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31.

Ein halbes Jahr nach dieser Wanderung war Ralph eines Tages verschwunden, Tom aber erhielt einen aus Plymouth datierenden Brief folgenden Inhaltes:

»Lieber Korb, da es ein unabweisliches Bedürfnis meines sogenannten Herzens zu sein scheint. Dir zur Mitteilung, daß ich definitiv unterwegs bin. Aber der Teufel schlag' Dir den Schädel ein, wenn Du jemand ein Wort sagst und dieses Breve nicht auf der Stelle verbrennst! Übrigens schreib' ich Dir ja nicht, wohin die Tour geht. Also basta! – Ich habe meinem Alten 5000 Mark geklemmt. Kann ihm doch egal sein, was? Ich denke, sie werden für den Anfang reichen. Zurückkommen gibt's diesmal nicht. – Rutsch' mir den Buckel runter! – Rau.«

Wieder ein halbes Jahr später, als Tom Obersekundaner war, zu einer Zeit, wo er nun bereits der Schwelle, über die er in die großen, neuzeitlichen Lebensverhältnisse eintreten sollte, nicht mehr fern war, sollte noch einmal eine Bekanntschaft an ihn herantreten, die sein Innenleben in eine ernste und tiefer einschneidende Unruhe versetzte.

Auch Harry Silvercron war der Sohn eines Großkaufmannes, eines naturalisierten Dänen. Er saß bereits ein Semester in Obersekunda, war also ein »Alter«, und im übrigen ein Mensch, der an niemand in der Klasse Anschluß hatte. Er war kleiner als mittelgroß, von schmächtiger, schwächlicher Gestalt. Er hatte ein bleiches Dantegesicht mit einem schmallippigen, festgeschlossenen Mund, zu dem sich von der scharfen Nase herab zwei frühzeitige Falten zogen, was ihm den Ausdruck eines unbestimmten Alters gab. In diesem Gesicht saßen unter dem scharfen Rand einer hohen Stirn zwei runde, brauenlose Grauaugen, die zugleich verstandeskühl und wie in einer Verzweiflung erstarrt wirkten. Diesem scharf geprägten Schädel legte sich, peinlich sauber von einem auf der linken Seite nahe bei der scharfen seitlichen Schädelkante gezogenen Scheitel nach der anderen Seite gekämmtes dünnes, rötlichblondes Haar glatt an; in einer Weise, daß es sich ausnahm, als trüge Harry Silvercron eine Perücke, und als müßte wenn man ihm diese Perücke abnähme, ein völlig kahler Schädel zum Vorschein kommen, der sein Haar irgendeinmal infolge eines schweren Nervenfiebers verloren hätte. Dies glatt angekämmte Haar gab einen Ausdruck von nüchterner Korrektheit, Pedanterie und Eigensinn, der noch betont wurde durch einen schicken mausgrauen Sakko-Jackettanzug, dessen Tuch einen seidigen Schimmer hatte, und durch den Umstand, daß er zu diesem schicken Anzug einen zwar gleichfalls peinlich sauberen, aber ganz aus der Mode gekommenen weißen Klappkragen trug, aus dem vorn ein nüchtern glattes, schwarzes Krawattchen hervorsah, während das steifgeplättete Hemd vorn auf der platten Brustfläche zwei schwarze Knöpfchen zeigte; und solche Knöpfe hatten auch die steifen, weißen Manschetten, die immer aus den Ärmeln heraus auf seine langen, bleichen, hageren Hände fielen, die scharfe Knöchel und nervös hervortretende Adern hatten. In der rauhen Jahreszeit trug er einen gleichfalls mausgrauen Ulsterüberrock. Auch sah man ihn nie anders als mit einem runden, steifen, niedrigen, schwarzen Filzhütchen, das eine breite, steife, doch am äußersten Rand etwas aufgebogene Krempe hatte. Am Mittelfinger der linken Hand trug er einen goldenen Ring mit einem blaßgrünen Edelstein.

