Heinrich Seidel
Die goldene Zeit
Heinrich Seidel

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VI. Keine von Allen.

Im Hause fanden sie Niemand vor, und ehe es sich Dannenberg versah, war ihm auch Lene entwischt und nicht wieder aufzufinden. Der Abend war so still und schön und warm, dass er beschloss, in's Freie zurückzukehren. Er ging durch den Obst- und Gemüsegarten, bis zu dem Park, der auf einem kleinen, die Gegend beherrschenden Hügel angelegt war. Man konnte von hier aus fast das ganze Gut übersehen. An verschiedenen Punkten hatte Brüning erhöhte Sitze anbringen lassen, von welchen aus er, über die geschorene Hecke der Einfassung hinweg, seine Feldarbeiter beobachten konnte; denn er war etwas wohlbeleibt und bequem und machte sich, zumal an heissen Sommertagen, nicht gern viel Bewegung. Als Dannenberg durch den Park dahinschlenderte, kam er an einen dieser Sitze, der, vom rothen Golde der sinkenden Sonne angestrahlt, wohl zum Träumen und Spintisiren einlud, und dort liess er sich nieder. Er blickte hinweg über die dunklen Ackerfelder, die frischen Saaten und die rothbraunen Wälder. Fern in dem breiten, dämmernden Wiesengrunde ging die Warnow einher, zuweilen ein mattes Silberlicht aus dem Grün sendend, und noch ferner ragten, in einen feinen, blassen Dunst gehüllt, die Thürme von Rostock aus der Thalsenkung hervor. Seine Blicke wanderten aber immer wieder dorthin, wo im letzten Abendscheine leuchtendes Saatengrün sich in eine rothbraune Bucht des Buchenwaldes erstreckte, und wieder wiegte es sich im Walzertacte ihm durch den Sinn: »O schöne Ju-u-gend, schö-ö-ne Ju-u-gend.«

Aber die Sonne sank tiefer, das helle Grün der Saaten dämpfte sich und nahm einen dunstigen, bleiernen Ton an, und bald lag nur noch in den herbstlichen Wipfeln des Buchenwaldes ein Widerschein des Abendrothes, das allmählig verglomm. Nun kroch aus den finsteren Schatten der Bäume die Dämmerung heran und verschlang eine Farbe nach der anderen, während, von dem noch hellen Himmel scharf sich abhebend, viele Krähen, einzeln und geschäftsmässig, wie Arbeiter, die Abends von der Fabrik nach Hause gehen, dem Walde zuflogen.

Die Dunkelheit hatte sich rings verbreitet und auch Dannenberg ganz in den Schatten der Bäume eingehüllt; es war kühler geworden, in den Wiesengründen dampfte der Nebel, und doch sass er noch immer dort und träumte und fühlte sich mitten im Herbst von dem Veilchenduft der Jugend angeweht. »O schöne Ju-u-gend, schö-ö-ne Ju-u-gend,« so ging es noch immerzu nach der Melodie des Walzers durch seinen Sinn. Da hörte er leise Stimmen und Schritte auf dem wenig begangenen Fusspfade, der an der Hecke entlang dem Dorfe zuführte. Derselbe war ein sogenannter Kirchsteig und wurde, ausser beim Kirchenbesuche, wenig benutzt. Die Schritte kamen näher, und mit einem Male durchzuckte es Dannenberg, wie ein Schlag, denn die Stimme kannte er: es war Lene, die da sprach, und er verstand, was sie sagte, obwohl er die Personen nicht sehen konnte. Sie standen im Schatten eines grossen Baumes, der seine niederen Aeste, über die Hecke hinweg, weit in das Feld streckte. Er hörte Lene sagen:

»Heute Morgen, als Papa beim Frühstück sagte, Du seiest mitgekommen, da bekam ich einen solchen Schreck, dass ich ganz roth wurde und nur schnell meine Serviette fallen liess, damit Niemand etwas merken sollte.«

Darauf entstand eine kleine Pause, offenbar durch einen Kuss ausgefüllt, und dann liess sich eine männliche Stimme von angenehmem Klange vernehmen:

»Liebe Lene, die Heimlichkeit missfällt mir eigentlich recht sehr.«

»Aber Gustav,« antwortete das Mädchen, »erst neulich, als die Verlobung des jungen Brennecke bekannt wurde, der eben ausstudirt hat, da hat Papa so gescholten über die jungen Leute, die sich binden, ehe sie die Gewissheit haben, dass sie auch ihr Fortkommen finden, und hat das Sprichwort gebraucht: »Ierst 'ne Parr un denn ne Quarr!« Ich glaube, er wird furchtbar böse, wenn Du jetzt damit kommst. Und obgleich ich doch gar nicht mehr so jung bin, behandelt er mich immer noch, wie ein Kind, und ich bin doch schon sechzehn Jahre und sieben Wochen alt. Ich glaube ganz gewiss, er lacht mich aus und schenkt mir eine neue Puppe, damit ich auf andere Gedanken komme, denn so was sieht ihm ähnlich.«

Der Candidat lachte ein wenig und sagte: »Nun gut, bis nach dem Examen will ich warten; es ist vielleicht besser so.«

»Wie lange dauert's noch?« fragte Lene rasch.

