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27.

Zwei Jahre waren seit jenem Verkehr mit Sibylle Maaß hingegangen. Tom war sechzehn Jahre alt und saß in der Untersekunda.

In dieser Zeit geschah es, daß sich in der Familie einige wichtige Veränderungen ereigneten. Der Kommerzienrat erlitt einen Schlaganfall, zog sich noch ein halbes Jahr hin, erlitt dann noch einen zweiten, an dem er kurz vor vollendetem 77. Lebensjahre verstarb.

Doch die Gattin blieb in dem großen, alten Haus nicht lange allein. Bald nach dem Begräbnis zog ihr ältester Sohn Eugen mit seiner Frau und seinen drei Kindern ein, der bislang eine Sägemühle und eine Zuckerfabrik geleitet hatte, die, im Havelgebiet gelegen, der Firma gehörten. Jetzt übernahm er nach dem Tode des alten Herrn deren Leitung. Er war ein kleiner, forscher, eleganter und weltmännischer, dunkelhaariger Herr Mitte der Vierziger, der Geselligkeit liebte, so daß bald Leben in das stille alte Haus kam.

Tom gewann zu Onkel Eugen, seinen Vettern und der Base keinen besonderen Anschluß. Er kam überhaupt, von einem regelmäßigeren Verkehr bei Großmama abgesehen, deren Freude und einziger Trost er jetzt erst recht geworden war, nur selten in das Vorderhaus; zumal sich seine Interessen und sein Umgang sehr erweitert hatten. Außerdem gedachte sein Vater in nächster Zeit umzuziehen. Die Familie war inzwischen auf zwölf Kinder angewachsen – es waren nachträglich zu den Jungens auch noch ein paar Mädchen hinzugekommen; Rosalie, die nachgerade mit zur Familie gehörte, hatte noch immer genug zu tun –, das Gartenhaus war zu eng geworden, und so hatte Karl Körber, da das Baugeschäft die Jahre her gut vorangekommen war, sich in der westlichen Vorstadt ein Gartengrundstück gekauft und eine Villa hineingebaut, die jetzt fertig war, so daß der Umzug stattfinden konnte.

»Tom wird nun wohl seine alte Großmama ganz vergessen, wenn er erst da draußen wohnt«, sagte Großmama eines Tages nicht ohne wehmütige Nachdenklichkeit zu Tom, als er kurz vor dem Umzug bei ihr war.

Sie hatte merklich gealtert. Ihr Haar, das damals bei Toms Geburt noch schwarz gewesen war, war grau geworden, auch ihre Bewegungen waren nicht mehr so rüstig und geschmeidig, und sie kränkelte hin und wieder.

»Man merkt es ihr doch an, daß sie nun vierundsiebzig Jahre hat«, dachte Tom, und der Gedanke stimmte ihn ernst, teilte ihm selbst etwas von der Wehmut mit, die sich in ihren Worten geäußert hatte. »Wer weiß, wie lange ich sie noch haben werde?«

»Oh, wie kannst du das sagen, Großmama!« sagte er und beugte sich, um seine feucht gewordenen Augen zu verbergen, auf ihre Hand nieder, auf die er einen zärtlichen Kuß drückte.

»Bist du noch mein guter Junge?« sagte sie, ein Lachen heller Freude in der Stimme, und ihre braunen Augen, die ihre geistige Regsamkeit bewahrt hatten, leuchteten, als sie Tom, der vor ihr stand, mehreremal sanft über den Kopf streichelte.

»Immer, Großmama!« erwiderte er.

»Nun, ›immer‹! Nun, ›immer‹!« wiederholte sie etwas sonderbar vor sich hin und wandte das Gesicht gegen das Fenster herum, wo sie in ihrem altgewohnten Sessel saß; und solcherweise abgewandt verharrte sie stumm eine Weile.

»Was meint sie damit?« dachte Tom. Aber er senkte unwillkürlich den Blick. Denn es fuhr ihm plötzlich durch den Sinn, wie er in all den letzten Jahren eigentlich mit Mutter vertrauter verkehrt hatte als mit Großmama; und er erschrak und gelangte, vielleicht zum ersten Male, zum vollen Bewußtsein, wie er selbst ein Älterer geworden war und sich verändert hatte.

»Wirklich«, dachte er, »alles hat sich fast umgekehrt. Ich habe mit Mutter vertraut, mit ihr mehr respektvoll verkehrt. – Fast sitzt sie da vor mir wie die Seele meiner Vergangenheit, wie meine Kindheit. – Wie lange werd' ich sie noch haben? Und wer weiß, was dann kommt?«

Es blieb ein Schweigen.