Dieser Harry Silvercron hatte an einem Junitage, kurz vor Toms Geburtstag, in der großen Pause des Vormittagsunterrichtes mit dem Rücken gegen das eine der drei Klassenfenster gelehnt gestanden und unverwandt zu Tom hinübergeblickt, der drüben, wo die »Neuen« saßen, in seinen Thucydides vertieft, auf seinem Platze gesessen hatte, ohne eine Ahnung zu haben, daß er von Silvercron, mit dem er bisher weder ein Wort gesprochen noch auch einen Gruß gewechselt hatte, beobachtet wurde. Als er dann aber zufällig mal von dem Buch aufgeblickt, hatte sich sein Blick mit dem Silvercrons begegnet.

Er wollte seine Aufmerksamkeit gleichgültig schon wieder ablenken, als ihm mit einemmal vorkam, als ob Silvercron, der da drüben nach wie vor regungslos dastand, ihn fixiere. Teils weil er sich dessen vergewissern wollte, teils aus einem plötzlich erwachten Interesse, ließ er seinen Blick verweilen, und so geschah es, daß sie einander etwa eine Minute ansahen.

Dann aber kam ein Moment, wo Silvercron, ohne aber seine Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden, sich von seinem Standort entfernte und mit seinem lässig trottenden, hängeschulterigen Gang durch die Klasse her auf Tom zukam.

Er trat heran und sagte mit seiner farblos dünnen, nüchternen Stimme, die aus irgendeinem Grunde aller Augenblicke eine Pause machte:

»Körber, kennst du ›Les Aveugles‹

Tom starrte ihn an, dann aber lachte er und sagte: » ›Les Aveugles?‹ – Wie denn?«

Silvercrons Gesicht nahm einen bis zum Verzweifeln ängstlichen Ausdruck an, wobei seine grauen, brauenlosen Augen Tom jedoch unablässig ansahen.

»Entschuldige ... Ich – komm' dir sonderbar vor.« Er sah einen Moment auf seinen langen, bleichen, hageren Zeigefinger nieder, dessen peinlich gepflegter Nagel auf die schwarze Subsellienplatte tippte. »Aber ... Ich meine ... ›Les Aveugles‹. Ja, von Maeterlinck, Maurice Maeterlinck – Ein Drama. – Ein Einakter. – Entschuldige: kennst du Maeterlinck?«

»Nein.« Tom, der noch immer nicht wußte, was er aus der Sache machen sollte, lachte abermals.

»Ach, du hast ... Aber doch wohl dem Namen nach?«

»Kann sein. – Ja.«

»Ja ... Nein ... Verzeih' doch.« Silvercron ließ ein sonderbares kleines Ächzen hören, zog sein Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn und sah hilflos umher. »Verzeih'! – Ich ... Die Pause ist ja gleich zu Ende ... Ich muß zu meinem Platz 'nüber.«

Aber da hatte er schon mit einem hastig entschlossenen Griff in seine linke innere Brusttasche gegriffen, aus der seine Hand jetzt mit einem sauberen, gelbbroschierten Heftchen zum Vorschein kam, das er schnell vor Tom hin auf die Subsellie legte.

»Ich bitte, ich bitte dich recht sehr. Körber: Lies es! Lies es doch mal! – Nimm es mit nach Hause und lies es.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als er auch schon ein Ende von Tom fort war, so daß dieser ihn nur noch in fliegender Hast mit seinen dünnen, wadenlosen Beinen durch die Klasse sich auf seinen Platz zubewegen sah. Als der Unterricht nachher aber zu Ende war, konnte er wahrnehmen, wie Silvercron drüben eilig seine Bücher zusammenraffte, den Hut von der Knagge nahm und aus der Klasse förmlich hinausrannte.

»Er denkt, ich gebe ihm das Buch zurück«, dachte Tom, der ihm nachsah.

Er hatte das Buch also, und so las er es denn auch; aus psychologischem Interesse an Silvercron.

Schon am nächsten Tage wollte er es ihm dann zurückgeben. Doch Silvercron fehlte. Und er fehlte eine ganze Woche lang.

Er war zwar kränklich und blieb öfters für längere Zeit aus der Schule; doch zweifelte Tom, daß er diesmal aus einem anderen Grunde fehlte, als weil er durchaus wollte, daß er das Buch für längere Zeit behielte.

Das Drama selber – es war also die französische Originalausgabe – hatte auf Tom mit seiner stammelnden, angstgepeinigten Sprache und seiner furchtbaren Situation einen peinlichen Eindruck gemacht; obgleich er es, als er darüber näher nachdachte, in einer gewissen Hauptpointe, die es haben sollte, für verfehlt halten mußte. Er hatte also für diese » Aveugles« gar nichts übrig.

