Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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III. Im Garten.

Am anderen Morgen erwachte ich schon früh, und der sonnige Morgen verlockte mich, sogleich aufzustehen und in den Garten hinabzugehen. Zuvor aber hielt ich mich eine Weile vor dem Borte auf, wo in sauberen Einbänden die wer weiss wie oft gelesenen Bücher meiner Jugendzeit sich befanden. Wie vertraut schauten mich die alten Freunde an und welche Fülle von Entzückung und von sanften Freuden hatten sie einst in mein Herz gegossen! Nur ein Kind vermag zu lesen und das Gelesene zu geniessen, wer vermeint, dass gereifte Erkenntniss zur Erhöhung dieser Freuden beitrage, der irrt sich. Es ist gerade wie mit der ersten Liebe. In Erinnerung an diese kindlichen, aber unvergleichlichen Genüsse nahm ich »Paul und Virginie« in der schönen Pforzheimer Ausgabe mit den Illustrationen von Tony Johannot, Meissonnier, Français und anderen mit mir in den Garten und ganz unwillkürlich lenkte ich meine Schritte zu dem Orte hin, wo ich in früherer Zeit so manche Stunde lesend und in eine fremde Zauberwelt versunken zugebracht hatte. Wir hatten dort einen alten Apfelbaum, dessen Stamm in so schräger Neigung emporstieg, dass man mit einiger Geschicklichkeit an ihm hinaufgehen konnte. Dort, wo seine Aeste sich theilten, bildete sich eine Art von bequemem Lehnsessel, und zu diesem Orte stieg ich mit meinem Buche empor. Doch bevor ich anfing zu lesen, liess ich meine Blicke über den Nachbargarten schweifen und sah nun von meinem erhöhten Sitze, wie sehr sich dieser in den letzten fünf Jahren verändert hatte. Die frühere schattige Baumwildniss, in welcher ich mit den Nachbarskindern die herrlichsten Spiele ausgeführt hatte, war verschwunden, und statt ihrer sah man reihenweise, und sauber gehalten, die gleichmässigsten Zwergobstbäume von der Welt, hochstämmige Stachelbeer- und Johannesbeersträucher und wohlbeschnittene Himbeerpflanzungen. An anderen Orten wieder erblickte man ganze Reihen von Gitterwänden, an denen Pfirsich und Aprikose bereits verblüht waren, während Schattenmorellen ganz in leuchtendem Weiss und Weinreben im ersten jungen Grün standen. Alles war sauber und sonnig und wie nach der Schnur, ausser an den Rändern des Gartens, wo der Nachbar noch einige der mächtigen Obstbäume und dichten Gebüsche aus früherer Zeit hatte stehen lassen. So begrüsste ich mit Vergnügen meinen alten Freund, einen gewaltigen Bergamottenbirnbaum, der, obwohl schon einige grosse Hohlräume zeigend, doch noch ganz gesund war und sich auch in diesem Jahr über und über mit weisslichen Knospen bedeckt hatte. Er besass die Eigenschaft, auch einen Theil unsers Gartens mit seinem Ueberflusse zu bedecken, so dass ich mich bei diesem »Wirthe wundermild« schon oft hatte zu Gaste laden können, wenn er in windiger Nacht köstliche Früchte auf unsern Rasen gestreut hatte. Ich betrachtete ihn deshalb mit Wohlwollen, obgleich ich nicht ahnen konnte, dass dieser gute Baum mir noch einmal einen höheren Freundschaftsdienst zu leisten bestimmt war.

