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8.

Tom war gerettet.

Auch während der Genesung ließ Mutter ihm die fürsorglichste Pflege angedeihen. Seine blassen Bäckchen, seine von der Krankheit und dem Zubettliegen noch müden, noch nicht ganz sicheren Bewegungen erinnerten sie an die Angst, die sie in jener Stunde, wo sein Leben nur noch an einem Haar gehangen, um ihn ausgestanden, und sprachen zu ihrem feinen, so lebhaften Muttertrieb.

Jetzt, wo der Kleine wieder gesund wurde, kam die ganze Familie, um ihre Freude zu bezeugen. Großvater, Onkel Anton, sein Vater hatten Liebkosungen und liebreiche Worte für ihn, brachten ihm Spielsachen und Leckereien in solcher Vielzahl, daß er nicht wußte, was er mit allen guten Dingen anfangen sollte, und Detlev und Karlchen davon abgab.

Lise ihrerseits war mit diesen Aufmerksamkeiten nicht ganz einverstanden. Sie brummte und spottete im stillen darüber, beunruhigte sich wohl auch ein wenig in Tomchens Interesse, weil sie der Ansicht war, das viele »Zeugs« rege ihn auf und könnte ihm schaden.

Gelegentlich hatte die Schwiegermutter ein Gespräch mit ihr gehabt und ihr aus der unsäglichen Freude ihres Herzens heraus für die aufopfernde Pflege gedankt, die sie dem Kinde hatte zuteil werden lassen.

»Mein Gott, Lise! Wenn ich denke: Es ist ja ein wahres Wunder! Obgleich es ja der Wille und die Fügung des gnädigen Gottes gewesen ist. – Was bist du für eine wunderbare Mutter!«

Es war wohl nicht gerade besonders viel Takt in dieser Art von Anerkennung gewesen, Life hatte ein kurzes, trockenes Lachen hören lassen und gesagt:

»Ein Wunder? Ja freilich, die Läppereien und Pinseleien des Doktors hätten ihn wohl sicher nicht gerettet. – Was hat er denn getan? Ein dummes Gesicht geschnitten und die Achseln gezuckt, nachdem er alles gründlich verpfuscht. – Man darf ja gar nicht daran denken. – Ein Wunder? Wenn der vernünftige Einfall, daß ich ihm einen gewöhnlichen Salzhering um den Hals legte, ein Wunder sein soll: meinetwegen.«

Von dem Eigentlichen sagte sie nichts, sagte sie niemand etwas, selbst Karl nicht.

Einige herzliche Worte ihres Schwagers Anton hatten ihr aber wohlgetan. Es hatte sie von Herzen gefreut, daß er sie ein »prächtiges Weib« und »eine Mutter wie sie im Buche steht« genannt hatte.

Man hatte den kleinen Tom für die Zeit seiner Genesung in ein Zimmer getan, das nach dem Strom hinaus lag, und nach dem er aus eigenem Antrieb verlangt hatte. Um einen Rückfall zu vermeiden, ließ man ihn noch nicht ins Freie. Hier aber hatte er zu seiner Zerstreuung den Blick auf den Strom, den er sehr liebte.

Am liebsten war er hier allein. Seine Geschwister duldete er nicht, weil sie zu viel Lärm machten, sie wurden auch kaum zu ihm hereingelassen. Doch auch aus anderem Besuche machte er sich noch nicht viel. Selbst Großmama mochte er nicht zu oft. Am liebsten sah er gelegentlich noch Onkel Anton, der ihn gut zu unterhalten wußte. Auch Rosalie sah er gern bei sich. Man hatte Herbst, und sie mußte ihm Sträuße von buntem Laub mitbringen, über das er sich außerordentlich freute, das er zu bunten Figuren zusammenlegte, auf dem Fenstersims, dem Sofa, dem Tisch, dem Fußboden umherliegen hatte.

Rosalie brachte ihm wohl auch einen kleinen Strauß von jenen dunkelroten Georginen, deren sauber kristallartig geordnete Trichterchen nach innen so schön warm ins Purpurne sich vertiefen. Er liebte sie sehr und hatte sie in einer kleinen Vase bei sich auf dem Fenstersims stehen.

