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30.

Gegen neun Uhr hatte sich der Himmel geklärt, und sie wanderten im Mondschein. Jenseits der Schneise gingen sie aufs Geratewohl in den Wald hinein. Und dann gelangten sie nach einiger Zeit auf eine mit jungen Föhren bestandene Schonung, hinter der ein Stand dreißigjähriger Föhren sich erhob. Am Saum des Kiefernforstes hin zog sich mit ihren weißen Stämmen eine Reihe alter Birken. Auf der breiten, grasbewachsenen Schneise aber, welche die Kiefern von der Schonung schied, hatten sie das Glück, einen rohen, aus Föhrenstämmchen hergestellten und mit Föhrenzweigen überdachten Verschlag zu finden, der nach der Wetterseite hin eine Schutzwand hatte. In der Mitte des Verschlages zeigten sich zwischen einigen großen, schwarzgeräucherten Steinen noch die Überreste eines Reisigfeuers. Waldarbeiter mochten sich hier ihren Kaffee oder eine Mahlzeit gekocht haben. Auch eine Schütte von Gras und Föhrenzweigen fanden sie. Sie entschlossen sich, hier zu übernachten.

»Schade, daß wir kein trockenes Reisig haben, sonst könnten wir uns ein Feuer machen«, sagte Tom.

»Korb, Nordpolfahrt!« lachte Ralph, während er sich auf die Schütte niederwarf.

Sie spürten, was sie jetzt für einen rechtschaffenen Appetit hatten. Doch Tom hieb auf einem der Steine eine Stange von seiner dicken Blockschokolade ab und zerteilte sie mit Hilfe eines kleineren in Stücke, die sie aßen. Dann nahmen sie noch ein paar Schlucke Wein, steckten sich, auf der Schütte liegend, die Pfeifen an und gaben sich dem Anblick der Umgebung hin. Die Schneise und die Schonung lagen im Mondglast. Der Vollmond mochte wohl irgendwo über dem Kiefernforst stehen. An der hohen Wand der Kiefern hin hob sich das grelle Weiß der Birken vom dunklen Hintergrunde ab, in dessen Tiefe stille Mondreflexe lagen. Die hohen Kronen standen in einem feierlich monotonen Brausen. In den zwerghaften Föhren der Schonung erregte der Wind, wie er mit zupfenden Stößen daherfuhr, wunderlich verlorene Laute. Manchmal sausten sie auf, oder sie ließen ein scharfes Zischen und Wispern hören, oder pfeifende Laute. Die Föhrenwand drüben war vom Mond so grell beleuchtet, daß man ihr Grün unterscheiden konnte. Gegen den hellen Glast hob sich das schwarze Dunkel der Waldtiefen ab. Mit lautlos weichem Flug bewegte sich eine Eule am mondklaren Himmel hin über die Schonung weg. Hinten aus dem Kiefernforst ließen sich die hellen, von verschiedener Richtung her sich antwortenden Stimmen eines Eulenpärchens vernehmen. Ein Getier huschte über die Schneise hin. Aber zu schnell, als daß man hätte wahrnehmen können, was es für eines war. Tom fand am Himmel die Kassiopeia, den Cepheus und die schöne, große, diamantklare Vega in der Leier.

»Wir haben hier gerade, da wir doch schon mal auf einer Nordpolfahrt sind, auch wirklich die Zirkumpolarsterne«, lachte er, indem er zum Himmel hinauf wies.

»Dort ist der Polarstem selber.«

»Lat em, Korb!« brummte Ralph gemütlich, der sich hinter seiner Pfeife nicht aus seinem vor sich hindösenden Behagen bringen lassen wollte.

Aber Tom, der in seine Gedankengänge hineingeraten war, fuhr, ohne sich durch Ralphs abweisende Bemerkung stören zu lassen, fort:

»Warum sind eigentlich seit ein paar Jahrhunderten so viele Menschenleben geopfert worden, um den Nordpol zu finden? Ich habe gelesen, daß die rein wissenschaftlichen Vorteile, die dabei herauskommen würden, gar nicht so besonders bedeutend sein sollen. Die Sache aber bloß zum Sport zu betreiben, wäre, find' ich, doch schon frevelhaft. Und dabei steht es sicher fest, daß man die Bemühungen so lange fortsetzen wird, bis der Pol entdeckt ist. Und ich bin überzeugt, das wird gar nicht mehr so lange dauern. Jeden Tag kann mal die Nachricht eintreffen. Aber warum diese angestrengten Bemühungen, bei denen nicht Geld und Menschenopfer gespart werden? Irgendeine tiefere Ursache, irgendein notwendiger Trieb muß doch zugrunde liegen. Aber welcher?«

Er schwieg und dachte nach.

