Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.

In der ersten Zeit seiner Wiedergenesung kam er öfter zu Mutter in die Küche. Meist aus dem Bedürfnis, in ihrer Nähe und zärtlich zu ihr zu sein. Es mochte wohl sein, daß ihn Großmama damit etwas verwöhnt hatte, daß sie beständig so liebreich zu ihm war.

Aber die Küche bedeutete auch in anderer Hinsicht ein Revier, das ihn anzog.

Sie war Lises Stolz und zugleich fast der einzige Raum im Hause, wo sie sich ganz wie in ihren eigenen vier Pfählen fühlte, Sammlung und Behagen fand.

Sie war ein großer, heller, nach dem Hausgarten hinaus gelegener, zweifensteriger Raum, mit sauber gefältelten, licht buntgeblümten Gardinen an den Fenstern. Der Fußboden war mit Fliesen ausgelegt. Decke und Wände hell getüncht. Über Manneshöhe waren die Wände mit glasierten Kacheln bedeckt, die blaue Zeichnungen nach Delfter Art zeigten. Die eine Zeichnung stellte eine holländische Mühle dar, auf die ein Bauer ein Eselchen zutrieb, das einen Mehlsack trug; die andere war ein Schiff mit einem geblähten Segel, das auf einem Kanal dahinfuhr; auf der dritten tanzte ein holländischer Schiffer mit einer Frau, er einen Südwester auf und weite Pluderhosen und Wasserstiefeln an, sie in einem kurzen, drallen, runden Rock und eine holländische Haube auf.

Schon diese Bilder hatten es Tom angetan. Aber gern mochte er's auch, wenn die ganze lichte Herrlichkeit, all die bunten Töpfe, Kasserollen, Kupfer- und Messingkessel, das Porzellan und die anderen Geräte, dazu die metallenen Stangen, Beschläge und Griffe an dem stattlichen Herdgebäude abends im Schein des elektrischen Lichtes sich darboten.

An dem einen Fenster aber, gemütlich gegen die Ecke hin, hatte Mutter ihr Ruheplätzchen. Da stand ein weiß und lichtblau gestrichener, bequemer Korbstuhl mit einem gestickten Sitzkissen und einem mit einer bunten Wollschnur über die Rückenlehne gehängten, halbmondförmigen Kissen, in das gleichfalls mit bunter Wolle Blumen eingestickt waren.

Vor dem Stuhle stand ein sauberes, weiß und blaues Fußbänkchen auf einer kleinen, geflochtenen Bastmatte. Auf dem Fensterbrett aber, in der geräumigen Nische, befand sich ein Korb mit Strickzeug und Nähgerät, lag wohl auch ein Buch oder die Nummer eines illustrierten Familienblattes. Und an der einen Wand der Nische, so daß Mutters Blick, wenn sie im Lehnstuhl saß, gerade darauf fiel, hing in einem etwas schadhaften, verblichenen, schmalen Goldrahmen ein Bild, das mit großen, bunten Buchstaben und vergoldeten Initialen einen frommen Spruch zeigte, der mitten in einem nach Neuruppiner Art schön grell und munter kolorierten Blumenkranz stand. Oben drüber aber waren ein rotes Herz, ein Kreuz und ein Anker gemalt. Mutter hatte dies Bild sehr lieb. Es war noch ein Andenken aus ihrer hannoverschen Zeit, wo sie es in ihrer Mädchenkammer über ihrem Bett hängen gehabt hatte.

Einen Blumenstrauß sah man in der Fensternische nie. Höchstens, daß mal in einem gläsernen Bierpokal ein großer Strauß Petersilie stand, die bis zum Gebrauch frisch gehalten werden sollte. Lise war Blumen zwar nicht abgeneigt, doch machte sie nicht gerade eine Liebhaberei daraus; wie sie übrigens auch für Hunde, Katzen und Vögel kein Verständnis besaß und Katzen geradezu haßte. In dem geräumigen Arbeitskorb aber befand sich neben allerlei Nähgerät zu gelegentlichem schnellen Handgebrauch stets ein ausgiebiger Vorrat von aufgewickelter Wolle und ein im Werden begriffener Strickstrumpf, an dem sie, niemals müßig, in den Pausen zwischen ihrer sonstigen Arbeit, etwa wenn sie auf ein kochendes Gericht aufzupassen hatte, oder wenn sie sich mal ein Feierstündchen gönnte, strickte.