»Nein, Tom, was denn?« wandte sich Großmama plötzlich wieder zu ihm hin, mit einem Anflug ihrer alten, behaglich gutherzigen Munterkeit. »Das ist nicht anders und kann nicht anders sein. – Du sollst nicht denken, daß deine alte Großmama das nicht einsähe und daß sie der Ansicht wäre, du müßtest und könntest nur immer ihr, ihr alter, noch ganz kleiner Tom sein und bleiben. – Nein, sie hofft und erwartet rechtschaffene Dinge von dir. Ihr Tom soll ein rechter Kerl werden und hinein ins Leben und zeigen, wer er ist und was er kann. Und das ist die Hauptsache. – Für dich und – für mich. – Und immer habe ich vor allem diese Erwartung auf dich gesetzt, und gerade auf dich. – Sag', Tom, verstehst du das und wirst du Großmamas Zuversicht erfüllen?

Tom, wenn du nicht treu bliebest dem Treusten, wenn jemals das geschehen könnte, wenn du dich an diesen neuen, ›modernen‹ Geist des Zweifels mit seinen eitlen, gleißenden Verführungen und Hochmüten, seinen Blasphemien – Tom, die Blasphemie ist immer gemein, plebejisch, schlecht gewordene Rasse; Tom, was für Pfauenräder sie auch spreizen mag! –, ja, wenn du dich je an sie verlieren könntest – dann, Tom!« – sie hob mit einem Lächeln, über dem ihre Augen starr, streng, fast böse ihn anfunkelten, drohend den Zeigefinger – »kommt mein Geist aus dem Jenseits, und – glaube mir, daß er dich dann zausen wird! Ja, Tom, das tut er!«

Es blieb ein kleines Schweigen, unter welchem Tom noch immer diesen Blick Großmamas zu bestehen hatte.

»Aber sag' mal, mein Jung'«, fuhr sie dann mit verändertem Wesen fort. »Was möchtest du nun wohl mal so am liebsten werden? Vielleicht Offizier? Wie? – Du hast ja die Jahre her recht ausgelegt, bist ein stattlicher, strammer Bursch geworden, eigentlich schon jetzt militärreif; bist, wie ich erfahren habe, der beste Turner, kannst brav schwimmen, lernst jetzt reiten und fechten, hast auch schon tanzen gelernt«, setzte sie mit einem kleinen Humor hinzu. »Nun, möchtest du also? Wie?«

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, Großmama«, antwortete er. Er wollte ihr nicht sagen, daß er keine Neigung habe, Offizier zu werden.

»Oder Beamter, wie?«

»Ich weiß nicht?«

»Vielleicht Gelehrter?«

»Studieren werd' ich ja sicher, und die Naturwissenschaften interessieren mich eigentlich sehr«, ließ er sich, jetzt ernstlich in Verwirrung, vernehmen.

»Nun, gottbefohlen! Was red' ich da auch alles auf dich ein, mein Jung'!« Sie lachte munter und herzlich. »Was sollst du dir schon jetzt den Kopf darüber zerbrechen. – Aber geh, geh jetzt! Ich glaube, ich habe ein wenig Kopfdrücken und möchte mich etwas aufs Ohr legen. – Deine Großmama wird alt, Tom.«

Als Tom ihr aber die Hand gab, zog sie ihn zu sich her und hauchte ihm einen Kuß auf die Stirn, der ein paar Sekunden verweilte; und als sie dann aufblickte, gewahrte Tom in ihren Augen zwei lachende Tränchen.

Das war eine Woche vor dem Umzug gewesen.

Ernst und nachdenklich hatte Tom sich durch den alten Hausgarten, der still und sonnig in seinem Herbstflor stand, wieder ins Gartenhaus zurückbegeben. Hier aber hatte er Mutter aufgesucht, die im Wohnzimmer mit dem Abzählen der Wäsche beschäftigt war, hatte sich abseits still niedergelassen und ihr zugesehen.

