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36.

Und wieder war ein Jahr hin, und Tom war Unterprimaner.

In diesem Jahr nahm Onkel Anton ihn für die Zeit der großen Ferien mit auf eine Reise nach Norwegen. Sie waren zum Nordkap hinaufgefahren, hatten sich dann im Hochgebirge aufgehalten und waren dann an der Küste entlang nach Bergen gefahren, wo sie den Rest der Ferien zu verbringen gedachten.

Hier erhielten sie aber von Eugen ein Telegramm des Inhaltes, Mama sei bedenklich erkrankt, sie möchten unverzüglich kommen. Darauf waren sie mit der Bahn nach Christiania gefahren, hatten am Tage darauf den Postdampfer nach Stettin genommen und waren am dritten Tage zu Hause angelangt.

Sie trafen im Vorzimmer zu Mamas Schlafgemach Toms Vater an, der, als er sich mit ihnen begrüßte, sich abwandte und in ein lautes Weinen ausbrach. Im tiefsten überrascht und erschüttert, sah Tom diesen mächtigen, vom Schluchzen zuckenden Rücken. Noch nie hatte er Vater jemals in einer Gemütserschütterung oder gar weinend gesehen.

Eugen aber, der jetzt aus dem Schlafzimmer heraustrat, teilte ihnen mit, daß, wenn sie zwei Stunden eher eingetroffen wären, sie Mama noch lebend angetroffen haben würden.

Er führte sie hinein.

Kaum vor einer Stunde gestorben, lag die Tote noch da, wie der Todeskampf sie überwältigt hatte. Die kleine Gestalt war erschreckend abgemagert. Der nackte Hals wirkte übermäßig lang und preßte den Schlund empor, der Kopf war hintüber in die Kissen gedrückt. Es war zu erkennen, wie schwer ihr bis Zum letzten Augenblick reger Geist mit dem Tode gerungen haben mußte. Es war für Tom ein furchtbarer Eindruck. Er erinnerte sich mit einemmal jenes Lenauschen Gedichtes von dem Begräbnis des »armen Bettelweibes«, dessen erste Strophen sie in ihrem Buch mit Bleistift angestrichen hatte, und die er damals als Kind gelesen und auswendig gekonnt hatte. Von einem bitterlichen Weinen überwältigt, barg er das Gesicht in die Hände und wandte sich ab.

Großmama hatte, wie sie von Eugen erfahren, an einem gastrischen Fieber darniedergelegen, dem sie dann auch erlegen war. Sie war eine recht schwierige, peinigend unruhige Patientin gewesen. Aber Mutter hatte sich mit der Krankenschwester in die Pflege geteilt und sie mit all der Geduld, Umsicht und guten Nervenkraft, die ihr eigentümlich war, gewartet. Großmama hatte sie auch sehr gern in ihrer Nähe gehabt, und nur Mutter war es gewesen, die sie wirklich zu beruhigen vermocht hatte.

Später erhielt Tom noch ein Schächtelchen ausgehändigt. Als er es öffnete, fand er drin Großmamas Diamantring und ein Zettelchen, auf dem mit zittrigen Buchstaben geschrieben stand: »Am kleinen Finger wenigstens wird er dir passen, mein Tom, und du vergißt dann nie deinen kleinen Finger und deine alte Großmama, die dich sehr, sehr lieb gehabt hat.« Großmama hatte noch zwei Tage vor ihrem Tode darauf bestanden, Tom den Ring selbst in das Schächtelchen zu tun und die Zeilen zu schreiben. Mutter hatte ihr dabei die Hand führen müssen.

Da der Ring viel zu kostbar war, als daß Tom ihn sich immer zu tragen getraut hätte – außerdem war es eine Eigenheit von ihm, daß er keinen Ring an der Hand litt –, da er zugleich aber Großmamas Andenken ehren wollte, so bat er Vater, ihm einen schlichten Ring anfertigen zu lassen, den er dann beständig, für den Diamantring, den er sorgsam bewahrte, am kleinen Finger der linken Hand trug.