Sie fertigte diese Strümpfe mit einer von ihm anerkannten und geschätzten Kunstfertigkeit für ihren Mann an. Und wenn sie sonst nicht viel Worte und Geschichten miteinander machten, so bedeuteten diese Strümpfe vielleicht ein so solides wie zugleich praktisches Zeichen ihrer Neigung zu Karl. Die beiden Gatten verstanden sich andauernd prächtig miteinander. Obgleich Karl Körber sich um sie kaum viel bekümmerte, wie er übrigens auch nicht viel Zeit für die Kinder übrig hatte. Es konnte wohl sogar auch mal vorkommen, daß er Lise, wenn er den Kopf voll hatte mit seinen Geschäften oder auch sonst mal nicht recht bei Stimmung war, heftiger, freilich nie in eigentlich verletzender Weise, anließ; doch schwieg sie dann und machte nichts weiter draus, geschweige daß sie's ihm nachgetragen hätte. Trotzdem hatte sie ihn unterm Pantoffel und wußte von ihm – allerdings im Grunde stets rechtens – alles zu erreichen, was sie wollte, selbst wenn er der Sache gelegentlich mal den Widerstand seines Körberschen Dickkopfes entgegensetzen wollte. Im Notfalle trumpfte sie wohl auch, und nie ohne Erfolg, gegen ihn auf.

Jedenfalls lebten sie im besten Einvernehmen miteinander und wußten, daß sie sich unentbehrlich waren. Es bedeutete auch ein Zeichen dieses Einverständnisses, daß sie gelegentlich wie nur in der ersten Zeit ihrer Ehe mit gutem, wenn manchmal auch etwas derbem Humor ihre Späßchen miteinander machten.

Über häusliches Behagen und Pflege hatte sich Karl sicherlich nicht zu beklagen, so selbstverständlich und ohne weiteres Aufhebens sie auch geleistet und entgegengenommen wurden.

Daß man sie vielleicht nicht überall gesellschaftlich recht für voll nahm, machte ihm so wenig etwas wie ihr selbst. Sie wußte im übrigen, wie gern man bei ihr zu Mittag oder zu Abend speiste, und daß sie, was für eine niederdeutsche Handelsstadt etwas besagen wollte, im Ruf stand, die beste Köchin der Welt zu sein. Selbst Kommerzienrats vorn pflegten, wenn sie Gesellschaften gaben, ihre Kochkunst gelegentlich in Anspruch zu nehmen. Ein paar gleich ihr wirtschaftlichere jüngere Frauen der Bekanntschaft hatten einen näheren Anschluß an sie gewonnen, wenn Lise ihrer ganzen Charakteranlage nach es freilich auch nicht zu einer allzu »dicken« Freundschaft kommen ließ.

Wenn sie gelegentlich mal etwas las, so liebte sie, schlecht und recht nach dem Volksgeschmack, möglichst abenteuerliche und sentimentale Sachen, die schließlich einen glücklichen Ausgang nahmen, ließ sich aber auch gern durch humoristische Lektüre aufheitern. Aus Theater- und Konzertbesuchen machte sie sich nichts, worin sie mit Karl übrigens nur harmonierte. Höchstens, daß sie mit einer ihrer Bekannten, oder wohl auch mal mit Karl, sich eine Operette anhörte oder ein Lustspiel, wohl auch mal »Freischütz«, »Undine«, »Waffenschmied« oder etwas dergleichen.

Tom interessierte sich für alles in der Küche. Für Mutters Fensterplatz, die Kachelbilder, Mutters Arbeitskorb, das Geschirr, die Gefäße, die Küchenarbeiten, das Herrichten der Gemüse, des Fleisches, des Geflügels, Wildbrets, die guten Gerüche, die vom Herd aufstiegen, die Geräusche der kochenden, schmorenden, bratenden Speisen; ja, er guckte manchmal sogar in die Töpfe, selbst auf die Gefahr hin, daß ihm, wenn er den Deckel hob, der heiße Brodem ins Gesicht fuhr oder er sich mal ein bißchen die Finger verbrannte. Auch liebte er es, wenn ihm Mutter, war sie mal bei besonders guter Laune, oder das Mädchen, einen guten Happen gleich vom Herd weg gaben. Mutter spottete freilich und nannte ihn »Pottkieker«, doch duldete sie ihn vorderhand in dieser Zeit kurz nach der Genesung noch.