»In einem halben Jahre denke ich durch zu sein,« war die Antwort.

»Dann ist es wieder Frühling,« sagte Lene, »und gerade ein Jahr her, seit wir zusammen die Veilchen pflückten. Weisst Du noch?«

Darauf entstand wieder eine verdächtige Pause, in welcher Platz war für mehrere Küsse, und dann sprach wieder der Candidat.

»Und noch etwas kann ich Dir mittheilen, was mir mein Vater heute gesagt hat. Das Podagra setzt ihm arg zu, und er verrichtet alle seine Amtsgeschäfte ›in tormentis‹, wie er sagt. Da denkt er denn, so bald es meinetwegen angeht, sich emeritiren zu lassen und glaubt sicher, dass die Bauern mich wählen und dass auch Dein Vater, als Patron, mir seine Stimme geben wird.«

»Ach, das wäre ja wunderschön!« rief Lene ganz entzückt, und man hörte, wie sie auf ihren leichten Füssen ein wenig hüpfte, wie es ihrem ehrwürdigen Alter und einer zukünftigen Frau Pastorin eigentlich gar nicht zukam. Dann, nach einer Weile, entfernten sich die Schritte wieder in der Richtung nach dem Hofe zu, und die leisen Stimmen verklangen in der Ferne.

Dannenberg hatte sich in seinem dunklen Baumschatten mäuschenstill verhalten und sass noch lange Zeit regungslos, während hoch über ihm die Stimmen nächtlich wandernder Vögel erklangen, welche nach Süden zogen. Die Dunkelheit nahm noch immer zu, und aus dem Nebel der Wiesen stieg die Kühle der Nacht empor, sodass er zusammenschauernd aufstand und langsam sinnend dem Hause zuwanderte.

»Du alter Träumer,« dachte er; »die Wunderblume blüht nicht mehr für dich, es hat sie schon ein junger Geselle an seinen Hut gesteckt. Geh' nur wieder nach Hause und treibe deinen Göpel, wie die Butterliese.« Doch als er nun, mit zur Erde gewendetem Antlitz und zuweilen stehen bleibend, langsam durch den dunklen Garten weiter schritt, kam ihm ein anderer Gedanke, der ihm plötzlich das Haupt aufrichtete und seine Schritte elastisch machte, und so ging er schneller, indess seine Füsse durch das welke Herbstlaub streiften, dem Hause zu.

Zum Abend war der junge Candidat eingeladen; der alte Pastor ging seines Leidens wegen nicht mehr in Gesellschaft, und seine Frau pflegte dann bei ihm zu bleiben. An solchen stillen Sonntag-Abenden las der Alte ihr vor aus seinen Lieblings-Schriftstellern, Cervantes, Walter Scott, Cooper und Dickens, während die Frau Pastorin in einem dunklen Winkel auf dem Lehnstuhle sass und strickte, wobei die alte Dame regelmässig einschlief. In dem Moment aber, wo ihr Mann aufhörte, zu lesen, erwachte sie sofort, die Stricknadeln, setzten sich wieder in Bewegung, und sie sagte ein- wie allemal: »Sehr schön, Gottlieb, sehr schön!« Dieses Verfahren hatte den Vortheil für sie, dass, wenn sie einmal wirklich zuhörte, es in den so oft schon vorgelesenen Büchern immer noch Stellen gab, welche ihr neu waren.

Der junge Candidat machte auf Dannenberg einen sehr angenehmen Eindruck; er hatte ein frisches und natürliches Benehmen und war ganz frei von jenem gemessenen und salbungsvollen Wesen, welches Andere seiner Art, im Hinblick auf den zukünftigen Beruf, schon früh glauben annehmen zu müssen, obgleich junge Leute, die noch im Anfange der Zwanziger stehen, wohl nichts schlechter kleidet.

