedeking fröhlich, allein es genügte ihm noch nicht. Dicht vor ihm war zwischen den von der See ausgeworfenen Kieseln ein besonders weisser Sandfleck. Wenn in dem Verlaufe der Zeit, da drei Wellen hintereinander den Strand erreichten und ehe die vierte sich überschlug, über diesen Fleck ein Schwalbenschatten hinhuschen würde, dann wollte er dies für ein Hoffnung weckendes Ereigniss ansehen. Die erste kam, überschlug sich und glitt mit singendem Zischen wieder zurück, die zweite und die dritte folgten, allein der Fleck blieb leer; doch kurz bevor die vierte eben ihr schaumgekröntes Haupt vorüberneigen wollte, huschten wie der Blitz zwei Schatten nebeneinander über die weisse Stelle dahin. Nun fürchtete sich Wedeking fast, sein Glück noch einmal zu probiren; allein aller guten Dinge sind drei, und er begann nach einem weiteren Orakel zu suchen.


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