Ganz besonders liebte er's, wenn Mutter, war sie mal bei recht sehr guter Stimmung, etwas sang, oder wenn sie ihn dabei gar bei den Händen faßte und mit ihm umhertanzte. Sie sang mit gutem musikalischen Gehör, einer angenehmen, etwas dünnen, mehr für das Zierliche und Muntere angelegten Stimme; und es waren dann, wie sie ihr gerade einfielen, ihre Lieblingslieder. Etwa »Hopp, Karlinchen, tanze – Was kosten deine Schuh? – Laß du mich immer tanzen – Du gibst mir nichts dazu.« Tom schrie, während Mutter mit ihm umhertanzte und ihm dabei ab und zu einen tüchtigen Schwenker gab, vor Vergnügen. Oder: »Traf mein Herz einmal die Wahl – Wollt' ich auf Beute gehen – Mochten Mädchen ohne Zahl – Vergeblich widerstehen.« Tom verstand zwar nicht, was das bedeutete, aber Mutter tanzte mit ihm und er schrie vor Lachen. Oder – wobei Mutter sich aufpustete, drollig die Augen aufriß und in einem ganz tiefen Baß zu singen versuchte –: »Heut' ist der Tag, da du bei uns erschienen – Dideldum, dideldum, dideldum – Es ist schon lange her – Das freut uns um so mehr.«

Mutter litt ihn vorderhand aber auch aus dem Grunde noch in der Küche und in ihrer Nähe, weil er neuerlich auf allerlei bedenkliche Streiche verfiel, die vielleicht auch damit in Zusammenhang standen, daß seine Kräfte nach der Krankheit, auch wohl infolge der ausnehmend guten Pflege, die er erfuhr, besonders zugenommen hatten; wie er auch merklich gewachsen war.

Er zeigte jetzt zuweilen ein geradezu übermütig verwegenes Wesen. So hatte er sich etwa angewöhnt, sich oben auf dem Treppenflur mit dem Bauch aufs Geländer zu legen und bis zum Hausflur hinuntergleiten zu lassen. Er hatte das gelegentlich von Detlev gesehen, und es hatte ihm gefallen. Niemand hatte bisher etwas davon gewußt. Kürzlich war die Sache aber so übel abgelaufen, daß er vielleicht abermals nur wie durch ein Wunder vom Tode gerettet worden war. Er hatte diesmal am untersten Ende des Geländers das Gleichgewicht verloren und war gerade im Begriff gewesen, mit der ganzen Kraft des Schwunges, in dem er war, steil mit dem Kopf nach unten auf die Fliesen des Hausflures aufzuschlagen, als er sich im äußersten Moment von zwei kräftigen Armen aufgefangen, herumgedreht und auf die Beine gestellt gefühlt hatte. Er hatte an einem vierschrötigen, blondbärtigen Mann mit einem breiten, roten Gesicht, einer zerknüllten Mütze und einem weißen, roll Backsteinstaub geröteten Maureranzug hinaufgesehen. Der Mann, einer von Vaters Maurerpolieren, der zufällig das Haus betreten hatte, um in Vaters Auftrag eine Bestellung auszurichten, hatte ihm, seine kleinen blauen Augen weit und ernst unter den hochgezogenen, buschigen, blonden Brauen aufgerissen, mit seinem dicken, hornigen Finger gedroht und gesagt:

»Jongejongejongejonge! Gottsdunnerslag, dau Slüngel! Nu' segg' aewer: Dank ook! Wat da woll ut wor'n wär'?«

Tom, der noch gar nicht gewußt hatte, was da plötzlich alles mit ihm geschehen, und wo der blonde Mann mit dem weißrötlichen Anzug mit einemmal hergekommen war, hatte ihn bleich und erschreckt angestarrt. Er hatte nachher zwar geweint, die Sache war ihm aber doch lange im Kopf herumgegangen, und er hatte gedacht, daß, wenn der Mann nicht gekommen wäre, er sich wohl auf den Steinen den Kopf entzweigeschlagen hätte und tot gewesen wäre.

Eines Tages aber war er wieder mal in der Küche, als Mutter mit der Naumannschen eines ihrer Gespräche hatte. Die Naumannsche wusch gerade das Geschirr auf und Mutter saß in ihrem Stuhl beim Fenster. Tom hatte es sich hinten in der Ecke hinter Mutters Stuhl bequem gemacht. Sie hatten ihn, in ihre Unterhaltung vertieft, vergessen gehabt. Er aber hörte mäuschenstill alles genau mit an.

»Sei schall ook we'r veel bi de Fru Rätin ut un' in gahn«, hatte die Naumannsche, nachdem sie Mutter alle möglichen Stadtneuigkeiten berichtet und dann erst ein kleines Schweigen gewesen war, angefangen.