Man setzte sich fröhlich zum Abendessen, und alsbald entspannen sich zwischen den Mädchen und dem jungen angehenden Geistlichen jene kleinen Neckereien, zu welchen eine in engem Kreise gemeinsam verlebte Kindheit und Jugend so vielerlei Veranlassung zu geben pflegt. Dannenberg, als Eingeweihter, beobachtete das Pärchen genauer und sah nun, was kein Anderer bemerkte, alle die kleinen, zierlichen Zeichen des Einverständnisses, welche zwischen den Beiden hin- und herflogen, wie bei Handreichungen die Finger sich unter dem Teller begegneten, in Momenten, wo sie sich unbeachtet glaubten, die Augen flüchtig in einander ruhten, und was dergleichen verliebte Scherze mehr waren. Aber er dachte: »Wartet, ich will euch schon kriegen!« Und als die Mahlzeit sich dem Ende näherte, klopfte er plötzlich an sein Glas, stand auf und begann folgende Rede:

»Lieber Brüning, bevor ich dies gastliche Haus verlasse . . . .« »Na, was sind das für Neuerungen!« rief der Angeredete dazwischen, aber der Doktor fuhr unbeirrt fort: »Bevor ich dies gastliche Haus verlasse, in welchem Du sowohl, als Deine drei anmuthigen Töchter wetteifernd bestrebt waren, in das Leben eines alternden Mannes . . . .« »Hoho!« unterbrach ihn Brüning . . . »die angenehmsten Rosen der Erinnerung zu flechten, bevor ich mich also zu diesem schweren Schritt entschliesse, muss ich gestehen, dass ich in meiner grossen Unbescheidenheit so weit gehe, durch Alles dies noch nicht befriedigt zu sein, sondern in der mir angeborenen hässlichen Eigenschaft nie zu stillender Habgier möchte ich mir ausserdem noch ein köstliches Gastgeschenk erbitten. Mein lieber und alter Freund Brüning, Du hast drei anmuthige Töchter, vergleichbar jenen drei Rosen an einem Zweige, welche ein sinniges Gemüth und eine freundliche Hand mir am Abend meiner Ankunft in das Schlafzimmer gestellt hat.«

Hier wurden die Gesichter der drei Schwestern von einer zarten Röthe durchblümt, dass sie drei Rosen noch ähnlicher wurden, und alle schauten mit grosser Spannung auf den Redner. Dieser aber fuhr fort: »Es ist nun Jemand gekommen, der eine dieser drei lieblichen Rosen pflücken möchte, um sie an seiner Brust zu hegen und zu pflegen, so lange ein gütiger Gott ihm Leben und Gesundheit schenkt, ein Mann, der Dir seit lange bekannt ist, und den Du schätzest und liebst, wie ich alle Ursache habe, zu glauben.« Hier machte der Doctor eine kleine Pause und räusperte sich, während alle Augen starr auf ihn gerichtet waren und es so still war, dass man das Knistern der Mieder hören konnte, die von drei jungen Busen bewegt wurden. Dann sprach er weiter: »Seltsamer Weise nun hat es dieser Jemand nicht abgesehen auf die voll erblühte Rose, welche dieses Haus mit dem Dufte wirtschaftlichen Ruhmes erfüllt; auch die zweite begehrt er nicht, welche, halb erschlossen, anmuthig in die Welt schaut, – nein, die Knospe hat es ihm angethan, die soeben erst lieblich dein Lichte sich öffnet. – Da nun die Sache Ernst wird, will ich alle verblümten Redensarten bei Seite lassen und mit klaren, männlichen Worten Dir meinen Wunsch vortragen. Mein lieber und alter Freund Brüning, Genosse meiner Jugend, ich bitte Dich, nach reiflicher Ueberlegung, um die Hand Deiner Tochter Lene . . .«

Hier machte der Doctor, gleichsam von Rührung bewältigt, eine kleine Pause, während rings Alle in einer Art von Erstarrung dasassen. Lene war blass, wie eine jener Rosen, die man auf Gräber pflanzt; der Candidat sah ebenfalls ungemein kalkig aus, und Brüning war wortlos vor Verblüffung. Nachdem der Doctor mit Befriedigung sich von der Wirkung seiner Rede überzeugt hatte, fuhr er mit gehobener Stimme fort: »Ich bitte Dich um die Hand Deiner Tochter Lene für den Candidaten Gustav Brömel, einzigen Sohn seiner Hochehrwürden, des Pastors Gottlieb Brömel, und seiner Ehefrau Karoline, geborenen Peters.«

