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20.

Unermüdlich und ohne im geringsten Langeweile zu fühlen, konnte er sich bei den Lagerstrecken, von denen einige überdies Großpapa gehörten, aufhalten und, von einer Stelle aus, wo er ungestört liegen oder sitzen konnte, das hier herrschende Treiben beobachten. In aller Stille schlang er sich förmlich voll von den vielen, bunten, immer bewegten Eindrücken, um sie in einem Feingedächtnis aufzubewahren, das man hätte mit einem Film vergleichen können.

Er interessierte sich für die Bewegungen der Streckenarbeiter, wie sie über Bretter hinweg, die von den Frachtkähnen zum Ufer hinüberführten, auf Karren die Güter, Mauersteine, Petroleumballons, Braun- und Steinkohlen, Säcke mit künstlichen Düngemitteln und andere Güter auf die Strecken fuhren, wo sie dann von anderen Arbeitern in Empfang genommen und aufgestapelt wurden.

Ihrer ganzen Ausdehnung nach war der Erdboden der Strecken von dem Staub der herüberbeförderten Güter gefärbt. Der Boden der Mauersteinstrecken war grellrot gefärbt, der der Kohlenstrecken schwarz oder braun, wieder andere Stellen für Farbstoffe oder Düngemittel zeigten einen gelben, rotgelben, lichtbraunen oder blauen Ton, und je nach den betreffenden Gütern war auch die Kleidung der Arbeiter gefärbt. Die regelmäßig sich vollziehende Bewegungsrichtung von den Dampfern und Kähnen aufs Land, vom Land auf sie zurück, oder von den Strecken nach den Güterzügen hin, in welche die Güter weiter verladen wurden. Die Lokomotive wartete geduldig wie ein eigenlebendiges, schwarzes Riesentier. Wenn es aber so weit war, pfiff sie lang und gellend oder stieß einen heiser heulenden Ton hervor und ließ mit ohrenbetäubendem Gezisch Dampf, stieß eine mächtige, dunkle, krausgewölbte Wolke aus ihrem Schlot, und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Das war dann aber eine Bewegung, welche alle diese Bewegungen der Strecken weiter und in die Ferne führte. Tom bedachte, daß die Züge von hier nach dem Hauptbahnhof gingen und von dort dann nach allen Richtungen ins Land hineinfuhren. Auch war es schön, zu denken, wie all die Dampfer, Kähne, Zillen stromaufwärts hierherkamen, vor allem aber stromabwärts zum Meer und dem großen Meerhafen, der gar nicht mehr so weit von der Stadt entfernt war, hingingen.

Oder er hielt sich auch bei den Holzstrecken auf. Da legten außer den Holzkähnen die großen Flöße an mit ihren langen, dicken, rötlichen Kiefern- oder Fichtenstämmen, die den weiten Weg vom Gebirge her gemacht hatten, von dem der Strom entsprang, oder von anderen Gebirgen her, durch die er hindurchfloß. All das Holz, das hier behauen oder unbehauen oder auch in den Sägemühlen der Gebirge zu Brettern zugeschnitten abgeladen wurde, brachten dann die Arbeiter im Freien oder in langen Schuppen unter, welche mit schwarzer Teerpappe bedeckte Dächer hatten. Hier arbeiteten die Zimmerleute mit ihren Sägen und Äxten. Den ganzen Tag über schallten, daß es manchmal wie eine Musik war, im Takt die großen Äxte, schnarchten und kreischten die Sägen. Tom hatte vor diesen Zimmerleuten eigentlich ein wenig Scheu. Ihre schwarzen Kalabreser mit den riesig breiten, schwarzen Krempen, ihre schwarzsamtenen Beinkleider, die oben eng und unten übermäßig weit waren, ihre bunten Wollhemden erinnerten ihn daran, daß er gelegentlich gehört hatte, sie wären Sozialdemokraten oder gar Anarchisten. Trotzdem pirschte er sich gelegentlich aber mal nahe an sie heran, weil ihn die sonderbaren blauen und roten Zeichnungen interessierten, die sie auf ihren braunen, muskulösen Armen oder auf ihrer nackten Brust hatten. Manchmal waren es Blumensträuße oder -kränze, oder Herzen mit einem Pfeil durch und einer Flamme oben drauf, oder ineinander verschränkte Hände mit Buchstaben oder Namen, oder einem Spruch drunter, oder es war eine Ballettänzerin oder ein Mädchengesicht, oder eine Sonne mit Strahlen, oder Arabesken, Ranken, Zweige, oder ein Schiff mit Segeln.