Vor allem aber waren ihm Mutters Besuche die angenehmsten. Sobald sie in der Tür erschien, wo sie in der Regel erst stehen blieb und ihn mit einem freundlichen Blick musterte, lief er zu ihr hin, umklammerte sie mit beiden Ärmchen, rief sie lachend an und hatte es ausnehmend gern, wenn sie ihn streichelte und ein paar liebkosende Worte zu ihm sprach. Überglücklich aber zeigte er sich, wenn Mutter – was sie sonst nie tat – sich bei einem solchen Besuch für seine Spiele, kleinen Einfälle und Beschäftigungen interessierte, sich von ihm etwas vorzeichnen oder aus dem Bilderbuch vorlesen ließ.

»Krank sein is hübsch, Ma'chen«, hatte er bei einer solchen Gelegenheit aus der Fülle seines Glückes heraus gesagt.

»Oh, dat glöv' ick sülven, Jungchen«, hatte Mutter geantwortet. »All so hövsche Saken!«

Der kleine Tom hatte sie einen Augenblick aufmerksam angesehen, dann aber seinen Kopf auf ihrem Schoß verborgen, gezappelt und gelacht.

Das Kind wußte genau, was Mutter für ihn ausgestanden hatte, und es wußte, daß er ganz beinahe hätte sterben und ins Grabloch getan werden müssen, aus dem er nie, nie wieder herausgekonnt hätte, über das alles hatte er jetzt hier nachgedacht, und auch über den sonderbaren Augenblick, wo er schon nicht mehr hatte sprechen und keine Luft mehr hatte kriegen können. Mutter hatte ihm zugerufen, daß er sterben müsse, wenn er den Trank, den sie ihm gereicht, nicht austränke. Er hatte in jenem Augenblicke nicht gewußt, was mit ihm war, er hatte nur gesehen, daß Mutter Angst hatte und weinte, und das hatte ihn erschreckt und er hatte getrunken. Es war ihm nur so furchtbar langweilig gewesen und so heiß und unruhig, und als ob er ein bißchen anfinge schwindlig zu werden. Aber daß das so etwas Furchtbares zu bedeuten gehabt, das hatte er nicht gewußt. Jetzt aber dachte er über Mutters Angst nach, rief sich alles ins Gedächtnis zurück und suchte es zu verstehen, suchte auch mit einer wunderlichen Neugier zu verstehen, wie das wohl gewesen wäre, wenn er wirklich gestorben wäre? Vor allem aber erinnerte er sich immer wieder daran, wie Mutter mit einemmal laut geweint hatte, wo er Mutter doch überhaupt noch niemals hatte weinen sehen. Und er begriff, daß Mutter ihn sehr lieb hatte, und zum erstenmal, wie lieb er selber Mutter habe.

So hatte sein erwachender Verstand durch das Erlebnis der Krankheit einen neuen Trieb getan. Und das äußerte sich in allem, was er jetzt tat, sogar in seiner Sprechweise. Für alles hatte er eine feinere, bewußtere Wahrnehmung gewonnen. Wenn er etwas zeichnete oder schrieb, wenn er die schönen bunten Herbstblätter zu Figuren zusammenlegte, von den Früchten, dem Kuchen, dem Konfekt aß, die ihm gebracht wurden, wenn er die Bilderbücher besah und drin buchstabierte, oder wenn er an dem großen, hellen Fenster hockte und, das Gesicht zwischen den Fäustchen, zum Strom hinübersah, erwuchsen ihm und webten Gedanken und Wahrnehmungen, die er noch nie gedacht und wahrgenommen und knüpften Beziehungen und Zusammenhänge untereinander in seiner kleinen, erwachenden Seele.

Sehr gern hockte er so am Fenster und sah, die Stirn an die Scheibe gedrückt, auf die Straße oder zum Strom hinüber, neben sich auf dem Fensterbrett die kleine Vase mit dem Georginensträußchen.

Es war andauernd schönes, sonniges Herbstwetter. Die Straße hatte auf der anderen Seite keine Häuser, so daß man das weite Panorama des Stromes und seines jenseitigen Ufers drüben im Osten und nach links und rechts weit stromauf und stromab alles überschauen konnte.