»Ob's mit dem Erdmagnetismus zusammenhängt? Da ich doch der magnetische Pol. Boothia Felix. – Vielleicht zieht er nicht bloß die Magnetnadel an? Es gibt ja eine wissenschaftliche Hypothese, die einen Zug der organischen Wesen von Nord nach Süd und einen von Süd nach Nord feststellt. Warum soll der Trieb nach dem Nordpolpunkt nicht damit in Zusammenhang stehen? Ob vielleicht die schließliche Entdeckung des Pols ein ganz bestimmtes Merkzeichen für eine höchste Kultur des organischen Lebens bedeuten könnte? Einen Wendepunkt, von dem aus eine ganz neue Richtung in der weiteren Entwicklung, also schließlich der ganzen Erde, sich ergeben würde? Warum sollte das absurd sein?«

»Na, Korb, mir jedenfalls schnuppe!« ließ Ralph sich unter einem endlosen Gähner vernehmen. Er schien müde zu werden.

Aber nach einer Weile fing er seltsamerweise doch noch einmal an.

»Du, sag' mal, hast du Nansens ›In Nacht und Eis‹ gelesen?«

»Wie? – Ach so! Nansen! – Ja! Natürlich! – Mein Onkel Anton hat das Buch, hat's mir zu lesen gegeben. – Du! Die Treibholz-Drift! – Das Treibholz an der Küste von Grönland! – Das ist doch furchtbar merkwürdig! – Sie muß ja, Nansen hat ganz recht, mit einer Strömung unterm Eis ziemlich dicht am Pol vorbeigehen. – Du! Daß er die Drift gerade jetzt, ich meine: gerade innerhalb der Gesamtkonstellation der heutigen europäischen Kultur entdecken mußte! Und daß er mit der ›Fram‹ wirklich so weit gegen den Pol hin treiben mußte, wie vor ihm noch keiner! – Als ob's so hätte sein müssen, und als ob da ein gewisser Zeitpunkt nahe herbeigerückt wäre! – Ich glaube ganz sicher, daß der Pol in spätestens fünfzehn Jahren entdeckt sein wird.«

»Na, möglich, Korb! Gestehe, bin in dieser ›Funktion‹ Trottel. – Aber, du! So bei so 'ner Schlittenexpedition«, zwang Ralph sich stückweise unter einem abermaligen Gähner hervor ab, »das Zelt auf so 'ner großen Scholle haben, die jeden Augenblick gerade durch's Zelt durch mitten entzweikrachen kann, daß die ganze Pastete mit Mann und Maus und Pemmikan mit einemmal zu den Robben 'nunterschurrt: Wetter, das muß es in sich haben! Auch so 'nem halbwegen Burschen von Eisbär möcht' ich wohl schon mal eins aufbrummen. – Im übrigen weißt du doch, warum die Eskimos keine blauen Brillen tragen? – So! Und nun rutsch' mir den Buckel runter!«

Er wälzte sich auf die andere Seite, drehte Tom seinen enormen Rücken zu, und bald darauf vernahm Tom sein Schnarchen.

Auch er gähnte jetzt, streckte sich lang und schlief ein. Als er aber aus einem längeren Halbschlummer erwachte, gewahrte er, daß der Mond die Kiefern überschritten hatte und über der Schonung stand, die in taghellem Glast lag. Die Birkenstämme gleisten förmlich, und die der Kiefern hoben sich mit einem gelichteten Kupferrot von der schwarzen Forsttiefe ab. In schräger Linie unterm Mond stand ein schöner, großer, heller Stern. Es war Jupiter.

Der Anblick des Himmels und der Schonung war so herrlich, daß er sich aufrichtete, um ihn noch zu genießen. Seine Kleidung war jetzt so gut wie trocken. Aber sie war hart und spröd geworden und scheuerte ihm hier und da den bloßen Körper. Neben ihm ließ Ralph, im tiefsten Schlaf, ein dröhnendes Schnarchen hören.

»Wie fest er schläft!« dachte Tom. »Eigentlich zu fest.

