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3.

Gleich von Anfang an hatte die Frau Kommerzienrat gerade für dies Kind also eine besondere Vorliebe gefaßt.

Doch überließ sie es vorderhand noch ganz seiner Mutter, ohne sich für diesen Fall, wie es sonst wohl ihre Gewohnheit war, in deren Angelegenheiten hineinzumischen.

»Alles was recht ist«, äußerte sie gelegentlich zu ihren vertrauteren Freundinnen mit bezug auf Lise, »aber das muß man ihr lassen: So in einem gewissen animalischeren Sinne ist sie ja die ausgezeichnetste Mutter, die man sich vorstellen kann. – Man darf das rein physische Verhältnis des Kindes zur Mutter, und zu einer so gesunden Mutter, doch nicht stören. Es ist ganz gewiß die ganz unerläßliche Grundlage für die spätere, feinere Erziehung. Und, lieber Gott, es ist ja doch noch so etwas ganz anderes als eine noch so gesunde Amme! – Ende des zweiten, im dritten Jahre kann man dann ja aber schon anfangen einzugreifen. Das wird bei diesem Kinde nicht zu früh sein. Denn dieses Kind hab' ich mir unbedingt vorbehalten, keine Macht der Welt soll es mir entziehen«, hatte sie in ihrer leidenschaftlichen Weise hinzugefügt.

Zunächst blieb der kleine Tom also Lise überlassen.

Für Lise war dieses erste Mutterglück, das ja noch so ganz tiefes organisches Verwachsensein und nur erst leise Loslösung, in Wahrheit wohl das einzige und schönste ihres Lebens. Und sie gab sich ihm hin nicht nur mit der Lust einer gesunden Hunde- oder Katzenmutter, sondern zugleich mit der ganzen umsichtigen Verständigkeit und Solidheit ihres Wesens. Auch die unleugbare, seltsame Harbingsche Familienähnlichkeit, die, je mehr der Kleine sich entwickelte, immer unverkennbarer zutage trat, vermochte, trotz des gespannten Verhältnisses, das zwischen Lise und ihrer Schwiegermutter herrschte, dies Glück nicht zu stören. Wenn sie's aber wirklich mal mit einem etwas kühler nachdenklichen Augenblick hatte, der so etwas wie eine Fremdheit zwischen sie und das Kind setzen wollte, bat sie dies dem »kleinen Tierchen« nur mit um so wärmerer und hingehenderer Fürsorge wieder ab.

Im übrigen war sie aber nichts so wenig als eine Mutter, die unter ihren Kindern »Lieblingskinder« und weniger bevorzugte kannte; dazu war ihr ein zu gesund eigenständiger, naturtriebhaft naiv bestimmter Egoismus und zuwenig Sentimentalität eigen. Sonst aber war der kleine Tom so gesund, kräftig und wohlgeraten wie nur eins ihrer beiden ersten, so daß man an ihm nur seine Freude haben konnte.

Alle zwei Stunden täglich bekam der Kleine ihre gesunde, ausgiebige Brust. Und nicht allein er, sondern sogar für gewöhnlich auch noch mal Detlevchen und Karlchen.

Besonders der kleine, dicke Kerl, das Detlevchen, war, obgleich nun schon zwei Jahre alt, noch so daran gewöhnt, daß er ungebärdig wurde, wenn Mutter ihn mal nicht wollte oder vergessen hatte; und Lise ließ es dann angehen, weil sie's schließlich doch nicht fertig brachte, es ihm zu versagen, und sie wohl auch der Ansicht war, daß es den Kindern dienlich sei, wenn sie, gestatteten es sonst die Umstände – und sie gestatteten es –, so lange wie möglich die Brust bekamen. Sie hatte Detlevchen darum nur angehalten, sich, weil er vom Fußboden aus noch nicht heranreichte und er doch schon zu groß und schwer war, um ihr auf dem Schoß zu liegen, die Hütsche heranzuholen und sich draufzustellen. Nun kam er jedesmal, die Hütsche mit seinen kräftigen Ärmchen gegen sich angedrückt, herbeigelaufen, stellte sich darauf und trank sich nach Herzenslust satt. Wenn er im Eifer aber mal nicht recht aufpaßte und Mutter mit seinen Zähnchen kniff, daß es ihr wehtat, dann schalt sie ihn wohl aus, versetzte ihm einen Klapps und sagte, daß sich so 'n großer Junge nun endlich doch mal bald abgewöhnen müßte, noch wie ein kleines Nuckelbaby Mutters Brust zu nehmen.

So sorgte sie für den kleinen Tom wie nur je für eins ihrer Kinder, und sie ließ sich's nicht nehmen, ihn eigenhändig zu baden, seine Wickelungen zu besorgen, auf seine kleinen Beschwerden zu achten und das Aufkeimen seiner ersten kleinen Lebensregungen zu unterstützen, und das Kind gedieh unter solcher Pflege zusehends heran.

Jeden Tag wurde er, wie's nur die Witterung gestattete, von dem Kindermädchen, dessen Fürsorge bei dieser Gelegenheit auch Detlevchen und Karlchen anvertraut wurden, unten im Hausgarten spazierengefahren.