Über eine grüne, von ein paar Büschen bestandene Grasfläche mit Gänseblümchen hinweg, sah man die Lagerstrecken mit ihren Frachtgütern und den zwischen ihnen beschäftigten Streckenarbeitern sich zum Wasser hinabziehen. Der Wagenverkehr unten auf dem Fahrdamm war nur gering und störte nicht, denn die eigentlichen Lastfuhrwerke benutzten einen gepflasterten Weg jenseits des Grasplatzes. So konnte man sehen, wie auf den weiten Strecken die Arbeiter zwischen dunkelbraunen und schwarzen Kohlenhaufen, lichtgelben Holzstapeln, gelben, grauen, braunen und rötlichen Säcken, blauen, roten, schwarzbraunen Fässern, Petroleumballons, die in großen geflochtenen Körben staken und riesige dunkelgrüne Flaschen waren, Tierhäuten, die solch einen unangenehmen, dumpf scharfen Ruch ausströmten, roten und weißlichgelben Mauersteinhaufen hantierten, und wie noch weiter unten die großen, schwarzen Krane mit ihren steifen Riesenarmen, ganz als ob sie lebendig wären und das von selber täten, die Güter von den Zillen und Frachtdampfern auf die Strecken herüberholten.

Die grünlichgelben, beständig von dem vielen Schiffsverkehr erregten Wassermassen des Stromes schimmerten und blitzten im Licht der Oktobersonne. Mit scharfem, mißtönigem Geschnarr schleppten die schwarzen Kettendampfer die langen Reihen der Frachtkähne gemächlich hinter sich her. Manche von den Kähnen glitten langsam mit gebauschtem Segel daher; an der Spitze ihrer Masten flatterten und schlängelten sich munter die schmalen, bunten Wimpel. Auch große Raddampfer kamen, wühlten mit ihren mächtigen Schaufelrädern das Wasser auf, daß es schäumte, und grüßten mit dem dumpf heulenden Ton ihrer Sirenen. Und mitten auf dem Strom stand eine große Baggermaschine und arbeitete mit ihrer knarrenden Eimerkette. Bis weit in die südliche und nördliche Ferne hinein erstreckte sich all dieser Verkehr, wo sich die Silhouetten zweier Eisenbrücken mit hohen, gewundenen Bogen gegen die breite, blinkende Wasserfläche und die sonnenschimmernden Ferndünste abhoben.

Drüben auf dem anderen Ufer aber zog sich ein gut Teil seiner Länge nach auf ziemlich steil ansteigender Höhe eine Reihe kleiner alter Häuser hin, die mit ihren niederdeutsch hellbunten Farben munter hinter einer Reihe sehr hoher, alter deutscher Pappeln hervorlugten, deren Kronen blaßgrüne und gelbe große Farbenflecken machten und zur Belebung des frischen, buntfarbigen Weitblickes beitrugen. Dicht über ihnen aber fing mit einem weißlichen, von all dem vielen Rauch der Dampfer und Fabriken mit graublauen und violetten Dunststreifen durchzogenen Blau der Himmel an. Je höher hinauf aber, um so reiner und tiefer ward sein Blau, und gerade hoch oben in der Mitte war es am schönsten und tiefsten.

Tom liebte das schöne, klare, tiefe Blau, und auf seinem Stuhl kniend sah er zu ihm hinauf und konnte sich, alles andere vergessend, in seinen Anblick verlieren. Manchmal kam er dabei aber auch auf einen Einfall. Dann nahm er eins von den welken Blättern, etwa ein schön tiefkarminrotes von wildem Wein, und hielt es gegen den Himmel. Oder er nahm auch ein großes Blatt mit einem langen, zierlichen Stiel, das mit grünen, gelben, bräunlichen und tiefroten Flecken und Streifen gescheckt war, und hielt es so, daß es mit dem Stiel gerade auf einem von den bunten Häuserchen aufstand; und dann nahm er mit staunender Freude wahr, wie es mit einemmal viel, viel größer als die großen Bäume da drüben war und mächtig, bis ganz oben hoch mitten in den Himmel hineinragte.

Manchmal sang er aber wohl auch ein Liedchen vor sich hin, das Rosalie ihm beigebracht hatte, und das er gern mochte.