Oder der Hafen! Bei der großen, alten, vom Wetter ganz schwarzgrün gewordenen Sandsteinbrücke, die aus einer mächtigen, schwarzgrünen Mauer und einem Torgang hervorkam und zum anderen Ufer hinüberführte, lagen auf beiden Seiten – auf der anderen fing der Hafen an – die Dampfer und Frachtkähne dicht beieinander, und dann drüben füllten sie den ganzen Hafen. Oben auf dem Gewirr der vielen Masten, über den dicken, schwarz und rot gefärbten Schloten flatterten lustig in der Luft all die vielen langen, schmalen, bunten Wimpel. Auch die Kähne waren bunt gestrichen: rot, braun, rotbraun, schön lichtblau, gelb, grün. Tom verglich sie, wenn ihre Masten niedergelegt waren, mit riesigen Maikäfern, denen die Beine und Flügel ausgerissen waren. Wo aber in der Mitte des Hafens oder zwischen den Kähnen das Wasser frei war, da war es ganz dunkel, bis zum Schwarzen oder Schwarzgrünen. Beständig schaukelte es und war in Bewegung, und das gab dann zahllose dunkelolivige oder schwärzlich graue, bleigraue, flaschengrüne oder auch lila oder violett bläuliche Lichter, die wie bunte Schuppen oder Platten waren. Auch schwamm auf dem Wasser immer alles mögliche umher: Korken, alte Flaschen, verfaulte Orangen oder anderes Obst, Gemüseüberreste und allerlei Abfall aus den kleinen Kajüten der Kähne, aus welchen ein kleiner Rauchschlot aus schwarzem Eisenblech hervorragte, der anzeigte, daß die Schiffer sich drin ihr Essen kochten; oder Holzstücke, Papier, Kartons, Stroh und andere Dinge. Bis dicht an die Brücke heran lagen die Kähne und dann noch über sie hinaus eine Reihe stromab an der langen, alten Steinmauer hin, die hoch aus dem Wasser emporstieg.

Hier konnte man sich nicht langweilen. Immer gab es was zu sehen und zu hören. Manchmal heulte eine Dampfersirene, oder die Lokomotiven der Güterzüge pfiffen. Auch Möwen gab es, die vom Meer her so weit stromaufwärts kamen. Sie kreisten über den vielen Fahrzeugen, über den bunten Wimpeln in der Luft. Zuweilen schossen sie auf das Wasser nieder, stippten mit dem Schnabel schnell was auf und waren im nächsten Augenblick wieder in der Luft und schrien mit ihren hellen Stimmen.

Die Brücke führte Tom zur anderen Seite des Hafens hinüber. Wenn er dann noch ein Stück über diesen hinaus wanderte, gelangte er zu einer Uferstelle, wo die Schiffsbaustrecken waren. Da standen zwischen Balkengerüsten die im Bau befindlichen Rümpfe der Kähne, mächtige Balkenrückgrate mit emporstarrenden krummen Rippen, zwischen denen die Schiffszimmerleute hantierten. Hier schallte es den ganzen Tag. Manchmal sah er auch zu, wie die Leute ihre Mahlzeiten hielten. Einmal hatte er einen Arbeiter auf einem Balken sitzen sehen. Er hatte mit seinem Taschenmesser sich was aus der Innenfläche der Hand herausgeschnitten. Tom hatte begriffen, daß seine Hände von der Arbeit schwielig und hornig waren, und daß der Arbeiter sich das Horn von der Hand abschnitt, damit es ihn bei der Arbeit nicht drücke.