»Wer?« frug Mutter, die gerade beim Strumpfzwickel angelangt war und die Maschen zählen mußte.

»De Bruhnsche.«

»Oh, de Bruhnsche?« hatte Mutter sich sofort interessiert. »O wat! De Bruhnsche? Wat will sei?«

Die Naumannsche ließ ein bedeutungsvolles Lachen vernehmen.

»Oh, dat hebbt woll sin' Ursak! Dat glöv' eck sülven! Dat is' wis!«

»Nanu? Wat observiert sei all we'r?«

»Oh, dat oll Slikdeert! Dat oll Ohrwurm!« fuhr die Naumannsche fort und lachte. »Da is nu' ... Wat ehr Zweeter is, wat nahstens up Ostern Kinfermat'schon hebbt ... Ick meen' man ... Un' dann is da ook ehr Irster, de Schriewer, de is woll ook all we'r mal to Hus.«

»Oh, so 'rum!« lachte Lise spöttisch. Dann aber setzte sie, mehr zu sich selbst, unterstrichen hinzu: »Was die wohl dem Jungen durchs Schlüsselloch angepustet hätte!«

»Wie? – Hähähä!«

Die Naumannsche sah zu Mutter von ihrer großen Emaillewaschwanne auf hinüber, als ob sie nicht verstanden hätte und zu erraten suchte, was sie gesagt hätte.

»De gnä' Fru hebbt ja woll ehr Gefallen an ehr'n Jüngschten«, fuhr sie dann fort. »De Bruhnsche is all schon paarmol mit'm bi ehr west, un' de gnä' Fru will ja woll wat för sine Erziehung daun, als eck hürt hebb. Hei is ja woll ein Johr öller as Tomchen.«

»Oh, kommt er hier vorn ins Haus? Öfter?« fuhr Mutter gegen die Naumannsche herum.

»Oh, eck weit doch nich'?« antwortete die Naumannsche, ein kleines, neugieriges Funkeln im Auge. »Aewer dat kann woll sein. – De Bruhnsche is ja woll mal eene smucke Deern west und sei harr' damals ja ook lang' bi de gnä' Fru utholln.«

»Ach so, er kommt also ins Haus«, wiederholte Lise.

Aber in diesem Augenblicke wurde von der Ecke her ein bitterliches Weinen laut.

Erschrocken und recht unangenehm überrascht fuhren Lise und die Naumannsche auf; sie hatten über ihrer Unterhaltung Toms Anwesenheit ganz vergessen gehabt.

Schon lange war Tom hinten in seiner Ecke aus Gründen von dem Bedürfnis geplagt gewesen, seine Anwesenheit in Erinnerung zu bringen, hatte sich das aber nicht getraut. Doch hielt er's jetzt nicht mehr aus und fing in seiner Ratlosigkeit mit einemmal an zu heulen.

»Oh, Tomchen!« lachte die Naumannsche und sah Mutter an. Mutter aber fuhr sehr ungehalten um die Stuhllehne gegen ihn herum und sah zu ihm hinunter, wie er in die Ecke gekauert mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihr emporsah.

»Nanu, was is denn das? Du bist hier? Was tust, du hier, was?« herrschte Mutter ihn an.

Doch mochte sie etwas ahnen, denn sie erhob sich, kam um den Stuhl herum und zog ihn in die Höhe. Die Ahnung bestätigte sich; es war ihm da hinten in aller Stille ein Malheur passiert.

»Na, so was! Warum hast du nicht gesagt, daß du 'naus mußt?«

Sie verabfolgte ihm einen Katzenkopf, zog ihn derb beim Arm aus der Ecke vor und ging mit ihm geschwind auf die Tür zu. Die Naumannsche aber, die die ganze Zeit über geguckt und ihnen bis zur Tür hin nachgesehen hatte, lachte jetzt und sagte:

»Nu' wo Tomchen we'r gesund is, geit hei woll all we'r to Grotmama?«

Aus irgendeinem Grunde wurde Mutter aber mit einemmal ganz böse, so daß sie Tom sogar ein paar derbe Klappse gab, wobei sie, während sie ihn zur Tür hinaus in den Flurgang schob, rief:

»Gah man! Rosalie wird sich freu'n, du Swin!«

Die Tür schlug mit einem kurzen Knall zu, Tom aber schob sich bitterlich heulend zum Kinderzimmer hin. Gegen die Naumannsche aber hatte er von diesem Tage an eine unüberwindliche Abneigung.


 << zurück weiter >>