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4.

Als der kleine Tom zwei Jahre geworden, war die Harbingsche Art schon mit aller Unverkennbarkeit an ihm zutage getreten.

Genau wie Anton Körber gelegentlich vorausgesagt, hatte er schwarzes Kraushaar und graue Augen. Auch sein, im übrigen nach dem Körberschen Schlag kräftiger, aber ungewöhnlich wohlgebildeter Körperbau schien zu verraten, daß er sich einst, im Gegensatz zu Detlevchen und Karlchen, die echt stämmige, bedächtig verständige kleine Körbers waren, zu geschmeidiger Schlankheit entwickeln werde.

Außerdem aber fiel es auf, daß er ein sehr lebendiges kleines Quecksilber wurde, das mit unglaublicher Betriebsamkeit, übrigens mit echt Körberscher Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit, auf eigene Faust in allen Ecken und Winkeln herumlief, kroch, wuselte und seine oft schon gefährlichen Entdeckungsreisen bewerkstelligte, von denen er mit naiver Aufrichtigkeit und Wißbegier eine Unmenge so beharrlicher wie stürmischer Fragen ans Tageslicht brachte.

Das wurde seiner Muter, die er mit ihnen bis in ihre Küche hinaus verfolgte und so bei der Arbeit störte, oft recht lästig, so daß sie ihn zuweilen schalt oder kurzerhand hinausschob; ein Verhalten, das er jedoch merkwürdigerweise mehr beachtete und gleichsam beobachtete, als daß er es übel aufnahm oder gar zu heulen anfing, außer wenn es ihm gelegentlich durchaus darauf ankam, eine Antwort zu bekommen.

Im allgemeinen war in diesem Wesen aber nichts, was Lise eigentlich befremdet hätte, da sie ja außerdem bei ihrer gesunden Art und ihren prächtigen Nerven über die echte mütterliche Geduld verfügte. Aber es kam doch vor, daß der Kleine Fragen stellte, die sie verwunderten, manchmal auch in Verlegenheit versetzten, weil sie sie von Detlevchen und Karlchen nicht gewohnt, ihre Intelligenz wohl auch nicht immer geschmeidig genug war, sie zu beantworten.

Direkt befremdet fühlte sie sich zuweilen wohl auch durch die stilleren und nachdenklicheren Augenblicke des Kleinen; befremdet bis zu einem wirklichen, wunderlichen, kleinen Gefühl von Fremdheit und anderer Art.

Der kleine Tom hatte solche Augenblicke aber gar nicht selten.

So kam es etwa vor, daß er minutenlang ganz still vor ihr stand oder saß, oder aus einem Winkel von seinem Spielzeug her unverwandt stumm forschend zu ihr hinblickte. Oder er hockte, das Gesicht auf den Fäustchen, auf einem Stuhl am offenen Fenster und beobachtete mit weiten, aufmerksamen Augen irgend etwas unten im Garten; oder auch er hielt die Augen gen Himmel aufgerichtet und vertiefte sich, was er besonders gern zu tun schien, minutenlang ins wolkenlose Blau, oder verfolgte mit dem Blick eine weiße Wolke. Oft fand Lise ihn auch in einer Ecke, wo er mit nachdenklicher Aufmerksamkeit eine Spinne oder sonst etwas beobachtete. Zuweilen aber saß er auch bloß so ganz still und in sich versunken da.

Und dann geschah es denn wohl auch, daß er mit einer ganz besonders wunderlichen Frage zum Vorschein kam, die – ja, die sie manchmal direkt erschrecken konnte.

So hatte er sie eines Tages aus solch einer Versunkenheit hervor ganz plötzlich mit seiner, besonders wenn er eifrig war, etwas zu schnellen und sich überstürzenden Sprechweise gefragt:

»Ma'! Ma'sen! Wo B'itzeding, mach' imma 'ack – 'ack – 'ack – 'ack?«

Lise hatte von ihrer Arbeit aufgeblickt und ihn verwundert angesehen, sich Mühe gebend zu erraten, was er meinte. Schließlich war sie auf den Gedanken gekommen, er meine die Standuhr, und hatte gelacht, mit der Hand auf die Uhr gezeigt und gesagt:

»Na, du Dummer! Da is sie doch? Die Uhr?«

Aber ganz gegen seine gescheite Art hatte er Mutter nur eine ganze Zeit, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zur Uhr hinzuwenden, verwundert und verständnislos angestarrt, bis er sich mit einem Male eifrig zwischen seinem Spielzeug vom Boden in die Höhe gemacht, mit vor Eifer blitzenden Augen und hochroten Pausbäckchen zu ihr hergelaufen gekommen war und, »Tomm, Ma', Ma'sen! Tomm!«, sie so lange am Kleid gezerrt hatte, bis sie sich unter einem neugierigen, halb verwunderten Lächeln erhoben und von ihm hatte ins Schlafzimmer hineinziehen lassen. Hier aber hatte er ihr Kleid losgelassen, war eifrig zu der seinem Bettchen gegenüber befindlichen Wand hingerannt und hatte, an einer freien Stelle neben der Waschtoilette, beide Ärmchen steil weisend nach oben gerichtet, immer dicht an die Wand gedrückt, in die Höhe gehüpft und dabei gerufen:

»Ma'sen! Da! – Da! – B'itzeding, mach' imma 'ack – 'ack – 'ack – 'ack! – Wo hin isse, Ma'sen?«

Endlich hatte Lise verstanden. Aber zugleich war ihr vor Schreck und Staunen die Antwort in der Kehle stecken geblieben.

Sie entsann sich jetzt. Früher war da oben an der Wand ein Konsolchen gewesen mit einer kleinen Bronzeuhr drauf. Die Uhr war aber schon seit fast mehr als einem Jahr nicht mehr da. Gelegentlich war sie infolge einer Erschütterung heruntergefallen und entzweigegangen, und es war dann keine andere wieder hingestellt worden. Gewöhnlich hatte sie nun zwar im Schatten gestanden, so daß man sie nicht besonders auffallend hatte wahrnehmen können, aber gelegentlich mochte es wohl vorgekommen sein, daß vom Fenster her ein Lichtstrahl auf sie gefallen war, der die blanke Bronze hatte blitzen machen. Das mußte er dann ja wohl von seinem Bettchen aus gesehen und beobachtet haben. Doch wie war's möglich, daß er das noch wußte, da er damals doch kaum ein Jahr alt gewesen war, und daß er sich jetzt so ganz mit einem Male daran erinnerte?

Förmlich ängstlich hatte sie ihn angestarrt und nicht ein Wort über die Lippen gebracht. Als er sie dann aber eifrig weiter bestürmte, hatte sie endlich, doch ohne ihn, wie er sie mit beiden Ärmchen umfaßt hielt und an ihr hinauffragte, anzurühren, fast mit einer Scheu und mehr zu sich selbst gesagt:

»Ja, da hat eine Uhr gestanden; aber sie ist schon lange runtergefallen und entzweigegangen.«

Tomchen hatte sie darauf aufmerksam angesehen, dann, sich das merkend, gesagt: »isse 'twei 'tangen«, sich zufrieden gegeben und sich von ihr wieder ins Wohnzimmer zurückführen lassen, wo er dann ganz vergnügt und munter sich weiter mit seinen Spielsachen beschäftigt hatte, als ob weiter gar nichts gewesen wäre.

Bei einer anderen Gelegenheit aber hatte Lise mal einen Spaß mit ihm erlebt. Eigentlich war es freilich, von dem Schreck abgesehen, den er ihr gemacht, mehr eine Art von Genugtuung als ein Spaß gewesen.

Schon lange hatte Tom oben auf dem Ofensims natürlich das greuliche, alte, übellaunige Scheusal von Bronzedrachen, das sie für den Tod nicht ausstehen konnte, ja vor dem sie sich vielleicht im stillen und wohl gar aus einer kleinen abergläubischen Empfindung heraus ein wenig fürchtete, und die abscheulichen, dunklen, scheckigen Tigermuscheln wahrgenommen und sich förmlich erpicht gezeigt, mal da hinaufzugelangen und ihrer habhaft zu werden. Aber Lise hatte, als er ihr gelegentlich in seiner zähen, quecksilbrigen Weise damit zugesetzt, ihm die »Dinger« herunterzuholen, um vorzubeugen, daß er das irgendmal während ihrer Abwesenheit auf eigene Faust unternähme, halb im Ernst warnend zu ihm gesagt:

»Hu, nein, i wohl gar! Daß du den schlimmen alten Hund da oben ja nicht etwa mal runterholst, hörst du? Laß ihn da oben nur schlafen.«

»O, Ma', släft Hun'sen?« hatte er, den Finger am Mund, mit um so andächtigerer Begier nach dem Ofensims hinaufblickend, gefragt.