Noch ein Stückchen über die Schiffsbaustrecken hinaus, da wo der Hafen in eine stille, dunkle Bucht endete, gab's dann aber noch eine ganz einsame, wilde, öde Stelle, die er manchmal gleichfalls aufsuchte. Das Ufer zeigte hier weithin ein von großen Wassertümpeln bedecktes Wiesenland. Um diese Tümpel herum starrten hohes Schilf und Binsen, und die Wiesen hatten fettes, aber von wildem, garstig hochgeschossenem Unkraut durchwachsenes Gras, so daß sie mehr wüst und öde als freundlich aussahen. Überall sah man mächtige Ballen von fettem Weidengestrüpp, zwischen dem dann einsam Pappeln, Riesenweiden und Eschen emporstarrten. Kein Tier und kein Mensch war hier zu sehen, außer daß manchmal Krähen und Elstern ihr Wesen hatten oder ein paar wilde Enten. Dicht am Uferrand aber befand sich ein mächtiges Bollwerk aus dicken, in den Boden eingerammten, runden Baumstämmen und dicken Planken und Bohlen, das Ganze fast unheimlich mit seinem schwarzen Teeranstrich. Unter dem Bollwerk ging dann das Ufer noch eine Strecke mit kahlem, ödem Stein- und Kieselgeröll zu dem starren, schwarzen Wasser hinab, auf dem immer eine abscheulich trübgraue, von leisen Regenbogenfarben schillernde Haut stand. Auf dieser wüsten Stelle lag dann immer eine Menge von allem möglichen Gerümpel und Unrat.

Tom klomm wohl einmal auf das Bollwerk und sah auf diese Wüstenei hinab. Da waren zerbröckelte Mauersteine, alte Konserven, zertrümmerte Figuren oder Ornamente aus Gips, Topfscherben, verfaulte Holztrümmer. Es kam aber auch vor, daß ein ertrunkenes oder ersäuftes Tier da unten zwischen all dem wüsten Zeug lag. Einmal hatte ein toter Hund dagelegen. Sein Leib war furchtbar aufgequollen gewesen, so daß die Eingeweide hervorgesehen hatten. Starr, mit verdrehten weißlichen Augen und steif abgereckten Pfoten hatte der Kadaver dagelegen. Tom war hier in der einsamen Ödenei von einem Grauen vor dem halbverwesten Vieh ergriffen worden, aber er hatte sich trotzdem gezwungen, es eine Weile zu betrachten und dabei alle möglichen Gedanken gehabt. Außerdem war es aber solch ein silbergrauer Rattler gewesen, und er mochte die Rattler gern. Und so hatte es ihm leid getan, daß das Tier nun hier in all dem Unrat dalag und verweste.

Doch auch auf alle möglichen unscheinbaren Kleinigkeiten konnte er gelegentlich dieser Streifen achten. So war auf dem Bollwerk an manchen Stellen allerlei vertrockneter Vogelkot. Tom warf einen Blick auf ihn und dachte, er sähe schön aus mit seinen zarten rötlichen, bläulichen, violetten oder lila Farbentönen, die sich in ein feines Weiß hineinspielten; so schön, als hätte es ein Maler mit Bedacht und Absicht hier auf den schwarzgeteerten Untergrund aufgemalt.

Ein andermal war er aber zur Herbstzeit in der Stadt durch eine stille, einsame Seitenstraße gegangen. Die Straße hatte sauber asphaltierte Bürgersteige gehabt, die von Bäumen flankiert gewesen waren. Es war aber ein leichter Wind gegangen. Nicht gleichmäßig, sondern mit solchen gelegentlichen Stößen. Mit einemmal aber hatte er, als er gerade seinen Gedanken hingegeben vor sich niederblickte, ein ganz winziges, ganz dünnes Papierscheibchen gesehen, noch nicht mal so groß wie ein Linsenkorn war es gewesen. Und dies Scheibchen war genau auf seinem Rand schnell eine ganze Strecke über den Bürgersteig hin vorwärts gelaufen. Plötzlich aber war es gegen einen Haufen welken Laubes angerannt, und im selben Augenblick war der ganze Haufen wie toll vor ihm her über den Bürgersteig hin vorwärts gelaufen. Zuerst war er ganz betroffen gewesen, denn es hatte genau so gewirkt, als hätte das winzige, dünne Scheibchen durch seinen Anprall den ganzen großen Laubhaufen in diese tolle Bewegung versetzt. Er hatte sich dann zwar gesagt, daß der Windstoß, der das Scheibchen getrieben, erst in dem Moment, wo das Scheibchen gegen den Haufen angerannt war, auch diesen erreicht und in Bewegung gesetzt hatte, aber es war doch täuschend so gewesen, als hätte ihn das Scheibchen in Bewegung gesetzt. Jedenfalls hatte er die Sache nie wieder vergessen, und sogar noch in späteren, reiferen Jahren knüpfte er bestimmte Erwägungen an den sonderbaren kleinen Vorfall.