Doch hatten sie ihn mit Bezug auf Silvercron selbst interessiert.

So was las er? Und im Originaltext, nicht in Übersetzung? Und er war auf den Einfall gekommen, es ihm zu lesen zu geben? Was hatte er damit gemeint? Suchte er näheren Verkehr mit ihm, oder was sollte es sonst heißen? Wollte er sich interessant machen, posieren? Halb war die Geschichte wirklich unheimlich, dachte er, so komisch sie ihm sonst auch erschien. Immerhin gehörte doch aber eine gewisse Reife dazu, daß er solche Sachen las.

Alles in allem erwartete er also Silvercrons Wiedererscheinen in der Klasse nicht ohne Spannung.

Nach Ablauf der Woche war Silvercron denn auch eines Tages wieder vorhanden. Tom war an diesem Tage etwas zu früh in die Schule gekommen, doch Silvercron war schon da.

Der Umstand belustigte Tom.

»Hier bring' ich dir, mit Dank, das Drama wieder, Silvercron«, sagte er, wahrend er an ihn herantrat. »Ich hab' es gelesen. – Es ist ja ganz interessant. – Aber verstanden Hab' ich, muß ich gestehen, nicht viel davon.«

Silvercron hatte das Heftchen entgegengenommen und es unbewußt leicht durchblättert.

»Ich danke dir, daß du's gelesen hast, Körber!« sagte er dann, Tom mit seinen grauen Augen ansehend.

»Warum hast du's mir eigentlich aber gegeben?« fragte dieser.

Silvercron bewegte für einen Augenblick seine Hängeschultern auf und nieder, dann aber sagte er:

»Ich danke dir, ich danke dir sehr. – Nämlich ... Ich versteh' es vielleicht auch nicht. – Das heißt: Ich möchte ... So in einer gewissen Hinsicht möcht' ich es erst verstehen lernen, mein' ich. – Ist es ... Ich meine ... Also: ist es dir vielleicht recht ... Wenn es dich nicht stört, natürlich ... Würdest du mir den großen Gefallen tun? Gerade mit dir, Körber, möcht' ich so gern mal über das Drama sprechen ... Ich meine nicht jetzt ... Ausführlicher! Bei einer Gelegenheit, wo wir uns dafür Zeit nehmen können.«

»Ja, aber ... Wie kommst du eigentlich gerade auf mich?«

»Ja! – Doch! – Gerade mit dir! – Darf ich dir ... Wir haben jetzt ja keine Zeit dazu ... Aber: darf ich dir einen Vorschlag machen? Spielst du Billard?«

»Spielst du denn Billard?« konnte Tom sich nicht enthalten zu fragen.

»Ja, ja. – Spielst du?«

»O ja.«

»Boule oder Karambolage?«

»Karambolage natürlich am liebsten«, lachte Tom.

»Oh, sehr gut! Ich ja auch«, antwortete Silvercron. »Gut! – Also, hättest du Lust? Heute abend zwischen neun und zehn Uhr, sagen wir: pünktlich einhalb neun Uhr, im oberen Billardsaal von Café Voth? – Du tätest mir einen so großen Gefallen, ich würde mich so freuen!«

Tom hatte in diesem Augenblick den Eindruck, als ob Silvercrons Backen eine seine Röte angenommen hätten; jedenfalls zeigten sich seine Augen von einer freudigen Erregung belebt.

»Gut, ja! Ich werde kommen«, sagte er.

»Oh, ich danke, danke dir! Wie sehr ich dir dankbar bin!«

Tom fühlte sich betroffen. Silvercron hatte mit einemmal so ein sonderbares, schluchzendes Lachen hören lassen; fast nahm es sich aus, wie das ein- und ausgezogene Geschrei eines Esels. Außerdem hatte Silvercron aber seine Hand ergriffen, die er mit einem so kräftigen Druck preßte, daß Tom sich wunderte. Nie hätte er dem kleinen, schwächlichen, kränklichen Menschen solche Kraft zugetraut.

»Du kommst, Körber! Du kommst also! – Es freut mich so sehr, so sehr! – Übrigens – das Wetter ist ja heute so herrlich! Die Rosen blühen! Wir werden Vollmond haben!«


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