Weißt du, wieviel Sternlein stehen,
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wieviel Wolken gehen,
Weit hin über alle Welt?«

Er sang es aber, weil vom »blauen Himmelszelt« darin die Rede war und von den Wolken und der weiten Welt; und er hatte ein wunderliches, staunendes Gefühl von einer großen, frischen, freien, lachenden blauen Weite; weit, weit, noch weit über die beiden Brücken und die ganze Stadt hinaus und noch viel, viel weiter und immer, immer weiter mit so vielen, vielen bunten Dingen, Häusern, Bäumen, Bergen, Wassern, Tieren und Menschen darunter. Auch die Vorstellungen, die er aus seinen Bilderbüchern und anderen Büchern gewonnen hatte, woben sich wunderlich und ganz anders als wirkliche Tiere und Dinge sind in diese blaue Weite hinein und in sonderbare tiefe Fernen, die dann noch hinter ihr kamen.

Und doch hatte seltsam ein dunkles Geheimnis seine Seele gestreift, und dies klare Innenauge seiner ungewöhnlichen, früh und sein erschlossenen Bewußtheitlichkeit wußte jetzt von ihm und schaute zu ihm hin.

Es kam vor, daß er still, eins seiner Bilderbücher auf dem Schoß, in der Sofaecke saß und mit großen, aufmerksamen Augen vor sich hinblickte oder das stille Weben der Sonnenlichter im Zimmer verfolgte. Und er hatte dann Augenblicke, wo er sich durch nichts stören ließ. Wenn gerade mal Rosalie bei ihm war und ihn bei solcher Gelegenheit anredete, so wurde er ungehalten. Er liebte es auch, gleicherweise in der Dunkelheit dazusitzen und die mählich verschwindenden letzten Sonnenlichter zu beobachten und hinzusehen, wie das Dunkel aus den Ecken des Zimmers hervorwuchs. Wenn Rosalie die Lampe anzünden wollte, so wurde er zornig und litt es nicht, und sie mußte ihn schon noch eine Weile gewähren lassen. Hatte er sich von ihr aber zu Bett schmeicheln lassen, dann wurde er gesprächig und erzählte ihr eine Menge Wunderdinge, über die sie sich wunderte und aus denen sie manchmal nicht gescheit werden konnte.

Als er endlich wieder ganz hergestellt war und man ihn, ohne noch einen Rückfall befürchten zu müssen, wieder ins Freie lassen durfte, ereignete sich eines Tages etwas, das wohl mit seinem durch die Krankheit veränderten Wesen in Zusammenhang stand.

Eines Vormittags war er, wie jetzt öfters geschah, zu Mutter in die Küche gekommen. Lise hatte ihm bei der Gelegenheit gleich sein Frühstücksbrot gegeben und ihn, um ihn loszuwerden, auf die Idee gebracht, es draußen im Freien zu essen.

Es hatte am frühen Morgen geregnet, dann war zwar die Sonne zum Durchbruch gekommen und schön Wetter geworden, aber Lise bedachte, daß draußen auf der Straße noch Pfützen standen, und daß Tom, wenn sein Appetit etwa nicht ganz zureichen sollte, das Brot aufzuessen, auf den Einfall kommen könnte, es fortzuwerfen, was ihr bei ihrem haushälterischen Wesen und von ihren vormaligen knappen Familienverhältnissen her ein bis zu abergläubischer Furcht schrecklicher Gedanke war. Es war gelegentlich wohl auch schon mal geschehen, daß der quecksilbrige kleine Kerl, wie er leicht von einem Einfall auf den anderen kommen konnte, sein Brot fortgeworfen hatte. Jetzt aber, wo er nun schon verständiger war, hoffte sie ihm das ein für allemal abgewöhnen zu können.

»Daß du mir aber«, mahnte sie ihn, »draußen auf der Straße dein schönes Butterbrot ja nicht etwa fortwirfst, hörst du? Sonst wird der liebe Gott bös und straft dich. Denn das Brot ist eine liebe Gottesgabe, die man in Ehren halten muß.«

»Der liebe Gott straft mich, wenn ich das Brot fortschmeiße, Ma'chen?« fragte Tom.