Sehr viel trieb er sich auch in der Stadt umher, sowohl in den Straßen und Gassen beim Strom, wie in der inneren Stadt. Und was er hier alles bemerkte und aufnahm war unglaublich. Er sah schon geradezu alles.

Einmal hatte er einen Bettler beobachtet. Er hatte ihn vor sich her auf dem Bürgersteig gehen sehen und war ihm in einer gewissen Entfernung gefolgt. Es war ein Mann mit einem struppigen, schon angegrauten dunklen Vollbart, mit schrecklich zerrissenen Schuhen, einem alten zerlumpten, erdfarbigen Anzug, einem zerbeulten, verschossenen Filzhut und einem kaffeebraun verbrannten Hals mit Rissen und Furchen drin, die von schwarzem Schmutz ausgefüllt waren. Mit einem x-beinigen Gang, den Kopf, als ob er fröre, vornüber zwischen den hochgezogenen Schultern, hatte er sich an den Häusern hingedrückt. Ehe er in ein Haus hineinging, um zu betteln, war er erst stehen geblieben und hatte sich unauffällig umgesehen, ob kein Polizist in der Nähe wäre. Als er in das eine Haus hineingegangen war, hatte Tom erst eine Weile gewartet, und war dann langsam, vorsichtig nachgegangen, um zu sehen, wie er bettelte. Und dann war er ihm nach behutsam die Treppen hinaufgestiegen. Auf dem ersten Treppenflur hatte der Bettler haltgemacht. Tom hatte gehört, wie er im Halbdunkel mit verschleimter Brust geröchelt und gepustet und halblaut was vor sich hin geblubbert hatte. Dann aber hatte er sich gewundert, daß der Bettler nicht klingelte, sondern weiter hinaufstieg, und dann auch noch die anderen Treppen bis zum obersten Flur. Dort hatte er eine Minute gewartet, war dann leise auch noch die Bodentreppe hinaufgestiegen und hatte dort behutsam auf die Klinke der Bodentür gedrückt. Aber sie war verschlossen gewesen, und der Bettler hatte etwas vor sich hin gebrummt. Er war dann leise wieder herabgestiegen und hatte jetzt erst in der dritten Etage geklingelt. Es war jemand erschienen, der Bettler hatte eine jämmerliche Verbeugung gemacht und mit einer kläglichen, halb weinenden Stimme was gesagt, und dann hatte er auch was bekommen. Als er dann aber zum zweiten Flur herabgestiegen war, hatte Tom beobachtet, wie er das Geldstück in seinen dreckigen, verrunzelten Händen umhergeworfen und verdrießlich vor sich hin geschimpft hatte. Dann hatte er im zweiten Flur geklingelt. Aber hier war die Tür gleich wieder zugeschlagen worden. Der Bettler hatte geschimpft und gegen die Tür hin eine Faust gemacht. Auf dem ersten Flur hatte er wieder Geld bekommen und außerdem ein Stück Brot. Aber das Brot hatte er nachher einfach auf den Flur geworfen. Auch unten im Parterre hatte er auf sein klägliches Bitten hin Geld bekommen. Dann hatte er sich wieder auf die Straße hinausgeschoben. Tom hatte sich gleich gewundert, warum der Bettler anstatt gleich unten, oben zu betteln angefangen hatte. Aber er hatte dann überlegt, daß sie ihn ja, wenn er unten angefangen hätte, gleich hätten aus dem Hause werfen können. Wenn sie ihn aber hinauswarfen, nachdem er schon im ganzen Hause gebettelt, so konnte es ihm ja einerlei sein.

Er hatte ihm nachher auf der Straße noch einen Fünfer geben wollen, doch er hatte daran gedacht, daß er das schöne Brot weggeworfen, und so hatte er's gelassen.

Dann waren da die öffentlichen städtischen Arbeiten: die Kanalisationsarbeiten, die Straßenpflasterungen, die Asphaltierungsarbeiten, das Hochspannen der Telegraphen- und Telephondrähte, das Einsenken der Kabel. Die Postarbeiter, die hoch oben auf den Dächern schwindelfrei auf den großen Eisengerüsten standen, um die Drähte in den kleinen, weißen Porzellannäpfchen zu befestigen, die Drähte, die wie lange, steife Nebelstreifen kreuz und quer über- und untereinander hin sich über die Straßen und Dächer zogen, in der hellen Sonne wie rotgoldene Pfeile blitzten, und mit denen man unzählig über die ganze Stadt, über Land, schließlich gar über die ganze Erde hin miteinander sprechen konnte. Ähnlich war es mit den unterirdischen Kabeln und den Wasserleitungen: wie ein riesiges unterirdisches Netz zogen sie sich unter der ganzen Stadt hin und in das Land und in die Welt hinaus.