»Jaja, er schläft, er schläft! Aber wenn man ihn weckt und anfaßt, wird er bös und beißt einen in die Hand. Du kannst ja sehn, was er für ein gräßliches, großes Maul hat.«

»Sa.«

Leise, langsam war dies »sa« zum Vorschein gekommen, nicht ohne eine heimliche, begierige Nachdenklichkeit, die, wie es aber schien, doch mit einigem Respekt an dem abscheulichen alten »Spökeding« hing, und so hatte Lise geglaubt, einen Riegel vorgeschoben und Tom die »indische Ecke« vergrault zu haben.

Nicht ohne eine stille Spitze gegen die Schwiegermutter und die »Raritäten«, welche die da vorn in dem großen, alten, grauen Kasten von Haus in ihrem Zimmer hatte, war das Ofensims von ihr die »indische Ecke« getauft worden. Allerdings nur ganz für sich. Selbst ihr Mann hatte noch niemals diesen ironischen Spitznamen von ihr zu hören bekommen. Wie sie denn überhaupt so im stillen ihre eigene Welt für sich hatte und hegte, von der niemand in der Familie etwas erfuhr, sogar Anton Körber nicht, den sie gern mochte und mit dem sie sich aufgeschlossener unterhielt. Obgleich Anton wohl noch der einzige war, der in der Familie Vermutung und Verständnis dafür besaß, wieviel Witz, Humor, Munterkeit und überraschend gescheiter Einfall in ihr stak.

Aber da war es eines schönen Sommernachmittags geschehen, daß sie vom Wohnzimmer her in ihrer Küche ein ohrenzerreißendes Angstgeschrei vernommen hatte. Und als sie dann entsetzt aus der Küche nach vorn gestürzt war – da sie der Naumannschen gerade beim Aufwaschen geholfen, noch die Küchenschürze vor –, da hatte sie die Bescherung gesehen.

Unmißverständlich hatte unterm Ofensims der umgekippte Stuhl gelegen – es war zu verwundern, wie er den großen, schweren Stuhl überhaupt vom Tisch weg hatte zum Ofen hin bredouillen können –, und zwischen den mitherabgerissenen gräulichen alten Muscheln und dem Pappschächtelchen, von dem, in Gottes Namen und ihretwegen, ein paar Muschelchen los- und kaputtgegangen waren, lag Tomchen mit einer gehörigen Beule am Kopf und blutender Nase und heulte aus Leibeskräften, während oben das »olle Deert« mit seinem greulichen Rachen herunterfletschte.

Aber als sie sah, daß Tom, gottlob, sonst weiter keinen ernstlichen Schaden genommen hatte, beruhigte sie sich, und nicht ohne einer kleinen, nur ein ganz klein wenig bösen und fremden Schadenfreude Raum zu geben, sagte sie lachend:

»Nun? Siehst du's nun? Was hat Mutter dir gesagt? Hat er dich nun gebissen oder nicht?«

Tomchen hatte bei diesen Worten für einen Augenblick zu weinen aufgehört und verwunden zu Mutter in die Höhe gestarrt, dann aber hatte er sich erhoben, war zu ihr hingelaufen, hatte sich mit beiden Ärmchen an sie angeklammert und an ihrem Schoß seinen Schrecken ausgeweint. Eine Weile hatte sie ihn so weinen lassen, ohne weiter etwas zu sagen, dann aber hatte sie ihn ins Schlafzimmer geführt, ihm das Näschen gewaschen, die dicke Beule gekühlt, die er an der Stirn hatte, und sie mit dem Schürzenrand niedergedrückt, um ihrem weiteren Anschwellen Einhalt zu tun, und dann hatte sie ihn, um ihn vollends zu beruhigen, mit zu sich hinaus in die Küche genommen.

Im geheimen aber hatte sie doch eine ganz bestimmte Genugtuung empfunden über seine »verunglückte Fahrt nach Indien«, wie sie es spöttisch bei sich geheißen hatte. Tom aber hatte von da an, wie sich später seltsamerweise erwies, vor den »Raritäten« der »indischen Ecke« und allen Dingen ihresgleichen ein für allemal den gehörigen Respekt und eine Art von eingewurzelter Abneigung behalten.


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