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24.

Gerade in dieser Zeit aber sollte noch ein anderes Erlebnis hinzukommen, die guten Mächte und Anlagen in Toms Wesen zu einem reicheren, entschiedeneren Auftrieb zu bringen.

Tom erlebte seine erste Liebe.

Und das war so gekommen. Ein halbes Jahr nach seiner Versetzung in die Untertertia hatte er einen Freund gewonnen, einen Klassenkameraden, der Klaus Wolfram hieß.

Klaus war, obgleich er noch in der Untertertia saß, zwei Jahre älter als Tom und stand in seinem fünfzehnten. Er war kleiner, untersetzter als Tom, hatte schlichtgescheiteltes, glattes, aschblondes Haar über einer breiten, eigensinnigen Stirn. Seine grauen Augen hatten für gewöhnlich einen ruhig skeptischen Ausdruck, in dem sich aber auch eine verhaltene Gutherzigkeit ausprägte. Im Innersten zur Sentimentalität geneigt, besaß er eine auf Zergliederung gestellte klare Verstandesanlage. In der Klasse hatte er wenig Anschluß, galt als Sonderling. Dem Schulplan gegenüber verhielt er sich gemäß seinem Eigensinn und seiner skeptischen Veranlagung ablehnend. Vermahnungen und Strafen, selbst empfindlichere, ließ er an sich abgleiten. An seinem sonstigen Betragen aber wußten seine Lehrer nichts auszusetzen. Doch in solcher Hinsicht verhielt sich's so, daß er überhaupt nicht da zu sein schien. Er galt für einen faulen Schüler, und wohl nicht mit Unrecht. Doch war er keineswegs unbegabt. Mit Hingabe und Erfolg pflegte er die Naturwissenschaften und verwandte auf sie ausdauernden Fleiß. Aber auch nach anderer Richtung besaß er eine ungewöhnliche Frühreife und eine Fähigkeit zu sachlichem Nachdenken und klarer Begriffsformulierung. Er war den Umständen nach ein guter psychologischer Beobachter, dachte auch in seiner Weise über religiöse Dinge nach, bekümmerte sich sogar um politische Fragen. Die Gabe aber, seine Gedanken auf eine klare Form zu bringen, verlieh ihm ein Selbstbewußtsein, das auf seine Mitschüler mit einer Art von gutmütig behaglichem Spott herabsah, und eine Sicherheit, die auch auf den jüngeren Tom ihre Wirkung getan hatte. Und so waren sie Freunde geworden.

Erst hatten sie nur auf gemeinsamen Spaziergängen und in der Schule ihren Gedankenaustausch gepflegt. Zuweilen hatte Tom Klaus auch auf dessen ausgedehnteren botanischen Wanderungen begleitet. Dann aber war ihre Freundschaft in ein Stadium gekommen, wo sie sich gegenseitig auch zu Hause besuchten. Auf Mutter, auch Vater, hatte Klaus sofort einen guten Eindruck gemacht, und besonders Mutter freute sich, daß Tom einen so herzhaften und verständigen Jungen zum Freund gewonnen hatte. Auch Großmama war mit ihm zufrieden gewesen, obgleich ihr sein skeptisches Wesen – innerlich freilich war Klaus der vornehmen alten Dame gegenüber sehr schüchtern – nicht recht zusagte. Dann hatte auch Tom Klaus besucht. Und es hatte ihm bei den Wolframs ganz ausnehmend gefallen.

Klausens Vater war Arzt und besaß in der westlichen Vorstadt eine Villa von schlichtem, aber einladend ländlichem Aussehen, die in einem großen, gutgepflegten Garten lag.

Auch Klausens Eltern hatten Tom sehr gefallen. Doktor Wolfram war ein robust untersetzter kleiner Herr anfangs der Fünfziger mit einem von Gesundheit und Frohsinn strotzenden Gesicht. Er trug eine goldene Brille und einen bequemen grauen Schoßrockanzug von etwas altmodischem Schnitt. Er verkehrte mit Klaus und dessen drei Brüdern und beiden Schwestern und jetzt auch mit Tom, den er dann ohne weiteres mit hinzurechnete, ganz wie ihresgleichen.

Daß Klaus in der Schule faul war, schlechte Zeugnisse mit nach Hause brachte, und zum zweitenmal sitzen geblieben war, schien ihm weiter nichts zu machen.