Er bewunderte die Arbeiter, welche die langen, tiefen Gräben aufwarfen, um die dicken eisernen und tönernen Rohre hineinzubringen und da unten in schlammiger Erde und dicker, dumpfer Luft zusammenzufügen. Manchmal konnten sie dabei auch verunglücken.

Oder die Straßenpflasterungen. Er mochte es gern, wenn die großen, schweren, eisernen Pflasterrammen auf die Pflastersteine niederkrachten. Jede hatte ihren eigenen Ton, und wie sie alle zusammen eine nach der anderen niederkrachten, war das wie eine vielstimmige Musik. Er bewunderte die Kraft und die mächtigen Muskeln an den von Sonne und Luft gebräunten nackten Armen der Pflasterer, ihre breiten Rücken und Brustkasten, die sich durch die bunten Wollhemden durchzeichneten. Er beobachtete auch, daß sie nicht hastig drauflos arbeiteten und sich überstürzten, sondern sich Zeit nahmen und ihre Kraft sparten. Gern hielt er sich in ihrer Nähe auf, wenn sie aßen und sich ausruhten. Sie tranken zu ihren mächtigen, dicken Butterbroten, zu denen sie Fleisch oder Wurst aßen, Bier aus Bierflaschen oder kalten Kaffee aus blauen Blechkruken. Dabei lachten sie, machten Späße oder erzählten sich was, oder sie saßen auch still da und sahen vor sich hin, oder lagen lang hingestreckt, den Rock oder einen Sack oder einen Lederranzen unterm Kopf und schliefen. Obgleich sie sich manchmal schimpften und zankten und das recht grob und roh klang, hatte Tom sie doch gern.

Aber er liebte es auch, sich in den Hauptstraßen aufzuhalten und den Verkehr zu beobachten, der sie anfüllte. Das Hin und Her, Gedröhn und Gerassel der elektrischen Trambahnwagen, die immer dick voll von Passagieren waren, die Kutschen, Droschken, Automobile, Radfahrer, die Lastwagen und Reklamewagen, die Wagen der Straßenverkäufer. Oder die Droschken- und Autodroschkenstände beim Bahnhof. Das Hin und Her des Bahnhofverkehrs. Das Donnern und Rasseln und Klirren der ein- und auslaufenden Züge, das gelle Pfeifen oder dumpfe Heulen der Lokomotiven. Der Steinkohlendunst, den er gern mochte, denn er machte ihn reiselustig oder führte doch seine Gedanken in die weite Welt hinein. Oder die vielen schönen Schaufenster in der Hauptstraße. Die vielen gut gekleideten Menschen, die an ihnen hin promenierten, besonders gegen Mittag und abends. Auch die düsteren, engen, winkligen Gassen, wo die geringeren Leute oder die ganz Armen wohnten, interessierten ihn, und er beobachtete auch hier alles, was es zu sehen und zu hören gab. Oder die Anlagen vor dem städtischen Museum. Hier saßen immer Leute auf den Bänken umher. So hatte er da eine alte Frau entdeckt, die immer auf derselben Bank saß. Um zwölf Uhr aß sie da ihr Mittagessen. Sie hatte ein über und über von großen und kleinen, scharfen Runzeln bedecktes, ganz verknittertes, lederfarbenes Gesicht mit einem großen, wulstigen, blaulippigen Mund, aus dem ein paar Zähne hervorstanden. Die vielen Runzeln gaben ihren wasserblauen, nässenden Augen etwas Mürrisches. Sie trug ein schwarzes, gestricktes Wolltuch über ihr weißes Haar geknüpft, hatte eine alte, fleckige, olivig verschossene Plüschjacke an, unter der sie eine verwaschene, geflickte blaue Leinenschürze trug. Unter der Schürze sah dann noch, knittrig und verschossen, ein altes gelbbraunes Kleid hervor. An den Füßen hatte sie große, alte, dicke schwarze Tuchschuhe mit Kappen von Leder und Ledersohlen. Tom dachte, daß sie wenigstens warm hielten. Sie war eine ganz, ganz arme Frau. Mittags hatte sie immer einen braunirdenen, drahtumflochtenen Henkeltopf, aus dem sie mit einem alten Blechlöffel aß. Er erriet, daß sie sich in dem Topf ihr Essen aus der Suppenanstalt des städtischen Frauenvereins holte. Großmama gehörte auch zum Frauenverein. Mutter aber nicht. Mutter sagte, sie hätte zu so was keine Zeit, sie hätte zu Hause schon genug zu tun.