Rings glänzte der schönste Frühlingsmorgen. Der Gartenlaubvogel, der Mönch und die graue Grasmücke sangen unglaublich, dazwischen schmetterten die Buchfinken, die Bienen summten in lauter Duft und ein weicher Morgenwind wühlte in Knospen und Blüthen und jungen Früchten wie ein Geizhals in seinen Schätzen. Ich lehnte mich behaglich in meinen natürlichen Lehnstuhl zurück, schlug mein Buch auf und vertiefte mich in seinen Inhalt. Eigentlich nicht so sehr in diesen als in die Gedanken meiner eigenen Kindheit, welche zwischen den Zeilen hervorblühten und aus den so oft andächtig und grübelnd betrachteten Bildern mir entgegenlächelten. Doch allmählig ergriff das kleine Naturgedicht in seiner zarten Einfachheit mich aufs neue, so dass ich mit stiller Rührung den einfachen Erlebnissen der guten Leute auf Isle de France folgte, bis mich endlich ein seltsames Gefühl überkam, welches mich veranlasste aufzublicken und nach einer bestimmten Richtung zu sehen. Im Nachbargarten unter dem grossen Birnbaume stand ein junges schönes Mädchen und blickte verwundert auf mich hin. Sie musste von der Seite genaht sein, wo die Zweige mich verdeckten, und hatte nun plötzlich mit Erstaunen bemerkt, welch eine seltsame Frucht unser alter Apfelbaum trug. Als ich so plötzlich aufblickte, erröthete sie ein wenig und schien einen Augenblick zu zaudern, ob sie weiter schreiten sollte, an mir vorbei, oder wieder umkehren. Aber nur eine ganz kurze Weile, dann setzte sie den unterbrochenen Weg fort, während ich mich schnell aus meiner bequemen Lage aufrichtete und der lieblichen Nachbarin meinen Gruss darbrachte. Sie dankte durch eine leichte Verbeugung, die zugleich vornehm und verbindlich war, und wendete mir dabei im Vorübergehen noch einmal die dunklen Augen zu. Zugleich schien mir um den lieblichen Mund der leise Schimmer eines Lächelns zu schweben. Dann war sie vorüber und verschwand zwischen dem Laubwerke.

Was war denn nun eigentlich geschehen, dass sich die Welt mit einemmale verändert hatte? Die Sonne schien, die Vögel sangen, die Bienen summten und die Blätter rauschten wie vordem, und doch war alles anders. Warum kam es mir plötzlich so ungemein albern vor und unpassend für meine Jahre, in einem Apfelbaum zu sitzen und »Paul und Virginie« zu lesen, ein Buch, welches ebenso plötzlich ohne allen Reiz für mich war. Ich kletterte sofort aus dem Baume heraus, legte das Buch auf eine Bank und ging nachdenklich in dem kleinen Garten umher. Welch ein Segen ist es doch um ein schönes Menschenkind in der Blüthe der Gesundheit und Jugend. Wie ein Geschenk Gottes erscheint solche liebliche Bildung und erfüllt das Herz mit Dank, dass auf dieser Erde solches möglich ist. Was Dichter oder Künstler uns schufen, erscheint doch immer nur wie ein matter Traum und wie ein Abglanz, wenn uns das Bild, das wir im Herzen tragen, plötzlich leibhaftig begegnet als ein holdes Wunder.

Ich spähte durch eine Lücke im Gebüsch, und siehe da, in einiger Entfernung tauchte die schöne Gestalt wieder aus dem Blätterwerke hervor und ging langsam, halb von den niedrigen Büschen verborgen, dem Nachbarhause zu. Ich sah auch, wie das Mädchen heimlich seinen Blick wieder zu dem Apfelbaume schweifen liess, und fast enttäuscht, dass sie dort niemand mehr bemerkte, die Augen suchend umherschickte. Dies alles geschah in einem kurzen Augenblicke, dann schritt sie ruhig weiter auf das Haus zu und verschwand darin. Nachdem ich noch eine Weile in einem wunderlichen Gefühle von unbegründeter Glückseligkeit in unserem Garten umhergewandert war, that sich in dem Nachbarhause eine Thür auf und ein mittelgrosser, starker und ganz in weissen Baumwollenstoff gekleideter Mann trat in die Erscheinung und ging, während er aus einer kurzen Holzpfeife mächtig rauchte, in den Garten hinein, wo er alsbald geschäftig war und nacheinander jeden Strauch und jeden Baum sorgfältig besichtigte. Bei dieser Gelegenheit näherte er sich mir allmählich, und ich besah ihn mir aus der Verborgenheit. Ausser seiner weissen Kleidung und seinem gelblichen Panamahute war fast nur Rothes an ihm zu sehen. In dem gesunden rothen Gesichte sass die feine, gerade Nase, welche schon meiner Mutter aufgefallen war, unter zwei hellgrauen und von dichten, wulstigen Brauen überwölbten Augen. Der etwas grosse Mund mit den schmalen Lippen war nur wie eine scharfe Linie sichtbar, und zu beiden Seiten bis an seine Winkel ging ein dicker, röthlicher Backenbart, schon mit etwas grau gemischt. Das übrige Roth waren zwei stattliche Hände, ein seidener Taschentuchzipfel, der aus der Brusttasche hing, und ein Paar rothe lederne Morgenschuhe. So friedfertig der Mann sich auch im Augenblicke beschäftigte, so hatte ich doch das Gefühl, dass es für eine fernere erfreuliche Entwickelung der Dinge günstiger sei, wenn ich mich zur Zeit noch nicht sehen liesse, und benutzte einen Augenblick, da er mir den Rücken wendete, um in das Haus zurückzukehren.


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