– Wenn man in einem wirklich tieferen Zusammenhange mit der Natur steht, müssen doch selbst im Schlaf die Sinne für die Umgebung noch offen sein. – Ich weiß nicht, ob ich gerade eine solche tiefere Beziehung zur Natur habe, aber einen leisen Schlaf hab' ich. Ich würde im Schlaf jedes auffallendere Geräusch hören. Das weiß ich bestimmt.« Dann kam ihm das Nordpolgespräch wieder in Erinnerung, und er dachte mit Bezug auf Ralph: »Es ist doch eigentümlich, daß ich eine notwendigere Beziehung zu ihm unbedingt habe. Es ist, denk' ich, kein Zufall, daß ich mit ihm in Verkehr gekommen bin. Worin könnte und sollte ich ihn wohl auch ausnützen? Am allerletzten ist Eigensucht dabei im Spiel gewesen. Eigentlich ist es ja auch er gewesen, der den Verkehr angefangen hat. Interessiert hat er mich zwar schon lange, das hat er; aber ich wäre wohl nicht so leicht darauf gekommen, mit ihm Duzbrüderschaft zu schließen. – Aber das Merkwürdige: Wie ist er darauf gekommen, da er doch so gar kein Interesse für geistige Dinge hat und ich im übrigen für gewisse seiner Streiche ganz und gar keinen Sinn habe? – Aber es ist ganz gewiß so: Er hat irgend etwas in meinem Wesen gefunden, was ihm zusagt, und ich ja ganz gewiß auch in seinem. Aber ich habe doch von Anfang an auch wieder in einer gewissen Reserve zu ihm gestanden. – Aber ja nicht bloß zu ihm. Sondern zu jedem, mit dem ich seither in einen näheren Verkehr gekommen bin. Sogar zu Klaus. – Übrigens ist es auffallend, daß ich keine eigentlichen Freunde habe. – Ich glaube, diese Reserve und diesen Mangel an Bedürfnis nach einem eigentlichen freundschaftlichen Verkehr hab' ich von Mutter geerbt. Wen hat sie denn eigentlich? Außer etwa Onkel Anton? – Sonderbar: Onkel Anton ist auch mein einziger wirklicher Freund! Der, von dem ich sagen kann und weiß, daß ich ihn wirklich lieb, lieb habe.

Was bedeutet das? Bin ich etwa Egoist? Oder bin ich kalt? Aber das ist es ganz gewiß nicht. Ich habe vielmehr zu jedem, mit dem ich näher verkehre, auch eine entschiedene Gemütsbeziehung. Es geht mir z. B. direkt ans Herz, wenn ich denke, daß es mit Ralph womöglich doch mal kippen könnte, daß er eines Tages in irgendeinem tollkühnen Abenteuer enden könnte, ohne daß er damit einem Menschen oder der Menschheit etwas genützt hätte, was in Bettacht käme. – Ich weiß auch, daß ich im Falle der Gefahr, einerlei welcher, keinen meiner Bekannten im Stich lassen würde. Und zwar nicht bloß aus ›Ehrgefühl‹ oder ›Anstandsrücksicht‹, sondern aus Sympathie. – Und doch: jedem gegenüber fühl' ich mich in Reserve, kann ihn mit einer gewissen Kühle kritisieren. Aber doch nicht ironisch, skeptisch, pessimistisch, auch nicht gerade mit Humor, sondern im Grunde eigentlich ernsthaft, positiv, konstatierend. – Aber ganz bestimmt: Auch das hab' ich von Mutter. So ist sie! Ganz und gar! – Aber ich denke, das ist nichts Schlimmes. Ich stehe dieser Eigenschaft Mutters übrigens mit einem gewissen Humor gegenüber. Aber gerade darum auch fühl' ich mich zu Mutter so hingezogen. – Alles ist bei ihr immer instinktiv, ganz unwillkürlich so. Ich bin ›geistiger‹, bewußter, neige zur Reflexion dabei. – Jedenfalls: ich denke, es mag im Leben einerlei was an mich herantreten: ich werde stets wie die Katze auf meine vier Beine fallen.«

