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33.

Tom wurde von Silvercron durch ein Kreuz und Quer von Straßen und Gassen geführt. Er schritt so eilig zu, daß es Tom, der zum Laufen nicht aufgelegt war, fast unbequem wurde, zu folgen. Die ganze Situation war ihm teils unbehaglich, teils komisch. Es wurde außerdem noch immer so gut wie nichts gesprochen.

Etwa eine halbe Stunde war das so gegangen, als sie aus der Stadt heraus auf ein weites, freies, flaches Terrain gerieten. Es war ein wüstes, unsäglich nüchternes, unbehagliches Gebiet, das in der Ferne, von dunklen Häuserblocks mit vielen, hellen Fensterpunkten begrenzt, sich im Glast des Vollmondes breitete.

Offenbar war es bestimmt, bebaut zu werden. Denn zwischen öden, von Gras und Unkraut überwucherten Strecken zog sich ein Netz von geraden, gepflasterten, auch schon mit Bordsteinen von Granit eingefaßten Wegen hin, die bestimmt waren, die Fahrdämme neuer Straßen zu werden. Hier und da standen regelmäßig aufgeschichtete Haufen von Pflastersteinen aus Grauwacke da und starrte ein wildes Durcheinander von zerbrochenen Ziegeln und Mauersteinen, zerbröckeltem Gipsstuck und anderem Gerumpel, das eine Hohle des Geländes ausfüllen sollte. An anderen Stellen waren am Rande der Ausschachtung zu einem Neubau Haufen roher Mauersteine, Leitern, Bretter, abgeschälte Tannenstämme und sonstige Baurüstung zu sehen. Ein paar dürftige Bäume hier und da in der Weite, ein Gestrüpp, eine weite Wüstenei von sehr hohem, gebüschartig aufgeschossenem Unkraut, das einen üblen, modrigen Geruch hauchte. Ab und zu auch ein Stück Kartoffelacker, ein paar kümmerliche Gemüsebeete. Am Himmel eilten große, weiße Wolken hin, die der Mond zuweilen mit silberbläulichen, rötlichen und krokusfarbenen Tönen färbte. Ein scharfer, kühler Wind pfiff daher.

Auf einem der gepflasterten Wege schritten sie dann weiter vorwärts.

»Es ist schön hier«, äußerte Silvercron plötzlich.

»Na, kann ich nicht gerade sagen«, lachte Tom auf.

»Ich finde es schauderhaft. – Was wollen wir eigentlich hier?«

»O doch, es ist schön. – Der Mond, die Wolken, der schöne, frische Wind.«

»Ja, wo wollen wir eigentlich aber hin?«

Doch Silvercron ließ die Frage unbeantwortet.

»Ich wollte also so gern deine Ansicht über ›Les Aveugles‹ erfahren. – Ich wollte mir ja selbst erst eine feste Meinung bilden. – Es liegt mir so viel daran.«

»Ja, na aber, lieber Silvercron«, lachte Tom. »Ich Hab dir ja schon heut morgen gesagt, daß ich selber gar nicht verstehe, was das Drama will. – Ich finde überhaupt, daß es gar keins ist. Höchstens eine Stimmung, eine tragische Situation, wenn man so will.«

»Kein Drama? O doch, ja! – Aber das ist ja auch egal. Es ist doch so tragisch, daß alle die Blinden da um den toten Führer herum am Meer sitzen – und wissen nicht, was sie anfangen sollen, dem Untergang preisgegeben.«

Tom schwieg. Irgendein Unterton von Silvercrons Rede machte ihn jetzt immerhin aufmerksam.

Silvercron bog jetzt in einen Seitenweg ein, der zur westlichen Vorstadt hinüberführte.

»Wenn ich, zum Teufel, nur wüßte, wo er eigentlich hin will?« dachte Tom mit einem halb neugierigen, halb belustigten heimlichen Lachen.

Der Wind trug das ferne Brausen der Stadt herüber. Man hörte das dumpf knatternde Rollen eines fernen Eisenbahnzuges, sein Helles, langanhaltendes Pfeifen.

»Kennst du Hartmanns ›Philosophie des Unbewußten‹ und Mainländers ›Philosophie der Erlösung‹?«

»Was? – Hartmanns ... Nein!« antwortete Tom. »Nur aus einem Referat, das ich gelegentlich mal las. – Und Mainländer? Der hat ja wohl das nahe bevorstehende Ende der Menschheit gelehrt? Und er hat sich ja wohl das Leben genommen?«

»Du kennst schon viel, ich weiß«, sagte Silvercron aus irgendeiner Ideenverbindung heraus.

»Na, ich habe dies und das mal gelesen, oder davon gelesen, ja; sonst wüßt' ich nicht«, lachte Tom. »Den ›Zarathustra‹ hab' ich mal durchgelesen, auch sonst dies und das von Nietzsche. – Aber ich mache mir ganz und gar nichts aus Nietzsche. Das ist mir alles so konfus. Es ist ja glänzend geschrieben, aber eigentlich ist es innerlich konfus. Wenigstens habe ich den Eindruck. Ich werde nicht draus gescheit. Es ist, als wollte er einen an der Nase herumführen. Oder, ich weiß nicht.«

»So! – Ach, das ist sehr interessant, sehr! – Ja, ja, ich weiß ...« Silvercron war lebhaft geworden. »Ich weiß: nicht reaktionär, und trotzdem machst du dir nichts aus Nietzsche. Er stößt dich ab. Ganz instinktiv stößt er dich ab. Sehr interessant ist das! – Du beruhigst dich nicht bei der überkommenen Schablone, sondern gehst vorwärts. – Eben! Ich weiß! – Aber – Nietzsche stößt dich ab! – Aber Nietzsche will vielleicht auch abstoßen. – Von sich abstoßen.«

Er versank wieder in Schweigen. Es schien Tom, als ob er jetzt schneller ginge, ganz merkwürdig schnell, als ob er nur so über den Boden hinschwebte.

»Nie hätt' ich seinen dünnen Beinchen zugetraut, daß sie solche Kraft und Ausdauer hätten«, dachte Tom. »Und man hört nicht mal seinen Atem dabei.«

Aber jetzt bog Silvercron plötzlich vom gepflasterten Wege ab und fing an, ein gepflügtes Brachfeld zu überschreiten. Als Tom aber verwundert aufblickte, nahm er am anderen Ende der breiten, sehr ausgedehnten Ackerfläche, durch deren große, aufgeworfene Schollen sie sich jetzt vorwärtsmühten, langhingedehnt im bleichen Mondglast die Mauer des großen städtischen Westfriedhofes wahr, der zwischen der Stadt und der westlichen Vorstadt lag. »Was ist denn das? Warum will er auf diesem unbequemen Wege auf den Westfriedhof los?« dachte Tom.


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