Es sah ganz und gar nicht schön aus, wenn die Frau aß. Ihre alten, lederfarbenen, verknurzelten Hände, die dicke, welke Adern und an den Gelenken Knoten hatten, zitterten, und dann lief ihr immer wieder etwas von der Suppe zum Löffel und zum Mund heraus und kleckte manchmal auf die alte Plüschjacke. Aber er sah ihr trotzdem zu, denn er schämte sich über den Ekel, den es ihm verursachte, weil ihm die alte Frau, die gewiß niemand mehr auf der Welt hatte, leid tat. Einmal hatte er sich nah zu ihr hingeschlichen, um zu sehen, was sie äße. Es war eine Linsensuppe gewesen, und in ihr waren so ein paar dünne Scheibchen von ganz fettem Schweinefleisch. Diese Scheibchen nahm die Alte mit ihren zittrigen Fingern aus dem Topf und aß sie aus den Fingern, was so unappetitlich aussah, daß Tom beiseitesehen mußte. Er dachte aber: »Na, es sind zwar nur solche dünnen Linsen und solch altes, fettes Schweinefleisch, aber sie hat doch wenigstens zu Mittag immer was zu essen.« Einmal aber hatte er gesehen, wie sie einen schönen, purpurgeflammten Apfel in der Hand hielt und aß. »Oh«, hatte er erfreut gedacht, »das ist doch sehr schön, sie hat doch manchmal wenigstens solch schönen Apfel zu essen.«

Nie aber redete er sie an, wie er überhaupt bei solchen Streifereien niemand anredete. Nur im Notfalle, wenn er durchaus mal fragen mußte, tat er das. Er hatte einmal versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, doch die Leute verstanden seine Sprechweise nicht, und so ließ er's.

Es geschah aber auch, daß er manchmal bei solchen Stadtstreifereien die komischen Eigenschaften an den Gestalten und dem Benehmen der Menschen wahrnahm, und daß er dann wohl auch aus seiner halb unbewußten feineren Hingegebenheit heraus alle möglichen sonderbaren Bezeichnungen für sie fand. Manchmal hingen ihm solche Ausdrücke und Begriffskarikaturen an; er war genötigt, sich ihrer zu erinnern; und das konnte ihm oft lästig werden, weil er sich eigentlich seinem ganzen Wesen nach nichts draus machte. Doch es bedeutete überhaupt einen merkwürdigen Umstand, daß er seit seiner Genesung angefangen hatte, Karikaturen zu zeichnen. Früher hatte er das nie getan. Er hatte immer gern und viel aus freier Phantasie gezeichnet. Ganze Bogen voll. Immer mit dem Bleistift. Meist liebte er's, Gruppen, und möglichst zusammengesetzte, zu zeichnen, die in lebhafterer Bewegung standen. Etwa Schlachtenbilder oder auch große Landschaften, auf denen immer eine Stadt mit Wällen und Türmen, Dörfer, Felder, Wälder, Wiesen, eine Burg auf einer Berghöhe, ein Fluß mit einer Brücke und Fahrzeugen sein mußten. Auch Leute in vielerlei Beschäftigungen: Hirten, Mäher, Floßknechte mit ihren Ruderstangen. Nach der Krankheit aber, und wohl infolge der tief in sein Wesen eingreifenden voraufgegangenen Erlebnisse, war er eines Tages, als er gerade keinen Bleistift zur Hand hatte, darauf gekommen, mit der Feder zu zeichnen; und seitdem benutzte er mit Vorliebe die Feder. Aber es wurden Karikaturen. Und von da an zeichnete er bewußt Karikaturen. Doch nicht ausschließlich. Und außerdem war es seltsam, daß er sich nichts daraus machte, daß er's nie mit einer eigentlichen Lust an der Schadenfreude tat.


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