Anderthalb Jahre darauf bestand er seine Maturitätsprüfung. Mit Nummer »Eins« und unter Dispensierung vom Mündlichen. Dieser schöne Erfolg wurde nur von dem Gedanken getrübt, wie sehr es Großmamas Lieblingswunsch gewesen wäre, ihn noch zu erleben.

In den letzten Jahren war Tom die Schule verleidet gewesen. Er hatte sich so weit über den Schulplan und ein gewisses geistiges Durchschnittsniveau hinausgefühlt, das zu überragen verpönt war. Mit innerer Belustigung erinnerte er sich jetzt, wo er endlich frei und im Begriff war, zur Universität zu gehen und ins Leben einzutreten, wie ihm sein Lehrer im Deutschen einmal gelegentlich eines Aufsatzes die Bemerkung unter die Arbeit geschrieben hatte: »Körber muß sich vor altklugen und allzu originellen Urteilen hüten. Er sollte es vermeiden, über Dinge zu urteilen, denen seine Intelligenz unmöglich schon gewachsen sein kann.«

Einige Wochen nach dem Examen hatten ihn Onkel Anton dann gelegentlich nach seinen Absichten für die Zukunft gefragt.

»Was ich studieren will?« hatte Tom geantwortet.

»Eigentlich wollte ich gerade jetzt anfangen, darüber nachzudenken. Medizin? Die studiert ja Karl schon.« – Detlev, der, wie Vater, Architekt und Baumeister werden wollte, besuchte in Hannover das Polytechnikum. – »Philologie ist ausgeschlossen. Bleibt also ja doch wohl nur noch Jura übrig.«

»Die Hauptsache, daß du Neigung dazu hast, Tom«, suchte Onkel Anton ihm noch ein wenig auf den Zahn zu fühlen. »Aber möchtest du nicht die Dozentenkarriere einschlagen?«

»Ich weiß nicht. Nein! – Ich glaube, ich habe kein Sitzfleisch dazu. Ich kann mir eigentlich nicht recht vorstellen, daß ich Professor werden könnte. – Ich weiß nicht: aber eigentlich hab' ich zu Jura wirklich Lust. Man bleibt ja doch eigentlich immer in einer unmittelbaren Beziehung zum Leben, zur Praxis, zum Menschen dabei. – Auch rein psychologisch ist es sehr interessant. Man kann ja auch, geht's Glück gut, in die höhere Beamtenkarriere, womöglich in die Politik hineinkommen. Das könnte mir wohl gefallen. – Großmama hat ja übrigens Verwandte in Berlin; Minister Harbing mit seinen gewiß besten Verbindungen. Denn unbedingt geh' ich nach Berlin. Mit dem ›Couleurwesen‹ an irgend so einer süd- oder mitteldeutschen Universität gedenk' ich mich nicht weiter aufzuhalten.«

»Na, du hast nicht unrecht, mein Junge«, schloß Onkel Anton, nicht ganz unbefriedigt, das Gespräch ab. »Jura in diesem Sinne wäre ja gar nicht übel.«

Zwei Monate nach diesem Gespräch reiste Tom nach Berlin, um sich immatrikulieren zu lassen. Vor der Abreise aber hatte er noch ein Gespräch mit Mutter.

Es war gegen Mittag. Langsam trat er in das Wohnzimmer ein. Doch er begab sich noch nicht sogleich zu Mutter hin. Sie saß drüben an dem einen Fenster nach der Zimmerecke zu. Sie hatte sich im neuen Hause diesen Sitz zu ihrem Lieblingsplatz erwählt. Sie hatte hier ihren geflochtenen, weiß und blau gestrichenen Lehnstuhl, das altgewohnte Fußbänkchen und das Arbeitstischchen stehen, und in der Fensternische hing zutraulich auch das alte Neuruppiner Bildchen.

Da er absichtlich – die Tür hatte offengestanden – möglichst geräuschlos eingetreten war, so hatte Mutter ihn über ihrer Arbeit nicht gleich kommen hören. Doch war es nicht bloß so das Bedürfnis gewesen, Mutter noch einmal da auf ihrem Lieblingsplatz sitzen zu sehen, was ihn zögern ließ, gleich zu ihr hinzugehen, sondern ein wunderliches kleines Gefühl von Bangigkeit. Denn er hatte für ihre instinktiven Urteile ein fast abergläubisches Zutrauen und gedachte sich und sein innerstes Wesen in dem Augenblick, wo er den Fuß über die Schwelle des Lebens setzte, auf die Probe von Mutters Gefühl zu stellen.