»Ein Faultier! Ein Ai!« hatte er gelegentlich mal mit bezug auf Klaus lachend ausgerufen. »Ein Ai! He? Das sich mit allen Vieren und zähen Krallen ein für allemal an den dürren Ast der Untertertia angeklammert hat! He? Wie, Tom?«

Tom hatte gelacht, obschon er sich über Doktor Wolframs Gleichmut gewundert hatte. Klaus aber hatte nur sein Lächeln gehabt.

»Nu? He, min Jong? Wann gedenkst du zu geruhen, zur Abwechslung doch mal auch in die Obertertia hinüberzupurzeln? An dem Tag wird die Welt untergehen. – Aber, wie? Wirst du?«

»Oh, no ... Doch wohl? Ich werde«, hatte Klaus schmunzelnd erwidert.

»Na, wirklich? – Aber im Ernst! Eigentlich sag' mal, du: Parole d'honneur? – Wie?«

Er hatte Klaus groß angesehen.

»Nu« – Klaus erwiderte den Blick Vaters mit gemütlich gekniffenen Augen – »ja, Papa! Ich werde! – Diesmal!«

»Und dann weiter?«

»Ja.«

»Na also, ein Mann, ein Wort?«

»Ja, ein Mann, ein Wort.«

Tom wußte sofort, daß Klaus es auch wirklich konnte, wenn er nur wollte; und dann mußte und wollte er ja doch der Naturwissenschaften wegen auf die Universität.

So waren Klaus und sein Vater.

Die Frau Doktor Wolfram aber war eine immer muntere, gut aufgeräumte, rundliche, proppere, gesunde, kleine Frau mit glattgescheiteltenl nußbraunem Haar, eine geborene Hamburgerin, tüchtige Hausfrau und vorzügliche Köchin.

Die Wolframs waren sehr gastlich und gesellig. Besonders hatten sie's gern, ihre Kinder und deren Freunde um sich zu sehen. Und dann gab es immer allerlei fröhliche kleine Familienfeste mit Pfänder- und Reigenspielen, im Garten oder im Wohnzimmer, mit reichlichem, gutem, wenn auch einfachem Essen, Musikvorträgen und anderer Unterhaltung und Munterkeit.

Eines Tages aber, Mitte September, zu einer Zeit, wo Onkel Anton gerade mitten in seinen biologischen Vorträgen war, hatte Tom in diesem Kreise ein Mädchen kennengelernt, das vor kurzem zu einem längeren Besuch bei den Wolframs eingetroffen war.

Sie hieß Sibylle Maaß, und war ein Schwesterkind von Frau Doktor Wolfram. Ihre Eltern wohnten in Flensburg, wo Sibylle auch geboren war. Sie sollte in eine Weimarer Pension getan werden, vorher aber erst einige Zeit bei Wolframs zubringen. Sie stand mit Tom in gleichem Alter.

Gleich auf den ersten Blick hatte Sibylles Erscheinung Tom berührt.

Sie war etwas kleiner als er. Einen besonderen Eindruck machte der Umstand, daß sie reiches, licht-, fast weißblondes, in linden Wellen nach den Seiten über die Ohren gescheiteltes Haar hatte, das ein Gesicht von einem sehr reinen Oval umrahmte. Zu diesem Haar aber hatte sie unter hohen, anmutig gezeichneten dunklen Brauen ein Paar dunkelbraune Augen mit langen, samtigen, dunklen Wimpern und einem weißen Bogen vom Augapfel unter den Pupillen. Sie trug das Haar nicht wie ihre Altersgenossinnen in Zöpfen, sondern mit einer hohen, dicken Flechtenkrone oben auf den Scheitel gesteckt, so daß ein schön gebildeter Hinterkopf hervortrat, von dem feine, lichte Lockenringel auf den schlanken weißen Hals sich herniederkräuselten.

Sie sprach nicht viel, zeigte fast nie ein ausgelassenes Wesen. Doch war, wenn sie sprach, in ihrer wohlklingenden, ruhigen Stimme keine Schüchternheit. Wenn sie fröhlich war, hatte sie ein angenehmes Lachen und konnte einen sicheren Mutterwitz entwickeln.

Gleich als Tom sie zum erstenmal gesehen, hatten ihre Augen ihm ein wunderbar wonniges Gefühl mitgeteilt und in ihm das heftige Verlangen erregt, sie sobald als möglich wiederzusehen und in ihrer Nähe zu sein. Und so ging er von da ab, so oft es nur angehen wollte, zu den Wolframs.


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