»Ja gewiß, er straft dich. Er sieht alles, was man tut. – Achte nur, was Mutter dir sagt! Draußen am Meer, siehst du, hat früher mal eine große, schöne Stadt gestanden, in der lauter furchtbar reiche, aber sehr gottlose Leute gewohnt haben. Die haben so viel Brot und Kuchen gehabt, daß sie dachten, sie könnten ganz arg schlimme Dinge damit machen. Aber da hat der liebe Gott einen Sturm und eine schreckliche Wasserflut geschickt und die Stadt ist tief ins Meer gesunken und all die gottlosen Leute sind ertrunken. Noch nicht mal 'ne Kirchturmspitze kann man heute von der ganzen großen Stadt mehr sehen. Nur manchmal kann man, wenn man dort am Strand geht, noch heutigen Tages die Glocken aus dem Meer herauf läuten hören. Alles, siehst du, weil die bösen Leute sich an dem lieben Brot versündigt haben.«

»O Ma'chen, kann man die Glocken hören?« rief Tom und zupfte Mutter vor Eifer an der Schürze. »Vater soll mit mir ans Meer, ich will die Glocken hören.«

Aber Lise fürchtete sich vor seinen endlosen Fragereien, auch verdroß es sie, daß er auf die Glocken anstatt auf die Hauptsache geachtet hatte, und so schob sie ihn von sich ab.

»I, die Glocken, du Strick! Geh' nur, du störst Mutter! Mutter hat zu tun. – Und daß du mir das Brot ja nicht fortwirfst, hörst du?«

Tom, viel zu sehr mit allem, was er zu erfahren bekommen, beschäftigt, nahm es Mutter weiter nicht übel, daß sie ihn so kurzerhand fortschob – wie er überhaupt ihr gegenüber nicht empfindlich war –, und verließ langsam, seinen Gedanken nachhängend und dabei in die schöne Stulle hineinbeißend, die Küche, stieg die Treppe hinab und trat ins Freie. Als er aber auf dem Bürgersteig stand und vor sich auf dem Fahrweg die großen Pfützen sah, in denen die Sonne blitzte, vergaß er zu essen und starrte sie mit großen aufmerksamen Augen an. Eine ganz besonders große hatte sich an die Bordsteine des Bürgersteiges herangestaut. Sie war ganz gelb, wie Milchkaffee und an einer Stelle wirbelte sie unter einem garstigen weißen Schaum. Furchtbar dreckig war sie und Strohhalme, Reiser, welke Blätter und aufgeweichter Pferdemist lag darin.

Es mußte wohl sehr schlimm sein, dachte er, wenn man das schöne Butterbrot da in das Stroh und den ekligen Pferdemist hineinschmiß. Aber er starrte trotzdem auf die Pfütze nieder, ließ sie nicht aus den Augen.

Mit einemmal aber überlief ihn ein schneller, kleiner Zuck, er verzog den Mund, kniff die Augen zusammen und warf die Stulle mitten in die Pfütze hinein. Als er die Augen aber wieder aufmachte, lag sie drüben am anderen Rand gegen den Fahrdamm hin, gerade mit der Butterseite nach unten in dem ekligen, dreckigen, gelben Wasser.

Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, stand er, lugte scheu umher und wartete, was der liebe Gott nun tun würde.

Doch es geschah nichts. –

Langsam ratterte und polterte ein großer, schwerer Lastwagen vorüber. Der Kutscher rief »Hü! Hü!«, aber er meinte ja die Pferde und sah gar nicht zu ihm her.

Nach einer Weile kam dann noch ein Spitz. Als er bei der Pfütze angekommen war, blieb er stehen und schnupperte eine Weile an der Stulle herum, nieste dann aber kräftig und lief weiter.

Sonst passierte gar nichts weiter. Die Sonne war so schön hell und blitzte und funkelte auf den Pfützen und dem noch nicht ganz wieder getrockneten Pflaster, und der Himmel war so schön blau und mit so lustigen, großen, weißen Wolken drin, und drüben arbeiteten die Leute auf den Strecken, und ein Kettendampfer schnarrte, und auf der einen Strecke klirrten sie mit Eisenstangen, daß es wie eine ordentliche Musik war.

Gar nichts war geschehen, der liebe Gott hatte sich gar nicht darum gekümmert, daß er die Stulle weggeschmissen hatte.

Trotzdem kam es aber niemals wieder vor, daß Tom sein Brot wegwarf, und für sein Leben behielt er eine unüberwindliche Scheu davor, mit Brot unvorsichtig umzugehen, konnte auch nie ohne eine wunderliche kleine Bangigkeit weggeworfenes Brot sehen.

Sonderbar war es auch, daß er zu niemand über die Sache und die Gedanken, die er sich im stillen über sie gemacht, sprach.


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