»Stör' ich dich, Mama?« sagte er, endlich zu ihr hintretend. »Ich möchte dir Lebewohl sagen.«

Mutter, die von ihrer Arbeit aufblickte, sah, von seiner plötzlichen Anwesenheit überrascht, mit noch von der Arbeit ein wenig angestrengten Augen zu ihm auf.

»Ach, du bist's, Tom! – Du willst also fort.«

»Ja, Mama! Zum mindesten vorläufig auf ein halbes Jahr. – Vielleicht aber für noch länger.«

»Na, wie denn? Du wirst doch, wie Detlev und Karl, für die Ferien ordentlich nach Haus kommen? Kannst ja dann wieder mal mit Onkel Anton eine Reise machen.«

»Ja, Mama. – Aber ich weiß nicht: vielleicht hab' ich auch in den Ferien noch in Berlin zu tun.«

»Na, wirst schon kommen. – Du hast doch alles? Hab' ich vielleicht was vergessen? Aber ich dächte, ich hätte an alles gedacht?«

»Freilich«, lachte Tom. »Nein, ich komme nicht deshalb. – Nur so.«

»Ach so. – Na ja.«

Ein kleiner Schatten von Zerstreutheit ging über ihre Stirn, mechanisch machte sie eine Bewegung, als wollte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Dann aber besann sie sich, daß Tom ja noch mal Lebewohl sagen wollte, und sah ihn, doch mehr der Sache stillhaltend, damit sie so schnell wie möglich abgetan würde, an.

»Na, dann laß dir's gut gehen, Jung'«, lachte sie und hielt ihm die Hand hin. »Er hat ja doch schon Abschied genommen, Detlev und Karl machen nicht so viel Geschichten, wenn sie abreisen«, dachte sie.

Tom ergriff ihre Hand und hielt sie.

»Ich danke dir, Ma'!« Fast ohne es zu wollen, redete er sie in diesem Augenblick an, wie er es als Kind gewohnt gewesen war. »Aber – eigentlich sollst du mir noch was sagen.« Um die innere Spannung zu beherrschen, mit der er es hatte, lachte er munter.

»Na, was soll ich dir sagen, Jung'?« fragte sie, freundlich lachend, aber seinen Blick doch nicht recht orientiert und vielleicht ein wenig pressiert, erwidernd. »Na, was er schon für brave Augen hat!« dachte sie im stillen.

»Was meinst du, Ma' ... Was meinst du, sag', was nun mal so aus mir werden wird?«

Er war rot bis in die Haare hinein.

»Nanu, du bist und bleibst ein närrischer Kerl! Wie soll ich das wissen? Ich denke, du mußt mit dir selber doch am besten Bescheid wissen?«

Zufällig fiel ihr Blick für einen Moment auf seine Hand. Ihr Lächeln verschwand und gab einem ernsten, nachdenklichen Ausdruck Raum. Sie hatte an Toms kleinem Finger den Ring bemerkt.

»Nein, aber trotzdem! Sag' mir das doch, Ma'! Bitte, sag' mir's, ich möcht' es so gern wissen. – Ich meine, du sollst sagen, was du für ein Gefühl in dieser Beziehung hast.«

Er lachte, aber im stillen schlug ihm das Herz. Er hatte die Empfindung, glaubte, daß Mutter ihm, wie sie ihn jetzt ansah, durch und durch bis in die tiefste Seele sähe, und mit Andacht und nicht ohne ein wunderliches, leises Bangen bot er sich ihrem Blick dar. Mutter jedoch langweilte die Sache, sie fand sie etwas komisch und verdreht, da sie merkte, daß der »närrische Junge« sie wirklich ernst nahm. Dann aber sagte sie, im Grunde nur, um ihn endlich mit seiner Fragerei loszuwerden:

»Na, du wirst ja etwas Tüchtiges werden, Tom, denk' ich. – Aber nimm dich nur hübsch in acht, daß du auf keine närrischen Einfälle kommst.«


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