Er lachte. »Ja, ich liebe seinen Wagemut«, dachte er weiter mit Bezug auf Ralph. »Ich liebe seine bärenmäßige Kraft. Auch, daß ihm in gewisser Hinsicht alles egal ist. Vielleicht zieht mich gerade das an; wenigstens beschäftigt es mich immer wieder. – Wie er manchmal so sonderbar sagt: ›Dieweil es leben gilt!‹ Denn er kann seine sonderbaren Augenblicke haben, die einen dann so überraschen. Ich glaube überhaupt, daß jeder Mensch von irgendwelcher wirklich hervorstechenden Eigenart, mag er sonst auch noch so dumm sein, solche Momente hat. – Aber was besagt das nun eigentlich mit Bezug auf mich selbst? Sicher doch so viel, daß ich mit Ralph irgend etwas gemeinsam habe. Und das verhält sich auch wirklich so. Ich habe Augenblicke und Stimmungen, wo auch ich solche tollkühnen Anwandlungen habe. Gerade auch in physischer Hinsicht. Aber – und das ist der Unterschied –: vor allem in geistiger. Es gibt nichts, geradezu nichts, was mich hier nicht auf der Stelle in Anspruch nähme und worauf ich nicht – ja, bis zu einer ganz unwillkürlichen Tollkühnheit – losginge. Aber doch auch wieder mit dem Unterschied, daß ich es unwillkürlich in einen Zusammenhang zu bringen suche, der ein guter ist. – Wahrhaftig, wie sollte er kein guter sein?« Es überkam ihn eine Rührung; denn er dachte an alles, was Onkel Anton in ihm geweckt und gepflegt hatte. »Ich weiß nicht«, setzte er seine Gedanken fort, »ob ich jemals etwa ein wissenschaftlicher Weltreisender und Entdecker werde: aber soviel ist sicher, daß ich schon öfter solche Antriebe hatte. Und ich glaube sogar, daß es nicht bloß so oberflächliche sind. Körperlich bin ich ja gesund. Ich weiß auch, daß ich Ausdauer hätte und durch nichts von einer Sache, für die ich mich einmal eingesetzt hätte, abzubringen wäre. Aber es zieht mich doch wohl eigentlich mehr zum Seelischen hin; gerade in das Allertiefste und Feinste, am schwersten Zugängliche hinein. – Und hier hab' ich es immer wieder mit einer so besonderen Unruhe, einem so merkwürdigen Drang und Trieb; der dann doch also in mir auch irgendein innerliches Objekt haben muß? Ich versteh' es natürlich selber noch nicht, kann's auf keine Formel bringen: aber da ist es und will sicher auf was hinaus. – Aber, Gott! es hat ja noch Zeit! Erst mal die Welt, das Leben kennenlernen, dann sehen, was herauswill! – Aber soviel weiß ich: es muß irgendeinmal damit zu einer Entscheidung kommen; und« – er lachte – »es ist mein Ein und Alles!«

Er war zu einer gewissen Abrundung dieser Gedankengänge gelangt, seine Gedanken fingen an, eine andere Wendung zu nehmen. Eine gewisse Stelle aus Beethovens »Ruinen von Korinth« fiel ihm ein, und unverwandt den Blick auf das schöne, große, ruhige Gestirn gerichtet, sang er sie leise vor sich hin, sie immer wiederholend und hin und wieder variierend. Sie war eine seiner Lieblingsstellen und seinem innersten Empfinden identisch geworden mit einem bestimmten Eindruck. Er lebte sie als einen ionischen Tempel, der auf einer Anhöhe über einem Olivenhain emporragt; und Tempel und Hain stehen ganz im Glast des hellenisch südlichen Vollmondes. In einiger Entfernung aber erblickte man das mondgleißende Meer und hörte beständig traumhaft groß das Donnergetöse seiner Brandung. Und unverwandt das schöne Gestirn im Auge, das selig freundlich und einsam mit göttlichem Selbstgenüge da oben in seiner fernen, lichten Höhe ging, schien es ihm, als ob die göttlichen Töne, die er da vor sich hin sang, von ihm selbst da oben herniedertönten, ganz ein Lied der Seligkeit und Freiheit und göttlich stark in sich selbst ruhender Kraft.

Aus der Tiefe des Kiefernforstes wurden wieder die hellen, sich rufenden und antwortenden Rufe des Eulenpärchens vernehmbar. So hell und schön, daß er vor Freude vor sich hin lachte.

»Das schöne Wort ›ligüs‹, wie der Ton einer angezupften Harfensaite: hat es irgendeinmal ein Urathener nach dem Frühlingsruf der Eulen von Athen, Pallas Athenes heiligen Vögeln, erfunden?«

Er wurde müde. Es war ihm so gut zumute. Er fiel in einen festen Schlaf.


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