Es steht fest, dass im ganzen Verlaufe des historischen Zeitalters, und noch darüber hinaus, nur wenige Reden in Hinsicht der »Wirkung auf die Zuhörer mit dieser verglichen werden können. Lene und der Candidat, welche soeben noch zwei blutlosen Geschöpfen geglichen hatten, erglühten plötzlich, wie zwei Purpuräpfel, da nun alle Augen fragend auf sie gerichtet waren, besonders diejenigen der überraschten Schwestern, während Brüning, an seinem und seines Freundes Verstande zweifelnd, rathlos von Einem zum Anderen blickte. Der Doctor, nachdem er sich genügend an diesem Anblicke geweidet hatte, fuhr fort:

»Dies also, lieber Brüning, erbitte ich mir als Gastgeschenk! Die jungen Leute haben mich in ihr Vertrauen gezogen, zwar ohne es zu wissen und zu wollen, aber das hat mich nicht gehindert, ihre Sache zu der meinen zu machen. Darum, theuerster Otto, sei kein Tyrann, vermehre nicht die unbeliebte Schar der widerspenstigen Väter, die uns aus vielen Geschichten und Theaterstücken genugsam bekannt sind und, trotz übermenschlicher Borstigkeit, doch in den allermeisten Fällen im Schlussakt oder im letzten Kapitel unter allgemeiner Rührung klein beigeben müssen! Sei kein Unmensch, sondern ein milder Vater und sage es gleich, das richtige Wort, mit vibrirender Stimme und eine Thräne im linken Auge zerdrückend, das Wort, welches zwei junge Herzen mit jauchzendem Jubel erfüllt, das erlösende Wort, welches lautet: ›Na meinetwegen!‹«

Weildess hatten sich die jungen Leute von ihrem Schrecken erholt, besonders Lene, die des Vaters Liebling war und dies wusste. Sie zog ihren Gustav an der Hand hinter sich her und stand nun mit bittend erhobenen Händen vor dem Vater, so schön und demüthig, dass ihr nur ein Unmensch etwas hätte abschlagen können. Endlich polterte Brüning heraus: »So'n Gör! Ich weiss es gewiss, sie hat noch in diesem Jahre mit Puppen gespielt! Und so'n junger Mensch, der noch nicht mal sein Examen hinter sich hat!«

Hier fiel der Candidat ein: »Herr Brüning, glauben Sie mir . . . .«

»Ach was, glauben!« sagte Brüning. »Was ich glaube, ist dies, dass mein alter Freund Dannenberg einer der grössten Jesuiten auf Gottes Erdboden ist, und dass ich ihm nicht mehr um die Ecke herum traue! Und was nun diese Verloberei betrifft, so bin ich dagegen . . . Nur ruhig Kinder, nur ganz ruhig . . . . Immer ausreden lassen . . . . Aber zugleich bin ich klug genug, um einzusehen, dass mir das gar nichts helfen wird, aber auch gar nichts, – und darum, mein liebes, kleines Gör, mein Nestküken, und Du mein lieber Gustav . . . . Na, meinetwegen!« schoss er plötzlich hervor, wendete sich ab und fing richtig an, ein wenig mit der Hand an den Augen zu wischen.

Als nun auch die beiden Schwestern herzutraten und sich um den guten Familienvater ein Knäuel bildete, in welchem heftig geküsst, gelacht und geschluchzt wurde, da bemächtigte Dannenberg sich des Kellerschlüssels und eines Lichtes und wischte heimlich davon in den Keller, da ihm dieses Ortes Gelegenheit sehr wohl bekannt war; und als er nach einer Weile, in jeder Hand eine Champagnerflasche, wieder in die Thüre trat, da war nichts, als eitel Freude und Wohlgefallen, was er vorfand. Kaum erblickte ihn Lene, als sie auf ihn zuflog, beide schönen Arme um seinen Nacken schlang und ihm den blühenden Mund zum Kusse darbot, und so pflückte Dannenberg von diesen schwellenden Lippen als einzigen Lohn die Blume der Entsagung.

Dieser Abend nahm nun ein sehr lustiges Ende, sodass Dannenberg später als gewöhnlich auf sein Zimmer kam. Als er nun wieder den Rosenzweig betrachtete, war es mit seiner Pracht ganz vorbei, denn auch die zweite Rose hatte ihre Blätter fallen lassen, und die dritte war vor dem völligen Aufblühen verwelkt, und hatte das Haupt gesenkt. Dannenberg sass noch eine Weile sinnend und liess die Ereignisse des Tages an seinem Geiste vorüberziehen. »Es war doch am besten so,« sagte er dann plötzlich mitten aus seinen Gedanken heraus, ging eilfertig zu Bette und schlief den Schlaf des Gerechten.


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