Bei einer solchen Gelegenheit aber hatte das Tomchen zum erstenmal bei nun schon erschlossenerem Bewußtsein eine ihm noch ungewohnte Gestalt über sich gebeugt gesehen. Ein schwarzhaariges, bräunliches Gesicht mit schwarzen Augen und einer langen, feinen Nase, einem hellen, buntfunkelnden Blitz an einer kleinen, behutsamen Hand; eine Gestalt, die sich wunderlich dunkel gegen eine warme, lichte Flut von tiefem Blau, goldigem Sonnenlicht und eine zahllos leuchtende, wundersame Farbenpracht, lind und wonnig schaukelndem, lichtem Grün und goldig und bläulich webenden Flecken abhob, seltsam umtönt von einer leisen, feierlichen Musik.

Aber das Kind hatte sie mit aufgerissenen Augen angestarrt und dann laut zu weinen angefangen.

Das Kindermädchen hatte Mühe gehabt, es zu beruhigen, und ein klein wenig verstimmt hatte sich die alte Dame für diesmal wieder zurückgezogen und das Kind in Ruhe gelassen. Doch wie sie jetzt, was sie früher bei Detlevchen und Karlchen nur seltener getan, täglich, sobald die Kinder im Garten waren, sich zeigte, hatte Tomchen sich bald an ihren Anblick gewöhnt, sie angelacht und sogar mit seinen Fingerchen wißbegierig nach ihrem Gesicht und ihrer Nase gegrappst, die sie ihn, überglücklich, hatte haschen lassen. Gelegentlich war es dann zwar geschehen, daß sie den Kleinen noch einmal durch etwas zu heftige Liebkosungen erschreckt hatte, als sie sich dann hierin aber in acht nahm, mochte er sie wirklich ganz gern. Doch es geschah, daß das Kind zuweilen lange unverwandt mit einem ernsten, wie starr forschenden Gesichtchen sie ansah und sich darin auch nicht unterbrechen ließ, wenn sie mit ihm plauderte, schäkerte und ihn zum Lachen zu bringen suchte.

Die alte Dame interessierte sich dann für dies Verhalten und beobachtete es mit einem glücklichen, stolzen, aufmerkenden Lächeln. Denn da Tomchen dabei gebärdig blieb und auch nicht zu weinen anfing, war sein Verhalten sicher, wie sie sich sagte, das Anzeichen einer früh erwachenden Intelligenz, werdender Eigenständigkeit und Beobachtungsgabe. Überhaupt glaubte sie, freilich gemäß ihrer zum Phantastischen und wohl gar Mystischen neigenden Art, viele solcher besonderen Wahrnehmungen an dem Kinde zu machen.

Das immer häufigere Zusammentreffen mit der Großmutter, das sich allerdings meist auf diese vormittäglichen Gartenstunden beschränkte, da die alte Dame nur selten hinter ins Gartenhaus kam, wurde für das Kind bald eine ganz neue, besondere Welt und ein eigenartiges erstes Erleben.

Oft geschah es, daß die Großmutter es aus seinem Wagen auf den Arm nahm und mit ihm langsam, die Wange lind an sein Gesichtchen geschmiegt, liebkosende Worte an ihm hinhauchend und auch wohl allerlei stille, melancholische Selbstgespräche führend, die Gartenwege zwischen den hohen, alten Buchsbaumeinfassungen dahinschritt. Manchmal summte sie auch ein Liedchen. Aber das waren dann andere als die munteren Suseliedchen, mit denen seine Mutter das Kind in Schlaf sang. Sie waren so leis und still, mit einer feinen, wohltönenden Stimme gesungen. Und selbst wenn sie heiter waren, hatte ihre Lieblichkeit etwas Getragenes und Melancholisches. Und als Hintergrund für diese Liedchen bot sich dann die Umgebung dieses großen, alten, sommerlichen Gartens. Die stattliche, vornehm-stille, von einer Überfülle von Kletterrosen überwucherte Fassade des ernsten, altersgrauen Patrizierhauses; das klare, tiefe Himmelsblau oben; die sonnige, bienensummende Stille ringsum; die leuchtende Pracht der vielen Rosen und Sommerblumen, über welche bunte Schmetterlinge dahintaumelten mit ihren samtig leuchtenden Farben.

Das traumhafte Rauschen und Plätschern des großen Springbrunnens dazu, der von Aloe- und Musastauden umgeben mitten im Garten stand; die zarte, kleine, vornehme Gestalt im kaffeebraunen Seidenkleid, dessen Schleppe leise auf dem Kies des Gartenweges rauschte; das weiße, feine Spitzenkräuschen um den Hals; der funkelnde Diamantblitz an der kleinen, bleichen Hand, dieser kleinen Hand, die ihn niemals badete und besorgte, diese Brust, die ihn niemals säugte, diese zärtlichen Worte der vornehm mutierenden Stimme und ihre stillen Liedchen.

Und das alles senkte die Wunder seines tieferen Zusammenhanges mit Eindrücken und einem Raumgefühl in die kleine, erkeimende Seele, die niemals wieder so gelebt werden und zu verstehen sind, und doch irgendein heimlich tragender und bestimmender Untergrund späteren Schicksals und Erlebens bleiben.


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