Sie hatte nun auch zu altern angefangen, stand in ihrem sechsundvierzigsten Jahre. Rundlich war sie geworden, aber ihre gewohnte, gesund aufrechte, resolute Haltung war ihr geblieben. Doch zogen sich von den Nasenflügeln zwei Fältchen zum Mund herab, der etwas breiter und schmallippiger geworden war. Auch um ihre schönen klaren Augen waren kleine Fältchen gezogen, die da, wo sie in die Schläfen hineingingen, ihren guten Mutterwitz verrieten; und ihr Gesicht war ein wenig länger geworden, und eine Unterkehle hatte sie bekommen. Ihrem noch immer reichen, lichtblonden Haar aber, das sie nach wie vor in hübschen, neckischen Wellenlinien vom Mittelscheitel nach beiden Seiten gekämmt trug, merkte man noch kein Altern an. Obgleich sie vor kurzem ihrem Mann frühmorgens vorm Aufstehen ein langes weißes Haar hinübergereicht hatte.

»Da sieh, Mann!« hatte sie lachend zu Karl gesagt. »Das erste! Es werden wohl bald noch mehr kommen. Mit der Jugend hat es nun aufgehört.«

Karl hatte für ein paar Sekunden einen Blick auf das Haar getan, das ihm ihr prächtiger, noch immer voller weißer Arm hinhielt, und hatte in seiner Weise geschmunzelt, aber weiter nichts gesagt.

»›Die gerechtfertigte Mutter des Menschen‹«, dachte Tom, wie er so dasaß und sie beobachtete, indem er sich an das Wort eines großen Dichters erinnerte, das er kürzlich gelesen hatte. Kaum je hatte er mit solcher Entschiedenheit empfunden, wie gern er in Mutters Nähe weilte und welch gute Macht von ihr zu ihm überströmte, als in diesem Augenblicke. Denn das letzte Gespräch mit Großmama hatte ihn eigentlich mehr unruhig und traurig gestimmt.

»Als ob sie für immer von mir Abschied hätte nehmen wollen, so etwas seltsam Abschließendes war in ihrer Rede«, dachte er mit Bezug auf Großmama. »Als ob sie mit sich und mir hätte abschließen wollen.« Auch hatte es ihn ein wenig unruhig gemacht, daß Großmama sich immerhin nicht ohne eine gewisse Angelegenheit nach der Wahl seines Lebensberufes erkundigt hatte. »Mutter«, dachte er, »erkundigt und beunruhigt sich nie, was aus mir werden wird. Und doch weiß ich, daß das nichts weniger als Gleichgültigkeit von ihr ist. Ich weiß genau: Wenn sie irgend etwas in meinem Wesen nicht verstände, würde sie sofort unruhig werden; und es steht fest, daß ich dann was Gehöriges von ihr auszustehen haben würde. Nicht einen Augenblick würde sie mir Ruhe geben. – Es ist so was Herrliches an ihr, daß sie so ganz nach ihrer Fasson lebt. Ihr Winkel draußen in der Küche, beim Fenster! Das Neuruppiner Bildchen mit dem alten, abgeblätterten Goldrahmen! Aber sie läßt auch andere selig werden wie sie wollen und können. Wie sonderbar das doch ist, daß ich Großmama, die doch meine zweite, geistige Mutter ist, heute und nun schon seit Jahren nicht mehr die alte Vertraulichkeit entgegenbringe, daß ich eine Distanz zwischen ihr und mir empfinde – o Gott, und doch: wie hab' ich sie lieb, werd' ich sie stets, stets haben!–, während ich mich Mutter ganz vertrauen und ihr alles, alles sagen kann, das sagen und anvertrauen kann, was ja wohl wichtiger ist als aller geistiger Austausch.«

»Na, was ›philosophierst‹ du denn da wieder?«

Tom erschrak ein wenig, so ganz war er seinen Gedanken hingegeben. Aber dann lachte er.

»Nichts, Mama!«

Der Blick von Mutter und Sohn begegnete einander für ein paar Sekunden und ging ineinander ein. Plötzlich aber sprang Tom auf, eilte zu Mutter hin, umfaßte sie lachend und küßte sie, die sich, überrumpelt und vielleicht sogar ein wenig ärgerlich, in ihrer Arbeit gestört zu sein, sträubte, herzhaft.

»Ich dachte nur, daß ich dich lieb habe, Ma'!« sagte er.

»So! – Na, du närrischer Kerl!«

Auch sie lachte jetzt, und in dem Blick, mit dem sie ihn ansah, war ein kleines, stolzes, erfreutes Blitzen. Innerlich erwiderte sie jedoch nicht gerade in einer besonderen Weise. Denn nach wie vor stand ihr Tom nicht näher und nicht ferner als irgendein anderes von ihren Kindern; vielleicht eher sogar ein wenig ferner.


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